Portrait

Dr. Wolfgang Looss im Interview

Die Rolle des Coachs ist in der Öffentlichkeit angekommen

Nicht ohne Grund entschied sich die Redaktion des Coaching-Magazins
vor zehn Jahren, Dr. Wolfgang Looss als Interviewgast für die erste Ausgabe
des Magazins anzufragen. Bereits 1986 publizierte der studierte
Betriebswirt den Artikel „Partner in dünner Luft“ und stellte damit das
Konzept des Einzel-Coachings im Management vor. Einem Bereich, dem
diese Art der „intimeren Gesprächsbeziehung“ damals noch fremd war.
Looss zählt folgerichtig zu den wichtigsten Pionieren des Coachings in
Deutschland. Anlässlich seines zehnjährigen Bestehens nimmt das Coaching-
Magazin den Gesprächsfaden erneut auf.

21 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2018 am 21.11.2018

Ein Gespräch mit David Ebermann

Vor zehn Jahren haben Sie Ihr Interview mit Thomas Webers, dem ersten Chefredakteur des Coaching-Magazins, mit der Aussage geschlossen, „hart“ daran zu arbeiten, ihr Arbeitspensum zu reduzieren. Ist Ihnen dies gelungen?

Nein, nur sehr begrenzt. Einfach deswegen, weil es weiterhin sehr viele interessante Anfragen gibt, was ich sehr bereichernd und schmeichelhaft finde. Dies hat mich bis heute gut beschäftigt gehalten und die Freude über diese oder jene Anfrage überwiegt natürlich. Ich mache zwar weniger, aber immer noch viel. Routineaufträge, die ich professionell nicht mehr so spannend finde, nehme ich allerdings nur ungern oder auch gar nicht an. Die achtzehnte Teamentwicklung in irgendeinem Großbetrieb können besser andere übernehmen. Dinge, die ich schon häufiger gemacht habe, jetzt noch mal zu machen, finde ich nicht mehr so interessant und das sage ich dann auch deutlich und empfehle gegebenenfalls Kolleginnen oder Kollegen.

Und welche Aufträge nehmen Sie bevorzugt an?

Sehr gerne nehme ich Aufträge an, bei denen ich die beteiligten Menschen spannend finde, bei denen ich das Thema bzw. die Fragestellung für komplex, innovativ, neu oder besonders sinnvoll halte. Da kann ich schwer Nein sagen. Beispielsweise arbeite ich seit vielen Jahren mit einem internationalen Berufsverband zusammen, der seine Strukturen erneuert, sie an seine Wachstumsentwicklung anpasst usw. Dort sind sehr differenzierte Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen tätig. Bearbeitet werden Fragestellungen, für die es noch keine Tradition und keine Routinen gibt. Governance-Strukturen in einem Berufsverband zu entwickeln, finde ich hochgradig spannend.

Gleiches gilt für ein Modellprojekt, in dem ich Coachings von Frauen übernehme, die in Aufsichtsratspositionen gehen. Ich fühle mich sehr wertgeschätzt, als Mann eine solche Anfrage zu erhalten und Frauen, die es sehr weit gebracht haben, sich aber jetzt oberhalb der Glasdecke neu orientieren müssen, hierbei unterstützen zu können. Man könnte zwar sagen, das ist ein klassisches Transition-Coaching, wenn auch auf sehr hohem Niveau. Aber natürlich tauchen hier ganz andere Fragen auf, die sehr viele komplexe Bezugsebenen haben. Es geht um Gender-Fragen, um Fragen von Ignoranz oder auch um das alte Quoten-Thema – da hängt eine große gesellschaftliche Diskussion dran. Diese Frauen sind Pionierinnen.

Hat sich Ihr Arbeitsschwerpunkt, wie Sie vor zehn Jahren bereits andeuteten, noch weiter in Richtung des Non-Profit-Bereichs verschoben?

Ja, der Anteil hat sich sehr deutlich erhöht. Zudem ist meine Tätigkeit auch in diesem Feld noch ausdifferenzierter geworden. Zu mehr als 50 Prozent bin ich mittlerweile im Non-Profit-Sektor unterwegs, was nicht unbedingt heißt, dass es sich um den Sozialbereich handelt. Ich arbeite viel mit Schulen und coache dort die Leitungspersonen. Auch coache ich Führungskräfte in Ministerien im Bildungsbereich, in Verwaltungen oder Kirchen. Eine ganze Reihe an Tagen im Jahr bin ich zudem im Wissenschaftsbetrieb tätig – in Forschungsinstituten, Universitäten etc. Auch das ist non-profit. Ich habe viel darüber nachgedacht, weshalb ich heute stärker im Non-Profit-Sektor arbeite, denn tendenziell ist dies finanziell weniger fruchtbringend als Aufträge im Business-Feld. Aber die Sinngebung der Arbeit ist im Non-Profit-Bereich deutlicher erfahrbar.

Hätten Sie ein Beispiel für eine Zusammenarbeit im Non-Profit-Bereich, die Sie als besonders sinnerfüllt empfanden?

Ich arbeite z.B. mit jemandem, der im kirchlichen Bereich relativ hoch angesiedelt ist. Da geht es um Fragen jenseits ökonomischer Notwendigkeiten. Da geht es um sehr sinnträchtige Fragen: Worin besteht die Rolle der Kirche in der Gesellschaft? Wie kann man diese gestalten und mit ihr umgehen? Es geht um gestalterische Fragen einer ganz anderen Professionalität. Ich bin dabei ein Sparringspartner.

Die Coaching-Anlässe im Non-Profit- sind demnach andere als im Profit-Bereich?

Ja, genau. Im erwähnten Beispiel steht die Frage im Mittelpunkt: Was ist die Sinnhaftigkeit eines bestimmten gesellschaftlichen Teilsystems? In Schulen ist dies ganz ähnlich. Was macht heutzutage eine gute Schule aus? Wenn Sie mit einflussreichen Verantwortlichen erörtern, wie Bildungswesen zu gestalten sein sollte, dann landen Sie bei solchen eigentlich sehr einfachen Fragen, die aber zugleich sehr komplex sind. Welchen Sinn haben Rankings? Was sind die Bewertungshorizonte, nach denen Entscheidungen zur Gestaltung von Schulwesen zu treffen sind?

Müsste man die Sinnfrage nicht auch im Profit-Bereich häufiger stellen?

Ja, wünschenswert wäre das natürlich (lacht). Das Problem besteht in der Frage, ob der dafür notwendige Reifegrad in Unternehmen schon gegeben ist. In businessgetriebenen Organisationen ist die Frage nach Sinnhaftigkeit vordergründig erst einmal durch die klassischen Zielgrößen – Marktanteile, Profitabilität, Effizienz etc. – beantwortet. Scheinbar beantwortet. Die Frage nach Sinnhaftigkeit wird im Profit-Bereich erst zum Thema, wenn die Person, die mit ihr betraut ist, für sich anfängt, ihr Handeln mit neuen Zweifeln auszustatten. Wenn Personen beginnen, zu zweifeln, ist dies durchaus ein Qualitätsgewinn, denn darin liegen die Innovationen verborgen.

Sie haben den Begriff der anlassfreien Beratungsarbeit geprägt, der eine über längere Zeit immer wieder aufgegriffene Reflexionspartnerschaft zwischen Coach und Klient kennzeichnet. Gibt es nicht immer eine Art Anlass – und sei es nur ein diffuser?

Ich habe noch eine ganze Reihe an Klienten, mit denen ich schon seit zehn und mehr Jahren arbeite. Diese Arbeit ist insofern anlassfrei, als dass wir ohnehin regelmäßige Termine vereinbaren, fünf-, sechsmal im Jahr. Für diese Treffen gibt es erst einmal gar keine Überschrift. Sie sind eine Art Jour fixe, wenn man so will. Der Schritt des Klienten besteht darin, dass er sagt: Ich warte nicht auf den Anlass, sondern schaffe mir die reflexive Schleife und Gelegenheit, um das, was anliegt, in ein solches Gespräch einzubringen. Der Diskurs entsteht aus einer generellen Einsicht, dass ein regelmäßiger Reflexionsort notwendig und vernünftig ist, nicht aus einem Problem heraus. Der Coach fungiert als Sparringspartner. Gesprächsinhalt und Zielsetzung ergeben sich erst dann, wenn man zusammenkommt.

Zumeist wird Coaching als zeitlich begrenzt definiert …

Das ist eine andere Veranstaltung. Ich bin nicht sicher, ob man die anlassfreie Beratung noch Coaching nennen sollte. Der enge Coaching-Begriff sieht vor, dass es einen Anlass, eine Fragestellung und eine Zielsetzung gibt. Diese werden besprochen, wodurch der Klient wieder in den Stand gesetzt wird, fortan mit Bordmitteln weiterzumachen. Die Beratungsperson macht sich überflüssig, was ein altes Ideal ist. Die anlassfreie Beratungsarbeit ist nur in dem Sinne coaching-ähnlich, als dass ich dem Klienten mit allem, was ich kann und weiß, zur Verfügung stehe. Weshalb wir zusammensitzen, ist aber einem anderen Bedingungsgefüge geschuldet, nicht dem Auftauchen eines Problems.

Nach eigener Aussage haben Sie sich für ein BWL-Studium entschieden, weil Sie über Wirtschaft „am wenigsten“ wussten. Sehen Sie hierin ein Muster, das Sie charakterisieren könnte?

Ja, ich bin ein besessener Lerner. Ich bewege mich vorzugsweise und gerne in Feldern, über die ich noch wenig oder auch gar nichts weiß, denn dann ist die Sicherheit am größten, dass es etwas zu lernen gibt. Es gibt den berühmten Satz von Fritz Simon: „Wissen macht lernbehindert.“ Wenn man den Satz umdreht, heißt das, Nichtwissen erzeugt Lernaktivitäten. Deswegen gehe ich sehr gerne in neue Felder und finde es sehr reizvoll, den Transfer von meinen Erfahrungen hin zu anderen und neuen Zusammenhängen zu machen. Es ist auch technisch gesehen viel leichter, fragend unterwegs zu sein, wenn man sich im Zustand des Nichtwissens befindet. Auch aus diesem Grund gehe ich heute stärker in die Non-Profit-Richtung, weil da die Bereiche des Nichtwissens lauern – auch des gesellschaftlichen Nichtwissens.

Sie haben Ihren Studienabschluss in BWL gemacht, aber nach eigener Aussage „quer durch alle Fakultäten“ studiert. Was hat Sie – vielleicht auch in Ihrer späteren Arbeit – besonders geprägt?

Das waren geisteswissenschaftliche Fächer. Ich habe bei den Soziologen, bei den Pädagogen, den Psychologen, ein bisschen bei den Theologen und – nicht zu vergessen – bei den Philosophen geschnuppert. Das war sehr spannend, aber mir war damals schon klar, dass es schwer ist, aus den geisteswissenschaftlichen Fächern eine berufliche Tätigkeit zu machen. Es kann ja nicht jeder Lektor oder Professor werden. Dennoch waren das für mich wichtige Ausflugsgebiete.

Studiert haben Sie in Frankfurt. Promoviert haben Sie dann 1977 in Bochum. Zu welchem Thema?

Die Optimierung von Organisationsstrukturen. Ich habe das Thema am Beispiel eines Konstrukts aus der Betriebswirtschaft aufgehängt, das damals noch aktuell war. Das war die sogenannte optimale Kontrollspanne. Inzwischen ist das Konstrukt durch. Man glaubte damals noch, dass man die eine optimale Organisationsstruktur doch durch analytische Überlegungen würde herausfinden müssen. Ich habe das untersucht und es wurde dann eine sehr skeptische Dissertation.

Die einheitliche Lösung: Das Gegenteil dessen, was Coaching ausmacht …

Genau. Der Aspekt war damals sicher schon angelegt. Ich habe bereits versucht, die Optimierungsfrage von Organisationsstrukturen, die in den Siebzigerjahren noch sehr wichtig war, auch unter Rückgriff auf psychologische Kategorien usw. anzugehen. Heute würde man sagen, es wurde deutlich, dass es ein zu untersuchendes Verhältnis zwischen Person und Organisation gibt. Aber das wurde damals noch nicht gesehen, weil die verhaltensorientierte BWL noch nicht entwickelt war.

Ihre wohl bekannteste Publikation, die in erster Fassung 1991 erschienen ist, trägt den prägnanten Titel „Unter vier Augen“. Welche Rolle spielen Vertrauen und Vertraulichkeit im Coaching?

Eine riesige! Coaching ist eine sehr eigene Situation, die damals völlig neu und ungekannt war. Diese Art einer engeren, intimeren Gesprächsbeziehung im Management einzugehen, war in der Rolle oberer Führungskräfte kaum enthalten. Die hatten natürlich Freunde und es gab die Deutschland AG mit den Netzwerkstrukturen auf Vorstandsebene, aber es gab keine wirkliche Intimität. Die musste von vielen Führungskräften erst gelernt werden. Inzwischen ist viel entwickelt worden. Jeder weiß, was ein non-disclosure agreement ist. Eine wesentliche Dimension des Gesprächskontextes im Coaching ist natürlich die Vertraulichkeit, die Intimität erst möglich macht, weil die Leute sich hinreichend sicher fühlen. Und der Begriff Vertrauen hat seit den Siebzigern, über die Achtziger- und Neunzigerjahre hinweg eine große Aufwertung erfahren – Vertrauen als Komplexitätsreduktion und Produktivitätsfaktor.

Ist die Rolle von Vertraulichkeit der Grund, weshalb Führungskräfte aus Ihrer Sicht nicht Coaches ihrer Mitarbeiter sein können?

Ja, wegen der Vermischung der Beziehungsqualitäten bzw. der Kontextvermischung. Führungskräfte können Mentoren, Fach-Coaches etc. sein, aber sie finden ihre Grenze an einer Vertraulichkeit, die Selbstgefährdung beinhaltet und die der Klient nur annehmen kann, wenn er die Situation als risikovermindert ansieht. Ein Gespräch mit dem Chef ist schwer im Risiko zu vermindern.

Und das Risiko der Führungskraft: Befindet auch sie sich in einem Dilemma?

Sie würde in dieser Begegnungsqualität ebenfalls in hohem Maße sichtbar und das erfordert wiederum eine personale Qualität, die nicht jeder mitbringt. Und auch die Führungskraft weiß natürlich nicht, inwieweit das, was in dem Gespräch geschieht, von ihrem Mitarbeiter in anderen Kontexten gnadenlos verwertet wird. Es gilt für beide Seiten: Sie sind zunächst einmal durch einen verwertungsorientierten Kontext vordefiniert. Ich behaupte gar nicht, dass Coaching durch die Führungskraft nie gelingt. Natürlich gibt es das. Es gibt ja manchmal auch Mitarbeiter und Führungskräfte, die nebenher noch befreundet sind, und die müssen damit auch zurechtkommen. Ich würde Coaching aber nicht zu einer normalen Führungsfunktion erklären. Beim Führen kann man Stilmittel verwenden, die man aus dem Coaching übernimmt, das ist okay. Aber ein Coaching, das den Namen verdient, enthält Begegnungsverdichtung und die ist in der Beziehung zwischen Mitarbeiter und Vorgesetztem schwer herzustellen.

Wie beurteilen Sie die Situation interner Coaches hinsichtlich möglicher Interessenkonflikte?

Das ist das tägliche Drama der internen Coaches. Ich erlebe das häufig in den Supervisionsgruppen, mit denen ich regelmäßig arbeite. Interne Coaches haben natürlich ihre Begrenzungen. Meistens, so erlebe ich das, sind diese Begrenzungen hierarchischer Art. Wenn Sie – vereinfacht gesagt – „nach oben“ coachen, jemanden coachen, der hierarchisch deutlich höher angesiedelt ist als Sie selbst, dann beginnt die Widersprüchlichkeit. Es braucht dann viel klärende Beziehungsarbeit zwischen den Beteiligten.

Aus dem Alltag kennt man die vertraute Sekretärin einer oberen Führungskraft, die dann manchmal den Chef „coacht“ und bemuttert. Aber die offiziellen internen Coaches können meistens maximal auf gleicher hierarchischer Ebene coachen, weil es dort noch gelingt, durch Verabredung den organisatorischen Zwangskontext außer Kraft zu setzen und zu sagen: Vergessen wir jetzt mal, dass du in dieser Abteilung bist und ich in jener, es ist genug organisatorische Distanz zwischen uns, deswegen können wir wirksam eine Kontaktvereinbarung in Kraft setzen. Nur soweit, wie dies gelingt, kann man coachen. Wenn die organisatorische Distanz zu gering ist, wird es schwierig, weil die Gefahr der Kontextvermischung zu groß ist.

Sie haben das Verhältnis von Person und Organisation angesprochen. Mitunter wird argumentiert, im Führungskräfte-Coaching müsse der vertrauliche Prozess für die Belange der Organisation geöffnet werden.

Das kann man machen, aber der einzige, der das beschließen kann, ist der Klient. Er ist völlig frei in der Entscheidung, wie er die Resultate, Erfahrungen und Überlegungen seines Coachings für sich – in seiner Rolle – und für das Wohl der Organisation verwertet. Eine Öffnung tut grundsätzlich gut. Ich finde es großartig, wenn Klienten von mir erstens ganz offen damit umgehen, gecoacht zu werden, mich ihrer Arbeitsumgebung vorstellen und sagen: Übrigens, das ist Herr Looss, mein Coach. Das trägt sehr zur Enttabuisierung bei und ist in den letzten Jahren sehr viel häufiger passiert. Zweitens ist es zu begrüßen, wenn der Klient das, was wir im Coaching erarbeiten, auch mit der jeweiligen Arbeitsumgebung in Kontakt bringt.

Sehen Sie eine Professionalisierung, die von der Nachfrageseite des Coaching-Marktes ausgeht?

Ja, es gibt eine deutliche Klienten-Professionalisierung. In vielen Unternehmen gibt es inzwischen Coaching-Pools und interne Fachleute, die diese Pools managen. Es ist sehr viel passiert. Außerdem hat sich Coaching in all seinen seltsamen Spielarten runtergewässert und auch denunziert, aber dennoch popularisiert. Jeder Mensch weiß heute, was ein Coach ist. Der Coach kann als Figur in irgendeinem beliebigen Film auftauchen und jeder Zuschauer weiß, was das ungefähr ist. Die Rolle, die Sozialfigur des Coachs ist in der informierten Öffentlichkeit angekommen. Auch in diesem Sinne ist ein Stück Professionalisierung passiert. Die meisten Führungskräfte – sowohl im Business- als auch im Non-Business-Kontext – haben schon mal ein Coaching erlebt. Vielleicht auch zwei oder drei. Sie sind schon durch Situationen gegangen, in denen sie sich externe Unterstützung geholt haben. Die wissen ungefähr, wie ein Coaching abläuft. Ich erlebe kaum noch Klienten, die sagen: Ich werde zum ersten Mal gecoacht, wie geht denn das? Es gibt einfach zunehmend gesellschaftliche Erfahrung mit dieser Praxis.

Vor zehn Jahren sagten Sie, der Coaching-Begriff sei „nahezu inhaltsleer“. Hat sich dies geändert?

Er ist immer noch inhaltsleer, d.h., als kommunikative Praxis erklärungsbedürftig. Coaching ist zunächst mal ein Label. Man kann versuchen, den Begriff einzuengen. Einige Bindestrich-Coachings haben sich ja mittlerweile auch als Unterscheidung einigermaßen durchgesetzt: Business-Coaching, Life-Coaching usw. Als kommunikative Praxis bedarf der Begriff aber weiterhin der Konkretisierung, er erklärt sich nicht von selbst.

Wem sollte die Konkretisierung des Coaching-Begriffs obliegen? Der Praxis, der Wissenschaft …

Das geht nur in der Co-Kreation von Praxis und Wissenschaft. Was die Praxis beiträgt, ist vielfältige Erfahrung zur Verfügung zu stellen – in Bezug auf unterschiedliche Situationen, Indikationen, Vorgehensweisen, Prozessmuster. Praxis ist immer auch das Versuchslabor. Die Wissenschaft tut das, was sie am besten kann, nämlich Vorgefundenes zu sortieren, auf Konsistenz und Kohärenz zu überprüfen und mit Hintergrunderklärungen zu versehen.

Befürworten Sie eine gesetzliche Regulierung des Coaching-Berufs?

Nein! Ich denke, einen Arbeitsbereich, der so situativ geprägt, dynamisch, wechselvoll und voll des Lebens ist, kann man nicht mit den Mitteln des Gesetzgebers regulieren. Der Gesetzgeber reguliert ja auch nicht das Anfertigen von Ölgemälden oder das Aufführen von Theaterstücken. Immer dann, wenn der Gesetzgeber sich hier einmischt, wird es, denke ich, sehr unheilvoll. Denn die Dimensionen und Parameter, mit denen der Gesetzgeber arbeiten kann und die darin bestehen, generalistische Regelungen zu finden, würden in diesem Bereich einfach zu kurz greifen. Dazu ist das Leben zu komplex. Das Leben ist für den Gesetzgeber immer ein Störfall. Er müsste eine unglaublich umfangreiche Kasuistik aufbauen und da frage ich, wozu? Was der Gesetzgeber bestenfalls regeln könnte, wären prozedurale – und zwar nur prozedurale – Schritte zur Qualitätssicherung.

In Ihrem Interview 2008 sahen Sie für sich persönlich noch keinen Anlass, in den DBVC einzutreten, heute sind Sie Ehrenmitglied und engagieren sich im Präsidium des Verbands …

Im DBVC (Deutscher Bundesverband Coaching e.V.) ist eine ganze Reihe von mir sehr geschätzter Kollegen organisiert. Mit denen zusammenzuarbeiten, ist eine große Prozesslust. Zudem hat sich der Verband in meinen Augen sehr schön im Sinne von Professionalität entwickelt und schreibt sich diese nicht nur auf die Fahnen, sondern hat jahrelang eine entsprechende Praxis hingelegt. Als Bündelungsorgane waren die Verbände immer notwendig. Für mich stand aber anfangs die Frage im Raum, ob ich noch dabei sein muss. Inzwischen ist es für mich aber sehr angenehm, dort mitzumachen, weil gerade der DBVC – und manch anderer Verband sicher auch – diese Bündelungsfunktion gut wahrnimmt: im Sinne von Veröffentlichungen, im Sinne von Veranstaltungen, im Sinne des Einsammelns von Praxiserfahrungen etc.

Als Ausbilder hatten Sie ein Ritual, eine Art innere Lossprechung der Teilnehmer. In welchen Fällen wurden Teilnehmer von Ihnen nicht losgesprochen?

Das kam selten vor. Es war dann der Fall, wenn ich befürchtete, der Teilnehmer geht jetzt raus, coacht sich um Kopf und Kragen und sagt dann noch, er habe das bei mir gelernt. Bei dieser Vorstellung ging es mir nicht gut. Damit waren immer die Ansage und die Überlegung verbunden, was dieser oder jener Teilnehmer noch an sich verbessern sollte, damit er gut gerüstet in die Praxis gehen kann. Es ging dabei nicht um Herrschaftsverhalten nach dem Motto: Der Alte verleiht oder versagt dem Jungen die Berechtigung zu coachen, was formal ohnehin nicht möglich ist. Das war ein professionelles Ritual – das Setzen einer Markierung, die dem Lernenden eine Orientierung bot, woran er noch arbeiten sollte. Es ging ums Besprechbarmachen.

Erfahrungen des Scheiterns nennen Sie Bruchkompetenz. Wann kommt sie einem Coach zugute?

Vor allem dann, wenn er mit Klienten arbeitet, die selber wegen des Bewältigens irgendwelcher Brüche ins Coaching kommen. Es hilft dann sehr, wenn man eigene Erfahrungen hat – durchgearbeitete Erfahrungen. Bruchkompetenz bedeutet nicht, Brüche nur erlebt zu haben, sondern diese auch verarbeitet, bewältigt und aus ihnen gelernt zu haben. Ein solches Durcharbeiten gelingt wiederum besser in Bezogenheit, z.B. zu einem Coach, Therapeuten, Mentor, Partner etc., nicht nur im gedanklichen Selbstvollzug.

Setzen Unternehmen zunehmend auf Bruchkompetenz, wenn es darum geht, Führungspositionen zu besetzen?

Ja, eindeutig. In einer ganzen Reihe von Unternehmen habe ich sehr explizit mitbekommen, wie die ihre Kriterien bei der Eignungsdiagnostik in diese Richtung verändert haben und nun sagen: Wir brauchen nicht mehr die Kandidaten mit den glatten Lebensläufen, sondern die Menschen, die schon mal hingefallen oder gescheitert sind oder etwas durchlebt haben, was nicht so nett war. Und zwar handelt es sich dabei um Unternehmen, die selber durch wechselvolle Zeiten gegangen sind, die sozusagen krisengeschüttelt waren. Es gibt ja kaum noch Unternehmen, bei denen das nicht der Fall war. Von daher erlebe ich sehr häufig, dass Unternehmen sagen: Ja, das ist eine Kompetenz, die wir brauchen, weil damit zu rechnen ist, dass es auch weiterhin VUCA-mäßig (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) turbulent zugeht.

Sie sollen ein Meeting mit hochrangigen Vertretern eines DAX-Unternehmens mitten im Gespräch verlassen haben. Wie kam es dazu?

Das ist viele Jahre her. Es kam dazu, weil mir die Widersprüchlichkeit zwischen Geredetem, Beschworenem und Gelebtem sehr deutlich wurde. Ich habe das benannt und die Anwesenden damit konfrontiert. Die sagten: Ja, Sie haben recht, es gibt diese Widersprüchlichkeit, aber wir haben gute Gründe dafür. Sie wollten mit dieser Widersprüchlichkeit nicht lernträchtig umgehen, sie nicht untersuchen, sondern ignorieren. Ich sagte: Dann bin ich überflüssig, damit kündigen Sie meinen Job, denn da kann ich nicht mitmachen. Es ist dann vernünftiger, zu gehen.

Gibt es eine ausreichend kritische Grundhaltung unter Coaches, wenn es um den Umgang mit „den Mächtigen“ geht?

Je älter ein Coach wird, desto eher ist diese Haltung gegeben. Bei jungen Coaches ist das naturgemäß nicht der Fall. Das kreide ich denen aber gar nicht an, es ist verständlich. Altgediente Coaches, Leute, die ich als Peers erlebe und die umfangreiche Erfahrungen gesammelt haben, würden in vergleichbarer Situation genauso handeln oder haben das zum Teil auch bereits getan. Da sie inzwischen dazu bereit sind, ihre Gesprächspartner mit ihren Beobachtungen deutlich zu konfrontieren, gehen sie auch bewusst das Risiko ein, in eine konflikthafte Situation zu geraten.

Sie befassen sich in aktuellen Publikationen mit dem Thema „Macht und Mikropolitik in Organisationen“. Welche Rolle spielt der Themenkomplex als Coaching-Anlass?

Das ist natürlich von Coach zu Coach unterschiedlich. Bei mir hat sicher ein Drittel der Coachings die Handhabung von Macht durch die Führungskraft zum Thema, wenn auch nicht unbedingt ausschließlich. Manchmal ist es aber auch das Hauptthema. Konkret geht es um die nicht gekonnte oder emotional nicht abgesicherte, nicht auf Werten gründende Handhabung von Macht. Daraus können Zweifel, Verhaltensverlegenheit oder Passivität entstehen.

Sie schreiben, dass Positionsmacht heute nicht mehr zur Steuerung in Organisationen ausreiche. Worauf führen Sie das zurück?

Darauf, dass es kaum noch „ungeschüttelte“ und intakte Organisationen gibt, die diese Projektion gut auf sich ziehen könnten. Fragen Sie mal, welcher Organisation die Menschen heute noch vertrauen. Früher war das z.B. die Kirche. Die hatte ihre riesigen Skandale, da ist Beschädigung passiert. Der ADAC war eine Organisation, der man sehr vertraut hat. Auch der hatte seinen Skandal. Volkswagen war eine deutsche Institution von Bürgerlichkeit. Unternehmen haben Vertrauenszuschreibungen vielfach verspielt. Für die Akteure in Organisationen bedeutet dies, dass sie das weggebrochene Vertrauen in die institutionellen Mechanismen, das Positionsmacht bedeutete, ersetzen müssen. Es bedeutet, dass sie sich ihre Wirksamkeit erst aus ihrer Rolle heraus durch Beziehungsarbeit verdienen müssen. Früher sagte man, wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Diesen Satz aus der „guten alten Zeit“ würde heute kaum noch jemand unterschreiben.

Ihr Berufskollege Ulrich Sollmann unterstellt Ihnen in einer Laudatio, die er anlässlich Ihres 70. Geburtstages im Jahr 2013 schrieb, unterwegs zu einer besseren Welt zu sein. Was könnte er hiermit meinen?

Mein ganz subjektiver Traum von einer besseren Welt ist definiert durch weniger Angst, weniger Entfremdung, mehr Aufrichtigkeit, mehr Vernunft und durch einen intensiveren und co-kreativeren Umgang miteinander. Das ist eine ganz normale Vorstellung von einer etwas besseren Welt und dahingehend bin ich unterwegs. Ein alter Spruch: Make the world a little better.

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