Beruf Coach

Persönlichkeitsdiagnostik

Pro- und Kontra-Argumente

6 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2009 am 25.08.2009

PRO

Auf die Haltung kommt es an

von Prof. Dr. Julius Kuhl

Diagnostik ist der Königsweg zur Intervention. Das ist bei der Autoreparatur ebenso selbstverständlich wie beim Arzt. Je genauer die Ursache eines Problems ermittelt werden kann, desto effizienter ist die Problemlösung. Trotzdem gibt es Vorbehalte gegenüber der Persönlichkeitsdiagnostik. Verstärkt sie nicht das Hierarchie- und Statusgefälle zwischen Berater und Klienten? Hebt sie nicht einseitig Defizite statt Entwicklungsmöglichkeiten hervor? Legt sie gar Menschen auf feste Eigenschaften fest – statt ihnen Entwicklungspotenziale aufzuzeigen? Solche Bedenken beruhen auf einer berechtigten Sorge: Wer Menschen in ihrer Entwicklung fördern will, sollte sie natürlich nicht wie Autos und auch nicht wie Patienten behandeln, sondern ihnen authentisch, auf Augenhöhe und mit dem Blick auf ihre Ressourcen und Entwicklungspotenziale begegnen. Diese Haltung entspricht den Grundprinzipien eines verantwortlichen und effektiven Coachings: Typisierungen sollten nicht als „Wahrheit“ missverstanden werden, sondern als Werkzeug.

Menschen verfügen allerdings über eine besondere Fähigkeit: Sie können die Perspektive wechseln. Das bedeutet für die Persönlichkeitsdiagnostik, dass wir die objektive Perspektive der Diagnostik mit dem subjektiven Blickwinkel des Klienten verbinden können. Menschen haben oft das Bedürfnis, objektive Informationen über ihre Stärken und Schwächen zu erhalten. Das kann sehr informativ und auch entlastend sein: Wenn beispielsweise eine „vergessliche“ Person eine entwicklungsorientierte Diagnostik ihrer Stärken und Schwächen erhält, braucht sie nicht mehr über die Vorwürfe des Chefs nachzugrübeln, sie sei nur zu bequem oder habe gar nicht die Absicht, sich wirklich dauerhaft für das Unternehmen einzusetzen. Sie kann auf der Basis von Persönlichkeitsdiagnostik herausfinden, worin genau der Angelpunkt für ihr Coaching-Anliegen besteht und im Coaching nicht nur am Symptom, sondern direkt an der Ursache für ihr Problem oder ihre Schwierigkeit arbeiten (zum Beispiel ihr Gedächtnis für Unerledigtes optimieren, bislang ungenutzte motivationale Kraftquellen aktivieren etc.).

Besonders Persönlichkeitstests, die sich auf die Messung der Erstreaktion beschränken (Typentests), bergen jedoch die Gefahr, dass der Anwender sie schablonenartig benutzt und damit die Entwicklungsperspektive aus den Augen verliert. Aus diesem Grund habe ich die „Entwicklungsorientierte Funktionsdiagnostik“ entwickelt, die eine Person als Ganzes untersucht, also verschiedene Komponenten der Erstreaktion (Kognitive Stile, emotionale Ressourcen, motivationale Energiequellen) und der Zweitreaktion, also der selbstregulatorischen Kompetenzen. Gerade die Selbstregulation ermöglicht es Menschen, sich von ihren kognitiven, emotionalen und motivationalen Neigungen (die den Typus oder „Charakter“ ausmachen) zu befreien und diejenigen Ressourcen einzusetzen, die sie für die geeignetsten halten, um eine anstehende Aufgabe zu erfüllen. Die Entwicklungsorientierte Systemdiagnostik verringert durch ihren Aufbau und ihr Konzept die Gefahr, dass der Anwender seinen Klienten mit ihrer Hilfe auf Kategorien oder Typen festlegt und den Möglichkeitsraum dadurch eher beschränkt als öffnet. Wenn die Haltung stimmt, ist Persönlichkeitsdiagnostik im Coaching eine Bereicherung und sorgt für Effizienz und Effektivität bei der Problemlösung und der persönlichen Weiterentwicklung.

Kontra

Vermessung oder Dialoge

von Dr. Walter Schwertl

Die Frage, ob Persönlichkeitstests im Coaching-Prozess adäquat einsetzbar sind, provoziert grundsätzliche Fragen:

Was wird gemessen?

Persönlichkeitstests zu verwenden heißt, sich eines aus den Naturwissenschaften entlehnten Verfahrens, nämlich dem des Zählens und Messens, zu bedienen. Die Naturwissenschaften verfügen hierfür über exzellente Methoden. Persönlichkeitstests hingegen basieren auf Konstrukten, die nicht direkt beobachtbar sind. Die Güte der Daten ist weniger valide. In der Regel stehen am Ende korrelative Aussagen. Komplizierte statistische Absicherungen und Validierungsverfahren sind notwendig.

Mit welchen Instrumenten wird gemessen?

„In dreißig Minuten an den Kern der Persönlichkeit!“ Diese – leider nicht erfundene, sondern der Beschreibung eines bekannten Persönlichkeitstests entnommene – Anpreisung verweist ins Reich der Heilsversprechen. Kunden können kaum zwischen seriöser Persönlichkeitsdiagnostik und pseudowissenschaftlichen Fragespielchen unterscheiden. Aufklärung könnte man zwar fordern, aber nicht sichern. Diagnostikinstrumentarien sind zum käuflichen Produkt geworden und werden auf dem Markt angepriesen wie Waschmittel.

Wer sollte messen?

Die Verwendung psychologischer Tests braucht mehr als eine Manualschulung oder eine erworbene Benutzerlizenz. Denn bereits die Auswahl des richtigen Verfahrens setzt umfangreiche Kenntnisse voraus. Aus gutem Grund waren psychologische Tests früher nicht frei erwerbbar. Für den Einsatz von Persönlichkeitstests im Coaching stellt sich die Frage, wer solche Tests überhaupt einsetzen sollte? Das Zerti fikat Meister-Coach reicht dafür nicht aus! Welche Konsequenzen hat es für Kunden, wenn sie Auskunft über ihre Persönlichkeit von einem Anwender erhalten, der ungenügend qualifiziert ist? Hier werden zudem ethische Fragen berührt.

Wie werden Daten erhoben und genutzt?

Der Einsatz von Persönlichkeitsverfahren basiert letztlich auf der alten Hoffnung, Charakter und Persönlichkeit wie innere Organe röntgen zu können, so dass Unternehmen zukünftiges Verhalten der Mitarbeiter voraussagen können. Bis dato ist dies jedoch – ich bekenne, zu meiner Freude – eine Illusion geblieben. Business-Coaching tut gut daran, sich auf Versprechen zu reduzieren, die auch einhaltbar sind!

Systemtheoretisch argumentiert wird Persönlichkeit als situationsspezifisches Verhalten beobachtbar; es ist kontextspezifisch. Dies relativiert die Aussagekraft von Tests. Müssen wir nicht von sich wandelnden, also instabilen Ausprägungen innerhalb einer relativ breiten Verhaltensbandbreite ausgehen? Aus dem Studium der Leistungskurven von Spitzensportlern lässt sich ohne Mühe ablesen, dass Kontexte, meist als Umfeld beschrieben, wesentlich über die Aktualisierbarkeit der Leistung entscheiden. Tests können bei richtiger Anwendung Potenziale (als Konstrukte) messen. Benötigen Unternehmen Aussagen über (theoretische) Potenziale oder über aktualisierbare Leistungen? Ich behaupte, dass Coaching bei Letzterem spannend wird, dass wir auf die Gestaltung des Kontextes maßgeblich Einfluss nehmen müssen.

Resümee Die Verknüpfung von Persönlichkeitstests und Coaching wirft eine große Anzahl sehr ernster Fragen auf. Ihre Beantwortung wird auch darüber entscheiden, ob sich Business-Coaching nicht letztlich doch darauf beschränken sollte, eine Kunst des Dialogs zu sein. Wenig valides Coaching wird durch Persönlichkeitstests nicht besser, und gutes Coaching braucht keine Tests. Einer meiner Hochschullehrer lehrte mich, Beratung und Diagnostik streng auseinander zu halten.

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