Beruf Coach

Gesunde Krankheit und kranke Gesundheit

Eine Replik auf die Leserbriefe von Nina Meier und Dr. Walter Schwertl im Coaching-Magazin 2/2016

Klaus Eidenschink über die Abgrenzung von Coaching und Psychotherapie. Eine Antwort auf die Leserbriefe von Nina Meier und Dr. Walter Schwertl.

7 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2016 am 07.09.2016

Der von Nina Meier im Leserforum des Coaching-Magazins 2/2016 beschriebene Vorschlag, Coaching und Psychotherapie zu unterscheiden, indem man die – seelisch – Gesunden zum Coach schickt und die Kranken zum Psychotherapeuten, ist theoretisch überholt und praktisch dysfunktional. Daher seien hier ein paar Hinweise gegeben, um Scheinklarheiten und Pseudodefinitionen zu dekonstruieren.

Ein beliebter Spruch unter Ärzten ist: „Es gibt keine gesunden Menschen, es gibt nur schlecht untersuchte!“ Und genau auf diese Weise funktioniert das Spiel im Kontext der sogenannten seelischen Gesundheit: Ein Mensch, der sich verändern möchte oder leidet, kommt zum Psychotherapeuten. Dieser macht eine Anamnese und schreibt ein Gutachten zur Bewilligung einer Therapie für die Krankenkasse. Dieses wird so verfasst, dass das herauskommt, was herauskommen soll: Der Beleg für das Vorliegen einer „krankheitswertigen“ Störung.

Die Idee, dass unterschiedliche Psychotherapeuten zu eindeutigen, gleichen und unzweifelhaften Diagnosen kommen, hat mit der Praxis von Gutachten und Diagnosestellungen nichts zu tun. Das macht auch nichts, denn hier geht es um einen Verwaltungsvorgang, welcher es für die Krankenkassen handhabbar macht, die Kosten für seelische Nöte einzugrenzen. Daher tut man gemeinschaftlich so, als wäre die Seele ein Ding, welches – ähnlich einem Motor – kaputt oder beschädigt sein kann, um sie dann durch Experten reparieren, vulgo heilen, zu lassen: Vom Kranken zurück zum Normalo. So ein Verständnis von krank und gesund ist seit mindestens drei Jahrzehnten im Bereich der Psychotherapie überholt, auch wenn der Gesetzgeber und Lobbygruppen aus unterschiedlichen Gründen daran festhalten.

Seelische Krankheit als (interessengeleitetes) Konstrukt

Seelische „Krankheit“ wird in einem hohen Maß konstruiert, festgelegt und von einem interessengeleiteten Beobachter so benannt. Die Vorstellung, dass eine seelische Krankheit „vorliegen“ könnte – ähnlich einem Stein auf dem Weg –, entspricht nicht mehr dem Forschungsstand zum Thema psychologische Diagnostik. ICD- und DSM-Diagnoseschlüssel entstehen und verschwinden wieder je nach Zusammensetzung und Diskussionsverlauf in den entsprechenden Expertengremien. Was gestern noch als krank galt, ist heute gesund und andersherum. Die Beliebigkeit in der Zuordnung von Menschen zu Diagnosen ist in vielen Untersuchungen belegt.

Die Diskussionen über kontinuierliche (weniger oder mehr depressiv) oder diskrete (kranker oder gesunder Narzissmus) Diagnoseschemata sind end- und fruchtlos. In medizinnahen Einrichtungen wie psychiatrischen Krankenhäusern kommen die Fälle von Falscheinweisungen und Falschentlassungen nur zu einem Bruchteil ans Licht. Das hat nichts mit mangelndem Erkenntnisvermögen zu tun, sondern damit, dass seelische Beeinträchtigungen und Nöte sich mit dem Schema „gesund vs. krank“ nicht hilfreich oder eindeutig erkennen lassen. Das Schema schadet mehr, als es hilft.

Wenn man von Ärzten oder Psychotherapeuten (oder Coaches) erwartet, eine seelische Krankheit anhand irgendwelcher Merkmale „erkennen“ zu können (siehe Werner & Webers, Coaching-Magazin 1/2016), ist das sinnvoll, wenn man sich klarmacht, dass dies eine gesellschaftlich (notwendige?) Konvention ist, um das Funktionssystem „Gesundheitswesen“ zu bedienen. Wenn man jedoch glaubt, dass man etwa eine „pathologische“ Depression von einem Burnout eines Leistungsträgers, den „pathologischen“ Narzissmus von der Blendkraft eines managerialen Visionärs, „pathologische“ Zwanghaftigkeit vom Kontrollbedürfnis des Leiters einer Controllingabteilung mal so eben klar unterscheiden könnte, um dann die Guten ins Töpfchen des Coachs und die Schlechten ins Kröpfchen des Psychotherapeuten zu stecken, der macht es sich zu leicht.

Verschärft wird das, wenn man zusätzlich die einen als Klienten für leistungsfördernde Beratung klassifiziert und die anderen als Patienten in heilungsbedürftige Behandlungen schickt – so etwa Dr. Schwertl im Leserforum des Coaching-Magazins 2/2016. So reserviert man den moralisch „einwandfreien“ Begriff Beratung für Coaching und setzt Behandlung einer fragwürdigen Manipulation von hilflosen Menschen gleich, die speziellen Experten vorbehalten ist. Da weiß man doch, wo man sich einsortiert sehen möchte.

Viele Menschen mit schweren seelischen Beeinträchtigungen landen nie beim Psychotherapeuten. Sie landen beim sie fälschlicherweise körperlich oder medikamentös behandelnden Arzt, sie landen vor Gericht, sie landen bei der Bundesagentur für Arbeit und sie landen – seitdem es diesen gibt – beim Coach. Beim Coach landen sie deshalb, weil es durchaus symptomatischer Bestandteil ihrer seelischen Not sein kann, dass sie (sehr) erfolgreich sind – manche dieser Nöte geben das her(!) – und gleichzeitig irgendein Problem haben. Beschreibend formuliert:

  • Menschen, die wenig Zugang zu Gefühlen haben, „funktionieren“ besser, können rücksichtsloser sein und sich besser durchsetzen.
  • Menschen, die Angst vor Kontakt und Nähe haben, können leichter Tag und Nacht arbeiten, sind oft hochgradige Spezialisten in einem Fachgebiet und kommen deswegen in Führungsrollen.
  • Menschen, die sich hochgradig einsam, unsicher und minderwertig fühlen, finden soziale Rollen, die Anerkennung und Bewunderung abwerfen, sehr attraktiv und suchen daher solche Stellungen.

Das sind nur ein paar Beispiele, die eine Ahnung davon geben können, dass intensive seelische Konflikte in den Chefetagen genauso häufig vorkommen wie bei Hartz-IV-Empfängern. Würden solche erfolgreichen Manager zum Psychotherapeuten gehen, dann hätte dieser leichte Hand, ein Gutachten zu schreiben, welches eine krankheitswertige Störung attestiert.

Unterscheidung von Coaching und Psychotherapie

Die vermeintlich Gesunden sind eben durchaus „kränker“ als gedacht oder anders: Seelisch beeinträchtigt zu sein, ist normal. Deshalb muss man nun nicht die Unterscheidung von Coaching und Psychotherapie über den Haufen werfen. Die Unterscheidung macht auch ohne die Unterscheidung von gesund und krank viel Sinn. Sie an der Definition von Heilkunde und Diagnosen von Kunden aufzuhängen und mit der Hoffnung zu verbinden, dass der Gesetzgeber endlich klar sagen sollte, was nun unter krank zu verstehen sei, halte ich für mehr als problematisch.

Im Gegenteil: Es ist ein Rückschritt in ein Denken, welches sich in Scheinsicherheiten von angeblich erkennbaren „Krankheitszuständen“ flüchtet und damit einen professionellen Umgang mit den Uneindeutigkeiten und Grauzonen von seelischen Zuständen massiv erschwert. Man kann in dem kleinen Buch von Peter Fuchs, „Die Verwaltung der vagen Dinge“, sehr schön nachlesen, dass Vagheit und Nicht-Definieren das Kernelement beratender Profession ist.

Die Unterscheidung von Coaching und Psychotherapie liegt aus meiner Sicht auf anderen Ebenen:

  1. Der Kontext im Coaching ist ein anderer: Firmen, Rollen, Entscheidungsprozesse, Erwartungen des Klienten etc. Zudem bezahlt oft die Firma, sodass ein Dreiecksvertrag zustande kommt, der großen Einfluss auf Prozess und Inhalte der Beratung hat und anspruchsvoll zu handhabende Doppelloyalitäten mit sich bringt. Das Bezugssystem des Psychotherapeuten ist hingegen das Gesundheitssystem, mit den oben beispielhaft skizzierten Effekten von Gutachtenverfahren. Kontexte verändern Intervention, wie Schwertl richtig schreibt. 
  2. Die Rahmenbedingung, dass man den Klienten fünf bis 15 statt 30 bis 100 Stunden sieht, macht es von vornherein unmöglich, dass im Coaching bestimmte Themen bearbeitet werden können. Dies erfordert zwangsläufig häufig vom Coach eine angemessene Überleitung des Klienten zu einem kompetenten Psychotherapeuten bzw. die Beschränkung auf kontextgerechte Themen. Dazu hilft es natürlich, wenn er von Psychodynamik im erforderlichen Ausmaß etwas versteht. 
  3. Der Coach braucht Kompetenzen zu Themen wie Führung, Team, Gruppenkonflikte, Macht und Einfluss, Organisationen, die für den Psychotherapeuten meist unnötig sind. Er braucht ein Verständnis davon, wie in solchen Rollenerfordernissen schnell gelernt werden kann und wie das Ausmaß, mit dem der Klient innerseelische Muster in der Rolle ausagiert, reduziert werden kann. Er braucht also ein Prozesswissen, das der Psychotherapeut nicht hat. 
  4. Der Psychotherapeut braucht – neben der Zulassung zur Heilkunde – vor allem ein umfassendes Verständnis für den Verlauf längerdauernder Beratungen, dem Ablauf von seelischen Prozessen, in denen innere Konflikte durchgearbeitet werden, und ein Verständnis, wie sich Klienten schwer zugängliche und geschützte Bereiche ihrer Selbstwahrnehmung zugänglich machen können. Er hat also ebenfalls ein Prozesswissen, das der Coach nicht hat.

Fazit

Ich möchte entschieden Widerspruch einlegen gegen Meiers Aussage, grundsätzlich müsse zwischen gesund und krank unterschieden werden! Das muss, kann und darf man als Coach wie als Psychotherapeut nicht. Als Coach nicht, weil man es nicht darf, als Psychotherapeut nicht, weil es der therapeutischen Beziehung schadet und es die Achtsamkeit für ein differenziertes Diagnostizieren und Bearbeiten des inneren Prozesses beim Klienten erschwert.

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