Methoden

Integratives Neuro-Coaching

Coaching mit wissenschaftlicher Fundierung

Wie lässt sich der Nutzen eines Coachings erhöhen? Jeder Coach sollte sich diese Frage fortlaufend stellen. Die Prämisse des hier vorgestellten integrativen Ansatzes besteht darin, dass neurowissenschaftliche Kenntnisse über den Zusammenhang von Psyche, Persönlichkeit und Gehirn positiv zur Geltung kommen und die Wirksamkeit von Coaching stärken können. Natürlich gilt auch in Bezug auf einen neurowissenschaftlich fundierten Coaching-Ansatz: Jedes Klienten-Anliegen ist als spezifischer Fall zu betrachten und die Interventionswahl individuell auszurichten.

9 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2021 am 24.02.2021

Einführung

Im Folgenden wird die Auffassung vertreten, dass neurowissenschaftliche Erkenntnisse über den Zusammenhang von Psyche, Persönlichkeit und Gehirn die Wirksamkeit von Coaching und Beratung erhöhen können. Auf Basis einer neurowissenschaftlich fundierten Theorie werden bestimmte Veränderungskonzepte zu einem integrativen Ansatz verbunden. Dieses integrative Neuro-Coaching ist individuenbezogen, weil es keine Intervention gibt, die bei allen Klienten und allen Störungen gleichermaßen wirksam ist. Der Ansatz baut auf Methoden auf, die Psyche und Gehirn nachweislich verändern. Die Grundlage hierfür bilden das wissenschaftlich fundierte Transformationsmodell sowie der schulenübergreifende dreifache Interventionsansatz, die beide im Folgenden dargestellt werden.

Persönlichkeitstheorie: Das Transformationsmodell

Leben erfordert eine aktive Interaktion mit der Umwelt und die dafür nötige Ausstattung mit Sinnesorganen (Sensorik) und einem Gehirn einschließlich seiner verhaltenssteuernden Mechanismen (Motorik). Zur primären Bedürfnisbefriedigung sind zwei eng miteinander verwobene Funktionsbereiche von Bedeutung, nämlich Lernen und Bewertung. Durch eine Verbesserung seiner Funktions- und Verhaltensweisen (Lernen) erhöht der Organismus die Wahrscheinlichkeit seiner biologischen und sozialen Fortexistenz durch eine verbesserte Ausrichtung an sich verändernde Umweltbedingungen. Dies setzt Bewertung voraus. Zentren im Gehirn überprüfen unbewusst oder bewusst, ob etwas positiv oder negativ im Sinne der Existenzsicherung abgelaufen ist. Dies hat im positiven Fall zur Folge, dass bestimmte Situationen, Objekte oder Lebewesen aufgesucht werden (Annäherungsverhalten, Appetenz), und im negativen Fall solche vermieden werden (Vermeidungsverhalten, Aversion).

Eine psycho-neurowissenschaftliche Theorie von Persönlichkeit

Es kann aufgrund neuester Forschungsresultate davon ausgegangen werden, dass fünf Hauptfaktoren diese Entwicklung entscheidend beeinflussen:

  1. Das individuelle Erbgut
  2. Die epigenetischen Regulationsmechanismen der Gen-Expression
  3. Die vorgeburtlichen Einflüsse auf den Fötus, vermittelt über das Gehirn und den Körper der Mutter
  4. Die Qualität der früh-nachgeburtlichen Bindungserfahrung, vor allem der ersten drei Jahre
  5. Der weitere Sozialisationsprozess und die individuellen Erlebnisse eines Menschen

Diese fünf Faktoren werden entsprechend dem Roth-Cierpka-Modell im Gehirn auf drei limbischen Ebenen und einer kognitiven Ebene wirksam, wie in Tabelle 1 dargestellt. Es wird dabei ersichtlich, dass die Kernpersönlichkeit eines Menschen relativ früh gebildet wird (siehe Punkt 1 bis 4) und den Rahmen für das spätere Verhalten vorgibt.

Tabelle 1: Vier-Ebenen-Modell von Psyche und Persönlichkeit

Tabelle 1: Vier-Ebenen-Modell von Psyche und Persönlichkeit


Eine existenzfördernde Interaktion mit der natürlichen und sozialen Umwelt wird vermittelt durch sechs psychoneurale Grundsysteme (Roth & Strüber, 2014; Roth & Ryba, 2016), die in Tabelle 2 dargestellt sind. Sie interagieren dabei über charakteristische neuromodulatorische Substanzen, d.h. Neurotransmitter, Neuropeptide und Neurohormone.

Tabelle 2: Psychoneurale Grundsysteme

Tabelle 2: Psychoneurale Grundsysteme


Die sechs psychoneuralen Systeme bestimmen des Weiteren in ihrem positiven und negativen Zusammenwirken die drei wesentlichen Ausdrucksformen des Psychischen, nämlich …

  1. des subjektiven Erlebens (Wahrnehmung, Gefühle, Erinnerung, Vorstellung usw.),
  2. der körperlichen (muskulo-skeletalen) und vegetativen Reaktionen und
  3. des Verhaltens.

Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich hierbei um drei Gedächtnisse, und zwar erstens um das Erlebnisgedächtnis mit dem Kern des autobiographischen Gedächtnisses, zweitens um das Verhaltensgedächtnis und drittens um das Körpergedächtnis.

Störungstheorie

Die Qualität der psychoneuralen Systeme beeinflusst entscheidend die Persönlichkeit. Am wichtigsten sind dabei Stressverarbeitung, Selbstberuhigung und Bindung. Entwickeln sich vorgeburtlich das Stress- und das Selbstberuhigungssystem normal, so bilden sie eine Resilienz oder Widerstandskraft gegen negative nachgeburtliche Einflüsse, etwa wenn das Bindungsverhalten der primären Bezugspersonen nicht optimal ist. Dies erklärt, warum sich Kinder auch unter suboptimalen familiären Bedingungen relativ normal entwickeln können.

Umgekehrt kann eine Minder- oder Fehlentwicklung des Stressverarbeitungs- und Selbstberuhigungssystems zu einem vorgeburtlichen Belastungsfaktor werden, Vulnerabilität genannt, d.h.: „Verletzbarkeit“. Kommen nachgeburtlich Defizite in der Bindungserfahrung hinzu, dann kann dies zu bedrohlichen Fehlentwicklungen und schweren psychischen Störungen führen. Hingegen kann eine positive Bindungserfahrung vorgeburtliche Belastungen ganz oder teilweise ausgleichen. Es kommt also auf die positive oder negative Interaktion der vor- und nachgeburtlich wirkenden Faktoren an, ob in der Persönlichkeitsentwicklung alles gut, leicht eingeschränkt oder stark negativ verläuft. Dies beeinflusst nachhaltig die Entwicklung der drei anderen psychoneuralen Systeme, nämlich des Motivations-, Impulshemmungs- und Risikowahrnehmungssystems. Einflüsse in späterer Kindheit und Jugend haben demgegenüber eine geringere Wirkung, es sei denn, sie sind sehr stark und/oder langanhaltend.

Auf den drei Ausdrucksebenen der Psyche zeigen sich Störungen in der folgenden Art: Auf der Ebene des subjektiven Erlebens kann es zu belastenden Empfindungen, Erinnerungen oder Vorstellungen kommen. Dies umfasst affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 wie z.B. Angststörungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Psychische Störungen ergeben sich daraus, dass ein oder mehrere Grundbedürfnisse nicht hinreichend befriedigt werden und sich Konflikte zwischen unbewussten Motiven und bewussten Zielen ausbilden. Zufriedenheit mit sich selbst und der Lebenssituation stellt sich dann ein, wenn die bewussten Ziele im Einklang mit den unbewussten Motiven stehen, wobei Letztere immer eine größere Macht haben als die bewussten.

Auf der körperlichen Ebene zeigen sich Symptome in der Mimik, Gestik, Stimmführung, in den Blickbewegungen, der Körperhaltung und in vegetativen Reaktionen. Dies unterliegt kaum oder gar nicht der bewussten Kontrolle und entsprechend erfährt ein Mensch oft nicht, was in seinem limbischen System und seinem Körper geschieht. Häufig werden die unbewussten Erregungen erst dann erlebt, wenn sie sich z.B. durch Zittern, Schweißausbrüche oder Erröten äußern.

Auf der Ebene des Verhaltens äußern sich Störungen etwa in Verhaltensdefiziten oder in problematischen Verhaltensweisen, von denen sich der Klient wünscht, sie ablegen zu können. Dies ist immer von unbewussten Aktivitäten des limbischen Systems begleitet und drückt sich meist in bewussten Erlebnissen aus, z.B. wenn ich vor meinen Vorgesetzten trete und dabei Angst habe. Es kann aber auch sein, dass ich nichts empfinde, während mein unbewusstes limbisches System aktiv ist.

Belastungen auf einer Ebene können verschwinden, während sie auf anderen Ebenen fortwirken. So kann es geschehen, dass ein Klient subjektiv kein Leidensempfinden mehr hat, aber sein Verhalten weiterhin unangemessen ist und/oder sein Körper deutliche Belastungssymptome zeigt. Meist verschwinden die körperlichen Symptome zuletzt oder dauern sogar lebenslang an.

Veränderungstheorie: Strategien und Methoden

Das Verändern von Gewohnheiten ist als neuronaler Reorganisationsprozess für das Gehirn ein komplizierter, stoffwechselphysiologisch teurer und riskanter Prozess. Daher muss es aus Sicht des Gehirns einen triftigen Grund geben, weshalb es sich ändern soll. Dieser Grund liegt in der Belohnung oder anders ausgedrückt: Veränderung findet nur statt, wenn die Grundbedürfnisse des Organismus besser befriedigt werden können. Daher sollte im ersten Schritt das Augenmerk auf der Veränderungsmotivation des Klienten liegen.

Als Coach ist es darüber hinaus wichtig, Problemarten, -ursachen und -tiefen differenziert voneinander zu unterscheiden, um für den Klienten passgenaue Interventionen auswählen zu können. Unterschiedliche Methoden bewirken, wenn sie erfolgreich sind, Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns: Veränderungen in der bewussten kognitiv-sprachlichen Großhirnrinde mithilfe des aufklärenden und instruktiven Gesprächs sind am wenigsten langfristig wirksam. Veränderungen der bewussten limbischen Ebene durch Verfahren, die nichtverbal und intuitiv wirken, sind bereits nachhaltiger. Veränderungen der unbewussten limbischen Ebene durch das geduldige, prozedurale Einüben neuer Erlebens- und Verhaltensweisen sind langfristig am wirksamsten.

Der dreifache Interventionsansatz erlaubt es, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ebenen der Persönlichkeit und ihrer Veränderbarkeit die passende Intervention aus der Fülle der vorhandenen Veränderungskonzepte auszuwählen. Die drei Interventionsebenen sind gleichzeitig die oben beschriebenen Ausdrucksebenen des Psychischen: Erleben, Körper und Verhalten. Darüber hinaus ist das Arbeitsbündnis zwischen Coach und Klient ein wichtiger Wirkfaktor, der in diesem Beitrag nicht tiefergehend erläutert wird.

Psychische Befindlichkeit

Auf der Ebene der psychischen Befindlichkeit (siehe Tabelle 3) können grob Veränderungskonzepte unterschieden werden, die ihren Fokus auf das Verstehen, das Erleben oder auf eine Kontrastierung von Problem- und Lösungserleben legen.

Das reine Verstehen und Erklären der Störungen wirkt aus neurowissenschaftlicher Sicht lediglich auf der kognitiven Ebene und erreicht daher keine tiefgreifenden Veränderungen, wenngleich es für den Klienten entlastend und hilfreich sein kann, seine Problemmuster besser zu durchschauen. Das Erleben von Emotionen und dahinterliegenden Bedürfnissen wirkt schon eine Ebene tiefer, nämlich auf die obere und teilweise auf die mittlere limbische Ebene, da Emotionen immer auch vorbewusste und unbewusste, subcorticale Aktivitäten beinhalten. Mit verschiedenen Kontrastierungstechniken kann sogar das emotionale Erfahrungsgedächtnis umstrukturiert werden. Dabei werden die negativen Erfahrungen zunächst mittels sogenannter Problemaktualisierung in das Arbeitsgedächtnis „geladen“. Wenn dann Ressourcen und positives Lösungserleben aktiviert werden, können sich die Gedächtnisinhalte neu verknüpfen und verändert abgespeichert werden.

Tabelle 3: Befindlichkeit (KE, OLE: bewusst, vorbewusst; Ausdruck: verbal, paraverbal)

Tabelle 3: Befindlichkeit (KE, OLE: bewusst, vorbewusst; Ausdruck: verbal, paraverbal)

Körper

Das Unbewusste bestimmt das Bewusstsein stärker als umgekehrt. Tiefgreifende Veränderungen sind deshalb nur durch eine Berücksichtigung der mittleren und unteren limbischen Ebene möglich, die beide unbewusst arbeiten. Das Unbewusste drückt sich weniger durch den Inhalt des Gesagten, sondern vielmehr durch die damit verbundenen vegetativ-somatischen Prozesse und das tatsächliche Verhalten aus. Der Körper (siehe Tabelle 4) spielt daher eine entscheidende Rolle in Veränderungsprozessen. Coaches können hier auf ein umfangreiches Methodenrepertoire der Körperpsychotherapie (siehe Geuter, 2019) zurückgreifen.

Tabelle 4: Körper (MLE, ULE: unbewusst; Ausdruck: nonverbal, paraverbal)

Tabelle 4: Körper (MLE, ULE: unbewusst; Ausdruck: nonverbal, paraverbal)
 

Verhalten

Auf der Ebene des Verhaltens (siehe Tabelle 5) geht es um das implizite, prozedurale Gedächtnis. Hier sind auch unsere Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlgewohnheiten gespeichert. Für eine nachhaltige Persönlichkeitsentwicklung ist ein geduldiges Einüben neuer Gewohnheiten unablässig. Dies geschieht in leichteren Fällen in corticalen limbischen, bei schwereren Defiziten in subcorticalen limbischen Strukturen. Methodisch kann hier insbesondere auf die klassische Verhaltenstherapie (vor allem die operante Konditionierung) zurückgegriffen werden.

Tabelle 5: Verhalten (OLE, MLE: vorbewusst, unbewusst; Ausdruck: nonverbal)

Tabelle 5: Verhalten (OLE, MLE: vorbewusst, unbewusst; Ausdruck: nonverbal)
 

Fazit

Literaturanalysen  haben ergeben, dass viele Coaches vor allem auf der Ebene der psychischen Befindlichkeit (Verstehen/Erleben) arbeiten. Um die Wirksamkeit des Coachings zu erhöhen, sollte die Körper- und Verhaltensebene stärker berücksichtigt werden. Entscheidend ist, das Problem des Klienten differenziert einzuschätzen und dann die passgenaue Intervention auszuwählen. Zu befürworten ist daher ein integratives Vorgehen, das alle drei Ebenen individuell bedient.

Literatur

  • Geuter, U. (2019). Praxis Körperpsychotherapie: 10 Prinzipien der Arbeit im therapeutischen Prozess. Berlin: Springer.
  • Roth, G. & Ryba, A. (2016). Coaching, Beratung und Gehirn. Neurobiologische Grundlagen wirksamer Veränderungskonzepte. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Roth, G. & Strüber, N. (2014). Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Ryba, A. & Roth, G. (Hrsg.) (2019). Coaching und Beratung in der Praxis. Einneurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell. Stuttgart: Klett-Cotta.

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