Aggressives Verhalten von Kunden wurde lange Zeit wenig ernst genommen bzw. tabuisiert. Wer mit "schwierigen" Kunden nicht umgehen konnte, war ein "Weichei" oder hatte den falschen Beruf gewählt. Im Folgenden wird die Thematik mit all ihren Schwierigkeiten dargestellt und es wird aufgezeigt, wie diesen im Coaching begegnet werden kann.
In den vergangenen zehn Jahren haben die aggressiven Handlungen gegenüber Beschäftigen stark zugenommen (Hochschule Darmstadt, 2014). Vornehmlich sehen sich Mitarbeiter von Dienstleistungsunternehmen mit regelmäßigem Kundenkontakt, z.B. Kundenberater bei Banken, Brief- und Paketzusteller, Callcenter-Mitarbeiter, Verkäufer im Einzelhandel, Bahnpersonal etc. mit den Aggressionen ihrer Kunden konfrontiert. Die Bandbreite der Grenzverletzungen reicht von verbalen Ausfällen bis hin zu Tätlichkeiten.
Wenn Interessen von Mitarbeitern oder Kunden verletzt werden, kann es zu Konflikten kommen. Der Kunde erhofft sich eine Dienstleistung, die der Angestellte nicht (vollständig) erbringen kann. Typische Situationen sind z.B. die Nichtgewährung eines Kredites, ein unerwünschter Anruf eines Callcenters, ein Antrag auf Hilfe, dem nicht stattgegeben werden kann, etc. Während die Angestellten an Regeln gebunden sind und oft nicht über die vollständigen Entscheidungskompetenzen verfügen, fühlen sich einige Kunden nicht ausreichend verstanden und ungerecht behandelt.
Um die Gefühlswelt des Kunden (nicht die Grenzverletzung!) weitestgehend zu verstehen, ist es von Vorteil, die Reaktion der Menschen richtig einordnen zu können. Die Nichterfüllung eines Bedürfnisses kann bei manchen Personen das Gefühl eines Kontrollverlustes auslösen. Die Kunden fühlen sich einer Situation ohnmächtig ausgeliefert. Dabei werden unter Umständen Reaktionsmuster aus der Kindheit abgerufen, die in der Rolle als erwachsener Mensch nicht zielführend sind. Typische „kindliche“ Muster sind z.B. Trotzverhalten, die Stimmeerheben, Drohgebärden usw. Gleichzeitig wird dabei oft ein Teufelskreis ausgelöst. Der Kunde entwickelt eine Scham über seine unangemessene Reaktion und findet keinen Weg, der Situation ohne einen Gesichtsverlust zu entkommen. Dies löst wiederum einen noch stärkeren Kampfmodus aus.
Für die Unternehmen sind die Folgen von solchen Konflikten vielschichtig und reichen von der Reduzierung der Produktivität bis hin zu einem erhöhten Krankheitsaufkommen der Mitarbeiter. Gleichzeitig steigt die Verunsicherung der Mitarbeiter im Betriebsalltag. Infolgedessen gehen sie unter Umständen möglichen Risikotätigkeiten aus dem Weg – z.B. Telefonaten, Kundenkontakten etc.
Wenn in diesem Kontext gecoacht wird, sollte folgendes Vorgehen im Vordergrund stehen: Der Coach verhilft dem Klienten dazu, Komplexität (Schritt 1) und Dynamik (Schritt 2) des Konflikts zu erkennen und zu bearbeiten. Das Ziel besteht letztlich darin, den Klienten zu befähigen, eine maßgeschneiderte Lösung zu finden.
Um die Komplexität besser erkennen zu können, klärt der Coach mit dem Klienten zwei Fragen:
(1) Wer ist am Konflikt beteiligt und
(2) um wie viele Themen geht es?
Frage 1: Der Coach klärt zuerst, wer wie involviert ist. Wie viele Personen bzw. Parteien sind aktiv oder passiv an dem Konflikt beteiligt? Die Visualisierung dieser Frage eignet sich besonders, wenn es um Teamkonflikte oder Krisen mit mehreren Beteiligten geht.
Methoden:
Der Klient erstellt eine Zeichnung auf einem Papier oder einer Flipchart. Er wählt dabei "einen Platz für sich". Ausgehend davon zeichnet er die Beteiligten ein. Der Coach kann auf die unterschiedlichen Abstände zwischen den Parteien achten und diese benennen. Der Klient zeichnet die von ihm wahrgenommene IST-Situation. Alternativ dazu kann eine Aufstellung (mit Karten) vorgenommen werden. Pro beteiligter Person bzw. Partei wird eine Moderationskarte ausgefüllt. Danach wählt der Klient einen individuellen Platz für sich im Raum. Von diesem Punkt ausgehend legt er die Moderationskarten stellvertretend für die gewählten Personen bzw. Parteien aus. Der Klient positioniert sich anschließend auf den gelegten Karten und kann damit die Stellung des Gegenübers einnehmen.
Ein möglicher Lösungsansatz wäre in diesem Beispiel die Erstellung eines "Lösungsbildes" durch den Coach. Der Klient hat dabei den Auftrag, den gewünschten Abstand darzustellen, damit er sich in seiner Rolle wohler fühlt. Der Auftrag wird parallel mit einer Fragestellung verbunden, die beim Klienten konkrete Handlungsempfehlungen hervorrufen soll, damit der von ihm gewünschte Abstand eintritt. Ziel ist die Initiierung eines Perspektivwechsels. Mit der Unterscheidung von IST-Situation und Lösungsbild wird dem Klienten aufgezeigt, dass er die Handlungshoheit hat und der Situation nicht hilflos ausgeliefert ist.
Je nach Intensität können später auch unterschiedliche Farben für die visuelle Darstellung der Art der Konflikte gewählt werden. Unterschieden wird zwischen kalten und heißen Konflikten:
Kalte Konflikte sind nicht sichtbar und oft gekennzeichnet durch subtiles, destruktives Verhalten. Sie sind das Ergebnis von heißen Konflikten, bei denen es zu gar keiner oder keiner befriedigenden Lösung gekommen ist. Hier geht es meist darum, die andere Partei zu schädigen (z.B. mit Blockaden, Arbeitsverweigerung etc.). Bei kalten Konflikten sollte es zuerst darum gehen, den eigentlichen Streitpunkt sichtbar zu machen und zu benennen.
Heiße Konflikte sind gekennzeichnet durch ein hohes, emotionales Engagement der Beteiligten. Sie werden offen ausgetragen. Die Konfliktpartner versuchen den jeweils anderen zu überzeugen und zu ihrer Lösung zu drängen - z.B. in einem strittigen Garantiefall.
Sind die beteiligten Personen und Parteien benannt, kann der Coach zum nächsten Punkt kommen, der der Einschätzung der Komplexität dient. Es ist die konkrete Benennung der Themen.
Frage 2: Aufbauend auf den oben genannten Methoden können den dargestellten Symbolen nun die Themen zugeordnet werden. Ein Wort oder ein kurzer Satz reicht aus. Welches Thema bringt der Klient selbst mit ein? Was denkt er, was seine Konfliktpartner für ein Thema haben?
Wenn Coach und Klient auf das erarbeitete Bild schauen, erhalten sie nun einen Überblick über die Komplexität des Konflikts. Ziel des weiterführenden Gesprächs wäre jetzt eine Schritt für Schritt umgesetzte Reduktion der Komplexität. Hierbei geht es nicht um das Verstehen seiner Position, sondern vielmehr um das alleinige Erkennen der Interessen des Gegenübers. Der wesentliche Unterschied von Interesse und Position besteht darin, dass die Position (z.B. das Beharren auf einer Leistung) oft nichts mit dem Interesse (der Kunde möchte z.B. das Gesicht vor seiner Partnerin bewahren) zu tun hat. (Fisher et al., 2014)
Um die Dynamik eines Konflikts zu erkennen, lenkt der Coach den Fokus auf die zeitliche Abfolge der Krise, die Handlungs- und Lösungsorientierung der Beteiligten und die entstandenen Schäden.
Zeitliche Abfolge:
Je mehr Zeit ein Konflikt in Anspruch nimmt, umso schwieriger ist der Ausstieg. Der Klient soll dahingehend sensibilisiert werden, dass ihn seine "Alarmglocken" rechtzeitig warnen und er deeskalierend handeln kann. Vorbereitend dazu stellt der Coach das Modell der Eskalationsstufen von Glasl (2004) kurz vor. Glasl hat neun Eskalationsstufen herausgearbeitet, die sich auf folgende drei Grundmuster reduzieren lassen:
1. Ebene win-win:
Beide Konfliktparteien können das Gesicht wahren. Es gibt unterschiedliche Meinungen und eine Debatte über die Situation, jedoch keine tiefergehenden Verwerfungen. An diesem Punkt können "gute" Kompromisse gefunden werden. Ein Beispiel: Der Kunde kann auf Kulanz eine Ware zurückgeben und kauft weiterhin im Unternehmen ein.
2. Ebene win-lose:
Eine Partei setzt ihre Position auf Kosten der anderen durch. Es gibt in diesem Konflikt einen vermeintlichen Sieger und einen Verlierer, welcher augenscheinlich sein Gesicht verloren hat. Dabei entstehen oft kalte Konflikte, die kontinuierlich nachwirken - auch als "faule" Kompromisse bekannt. Beispiele dafür sind das ungute Gefühl des Kunden, nicht ehrlich behandelt worden zu sein, oder die Demütigung eines Mitarbeiters vor anderen Personen.
3. Ebene lose-lose:
Beide Parteien verlieren ihr Gesicht. Es wird erbittert gekämpft. Kunde und Mitarbeiter schreien sich an und werden evtl. handgreiflich. Ein Konfliktausstieg ist nicht mehr möglich.
An dem Punkt des Konflikts, an dem eines der oben genannten Grundmuster eintrat, setzt die Entwicklung eines individuellen Lösungsansatzes für den Klienten an.
Methode:
Es kommt die Methode "Timeline" - das Aufschlüsseln der erlebten Situation in der Nachbetrachtung - zum Einsatz. Das Ziel ist es, den Eskalationsverlauf in den verschiedenen Phasen aufzuzeichnen: Wie hat die Krise begonnen, was kennzeichnete ihren Höhepunkt, wie hat sie geendet. Dabei entsteht eine Eskalationslinie. Der Klient kann zusätzlich individuelle, markante Stichpunkte ergänzen. Anschließend überträgt er die Punkte einzeln auf Moderationskarten.
Zur Visualisierung der Eskalationslinie legt der Coach eine Schnur auf den Boden. Der Klient legt anschließend die Moderationskarten auf die Linie und platziert sich dazu. Er wird gebeten, sich nun noch einmal in die Situation hineinzuversetzen. Dabei werden folgende Kernfragen gestellt: Welche Gefühle kommen auf? Wie hat er die einzelnen Schritte erlebt? An welchem Punkt wäre eine Deeskalation möglich gewesen? Wann hat einer der Beteiligten das Gesicht verloren? Was hätte er benötigt, um anders reagieren zu können?
So wird sukzessive die Eskalationslinie abgegangen. Das Ziel dieser Übung ist die Ausarbeitung von Alternativen und Mustern, die bewusst unterbrochen werden können. Bei dieser Übung hilft der Coach bei der Suche nach (unbewussten) Mustern. Dies soll dem Klienten helfen, seine Intuition, das sog. "Bauchgefühl" zu trainieren. Denn der Klient ist der Situation nicht hilflos ausgeliefert, er kann sie proaktiv steuern.
Durch das Bewusstmachen möglicher (unbewusster) Handlungsoptionen kann die professionelle Begleitung der Mitarbeiter ansetzen. Als Beispiel geht der Coach davon aus, dass das grenzverletzende Verhalten der Kunden folgende Reaktionen bei den Angestellten auslösen kann:
Angriff:
Der Mitarbeiter nimmt die Vorlage des Kunden auf und wird selbst laut, verteidigt seine Position, ohne auf die Bedürfnisse seines Gegenübers einzugehen. Deeskalierendes Verhalten wird nicht als Option gesehen, es geht darum, den „Kampf“ zu gewinnen. Eine typische Lose-lose-Situation.
Das Coaching setzt an dem Punkt an, an dem die Situation kurz vor der Eskalation steht. Woran merkt der Angestellte z.B., dass die Grenze seiner Toleranz überschritten wird – gibt es vielleicht auch körperliche Merkmale (Magendruck, Zittern der Hände etc.)?
Erstarren:
Der Angestellte wird von der Heftigkeit der Reaktion überrumpelt und ist nicht in der Lage, zu reagieren. Er ist handlungsunfähig. Die Zeit des Erstarrens ist von Person zu Person unterschiedlich.
Für das Coaching sind die Handlungsoptionen direkt nach dem Zeitpunkt des Erstarrens spannend. Welche Reaktion wird dann gewählt, wie kann man den Zeitpunkt des Erstarrens aktiv beeinflussen?
Flucht:
Der Mitarbeiter entzieht sich der Situation. Dies kann räumlich oder innerlich geschehen, je nachdem, welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Für das Coaching könnte ein „Fluchtplan“ ein guter Ansatz sein. Was muss passieren, damit der Angestellte die Flucht ergreift? Was hilft ihm, schwierige Situationen auszuhalten? Gut eignet sich auch die Frage: „Was ist das schlimmste, was Ihnen passieren kann?“
Für die Ausarbeitung der individuellen Muster kann es hilfreich sein, den Blick auf vergangene Krisen zu richten. Wie wurde in schwierigen Situationen reagiert? Welche Lösungsmuster hat der Mitarbeiter ausprobiert? Hierfür eignet sich eine Aufstellung, um die konkreten Punkte auszuarbeiten und zu visualisieren. Der Coach sollte hierbei allerdings auch auf seine individuellen Grenzen achten. Coaching ist keine Therapie, auch wenn die Übergänge manchmal fließend erscheinen. Gerade bei Gesprächen über vergangene Krisen können beim Klienten schnell tieferliegende Ebenen angesprochen werden. Am besten klärt der Coach im Vorfeld ab, wie er mit „therapeutischen“ Themen umgehen kann.
Mitarbeiter können durch gezieltes Coaching befähigt werden, schwierige Situationen zu erkennen und eigene Muster zu beeinflussen. Wenn der Klient das Gefühl hat, die Situation kontrollieren zu können, kann er deeskalierend handeln.