Wir leben in einer sich hektisch verändernden Welt, die unter anderem von Agilisierung, Digitalisierung, diversen Produkt- und damit Branchenkrisen sowie von Kriegen und drastischen geopolitischen Veränderungen gekennzeichnet ist. In diesem Beitrag soll es um Anforderungen an Führung gehen, die aus dem Veränderungsdruck resultieren. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie Coaching unterstützend wirken kann.
Diese Trends setzen Führende auf allen Ebenen stark unter Druck, verunsichern sie und provozieren mindestens folgende Fragen (aus Gesprächen, Interviews und Coachings mit Führungspersonen verschiedener Levels, vgl. auch Wagenhals, 2024):
Zu Beginn eines Coachings bietet sich die Analyse des jeweiligen Kontexts an, aus dem die Führungspersonen kommen. Hierbei kann das Anfertigen eines Systemschaubilds der Organisation ein hilfreiches Tool sein. Es kann zum Erkennen der Sichtweise des jeweiligen Klienten auf seinen Kontext beitragen. Dabei gilt es, die Wesensmerkmale der Organisation (s. das dynamische Organisations-Modell nach Glasl & Lievegoed, 2004) in ihrer Bedeutung und in ihrem Zusammenwirken herauszuarbeiten – ebenso wie die dort umzusetzenden Strategien Richtung „Transformation“. Geklärt werden sollte zudem die Frage, welche dieser Dimensionen der Klient verantwortet – inkl. seines Beziehungsgeflechts nach innen und nach außen und seines Einflusses in diesem.
Im Folgenden soll es um das Reflexions- und Arbeitsgerüst gehen, das im Coaching-Prozess mit (Mit-)Gestaltern der Transformation relevant ist und von praktischen Erfahrungen der Coaching-Praxis des Autors geleitet wird. Das Erleben von Transformation und Change bzw. ihrer Rolle in diesem Prozess ist für Führungspersonen sehr differenziert zu betrachten: Von mittleren Managern wird häufig beklagt, dass man für „sowas eigentlich keine Zeit“ habe – Transformation und Change stellten eher eine von vielen Aufgaben dar, denen man sich „auch noch“ widmen solle und für die man „nicht studiert“ habe.
Derartige Äußerungen zeigen bereits einige Missverständnisse, an denen in unterschiedlichen Settings gearbeitet werden sollte: Mittlere Manager und die Organisationen, für die sie arbeiten, scheinen zu glauben, es wäre ok, ihnen die Veränderung als „Aufgabe“ oder auch „Projekt“ aufzutragen – und sie dann mit dem, was daraus folgt, allein zu lassen. Dies ist aus mehreren Gründen unverantwortlich:
Die mittlere Ebene in einem mittelständischen Unternehmen, das begonnen hatte, ihre Produktion umzubauen und die arbeitsvor- und nachbereitenden Bereiche mit New-Work-Maßnahmen anzupassen, klärte die Frage, was jeder unter New Work verstand, im Rahmen von Interviews und in einem Definitions-Workshop. Danach brauchte es aber dennoch mehrere Coaching-Sitzungen mit dem Gesamtprojektleiter und den Abteilungsleitern. Es sollte erarbeitet werden, wie das Misstrauen, das vom Werkleiter und einigen Abteilungsleitern gestreut worden war (New Work bedeute neben Homeoffice, dass „keiner mehr einen eigenen Schreibtisch“ habe), zerstreut und wie die Beteiligten wieder offen für konstruktive Lösungen werden könnten.
Von Geschäftsführern oder Mitgliedern des Vorstands, die mit der strategisch diskutierten und festgelegten Transformation befasst sind, hört man derartige Klagen kaum. Das hat wohl damit zu tun, dass bei ihnen die Transformation – wenn beschlossen – ihre Führungsarbeit zwischen drei und fünf Jahre (je nachdem, wie lange der Veränderungsprozess dauert) bestimmen wird. Für sie ist es eher ein Problem, dass ihre Begeisterung für die Transformation nicht immer von allen Betroffenen geteilt wird und dass es keine Eindeutigkeiten und Sicherheiten bei der Planung gibt. Ebenfalls problematisch ist, dass sie oft nicht sehr geübt sind in der Entwicklung einer Roadmap, die die Change-Architektur mit entsprechender Prioritätensetzung und mit der beantworteten Frage enthält, wie stark und wo man die Beschäftigten einbeziehen sollte.
Ein Geschäftsführer einer mittelständischen Firma war erfüllt von dem Gedanken, dass sie eine tolle Strategie gefunden hatten, sich selbst als Anbieter für New-Work-Gestaltung aufzustellen. In die Strategiebildung waren alle mittleren Manager einbezogen, deren Aufgabe es nun natürlich war, diese Strategie mitzutragen. Leider war dabei versäumt worden, intensiv über das Zukunftsbild und die sich daraus ergebenden Erwartungen an die Rolle und die Mitbeteiligung an der Umsetzung jedes Einzelnen zu sprechen. Insofern gab es immer wieder Stolperer bei der Umsetzung. Der Geschäftsführer erwartete aber schnelleren Vollzug der Maßnahmen und konnte gar nicht verstehen, „warum das alles so lange dauert“.
Im Coaching mit ihm wurde einerseits der Fokus auf die reduzierte Mitnahme der Beschäftigten gerichtet (worin liegt das Problem bei dem obigen Vorgehen?) und andererseits auf den Umgang mit seiner Begeisterung. Er erlaubte sich, seine Begeisterung in internen Ansprachen (aber ohne den bisherigen Druck) und in Führungen mit Kunden durch die Showrooms rüberzubringen. Erarbeitet wurde zudem, wie er mittels besseren Zuhörens und anhand des Stellens von Fragen eine erhöhte Aufmerksamkeit für Bedenken und weitere Reaktionen der Beschäftigten erlangen konnte. Damit verbunden gab es über das Nachfragen die Selbsterkenntnis, einen problematischen Gefühlsreflex überwinden zu müssen, der aus einer enttäuschten Begeisterung tiefen Frust erzeugte (mit Bestrafungstendenzen). Der Frust konnte mit vertrauten Personen austauschbar gemacht und so reduziert werden – auch mit Hilfe der Akzeptanz anderer Denk- und Gefühlswelten und des Einsatzes einer anderen Atemtechnik.
Bei einer Beauftragung als Change-Begleiter auf Top-Führungsebene wurde schnell klar, dass praktisch niemand auf der ersten und zweiten Führungsebene ausreichend Kenntnis – geschweige denn Erfahrung – hatte bezüglich der Gestaltung von Change-Prozessen, die mit der Einbindung von Digitalisierungselementen verbunden sind. Letztere waren bei der betreffenden Firma bereits im Einsatz.
Insofern wurde eine Begleitung vereinbart, die aus zwei Komponenten bestand: Einerseits wurde ein Qualifizierungsangebot zu Change-Grundlagen (Haltung, Organisationsmodelle, Change-Architektur usw. aufgesetzt. Dieses richtete sich sowohl an die ersten beiden Führungsebenen als auch an interessierte Freiwillige aus den Teams (Multiplikatoren). Zudem sollte es Coaching-Prozesse für die beiden Geschäftsführer sowie für die Abteilungsleiter geben.
Die Sparringsrolle der Coaches bezog sich in der Folge hauptsächlich auf die Bedeutung der Transformation mitsamt der Digitalisierungsstrategie für die jeweiligen Abteilungen, auf die immer wieder neu zu gestaltende Change-Architektur und die jeweils wahrzunehmenden Rollen der Führungspersonen.
Bei der Begleitung ist es unabdingbar, mit den Klienten die offene Reflexion ihrer eigenen Veränderungserfahrungen und der damit verbundenen Konzepte/Denkmodelle, Gefühle und auch erlebten „Niederlagen“ zu provozieren. Damit wird es möglich, z.B. das bekannte Rollenstereotyp, eine (männliche) Führungskraft müsse alles wissen und im Griff haben, zu entkräften und durch neue, eher zukunftsorientierte Konzepte zu ersetzen. Also ist es erforderlich, im Coaching-Setting immer wieder neu Reflexionsräume zu schaffen, so dass daraus eine Neuaneignung passenderer Konzepte für das Führungshandeln im Change entstehen kann. In der Folge ermöglicht dies auch anderes Handeln.
Dafür sind z.B. Konzepte wie der Rollentausch (Moreno, 1959), das Enneagramm (Palmer & Brown, 2000), das Zürcher Ressourcen Modell (Weber & Storch, 2018) oder das „innere Team“ (Schulz v. Thun & Stegemann, 2004) sehr hilfreich. Im Zusammenhang damit sollte die Empathie gegenüber denjenigen in der Firma gefördert werden, die mit den Anforderungen der Veränderung nicht gut klarkommen und in der Folge auch die dafür passende Kommunikation im Veränderungsprozess erarbeitet werden (vergleiche dazu z.B. Hartkemeyer & Hartkemeyer, 2001; Stumpf & Wehmeier, 2014).
Wichtige Fragen zur Selbstreflexion und für Feedbackrunden zum Thema Change lauten (vergleiche auch Wagenhals, 2024):
Im Coaching mit drei Geschäftsführern wurden die verschiedenen Führungsebenen betrachtet – in Verbindung mit der Frage, wie sinnvolle Austausch- und Feedbackstrukturen im Transformationsprozess aussehen könnten. Angeregt durch die Frage, wo eigentlich die auf verschiedene Führungspersonen verteilte Strategierolle ihre Handlungs- und Austauschebene haben soll, wurden die Abteilungsleitermeetings für den Austausch geöffnet. Zudem wurden vierteljährliche Feedbackrunden über alle Führungspersonen hinweg festgelegt. In diesen sollten z.B. folgende Fragen gestellt werden: Wie sinnvoll, wie hilfreich war meine Rollengestaltung bezüglich des Prozessfortschritts? Wie zufrieden war ich und wie zufrieden waren meine Mitarbeitenden damit? Bezogen auf die sich daraus ergebenden Erkenntnisse wurden den Handelnden gezielt Coaching- und Weiterbildungs-Sessions angeboten.
Im parallel laufenden Coaching ging es immer wieder um folgende Fragen: Wie kann ich mich gemäß meiner Funktion bzw. meinen Rollen klar ausdrücken, obwohl ich mit Einzelnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen befreundet bin und niemanden verletzten will? Wie kann ich es aushalten, dass wir unterschiedliche Haltungen, Denkmodelle und persönliche Erfahrungen haben, diese Vielfalt wertschätzen und Druck zur Vereinheitlichung vermeiden? Wie sollte sich das in meiner Kommunikation niederschlagen? Wie kann ich meine Erwartungen an die Mitarbeitenden so formulieren, dass sie nicht glauben, ich wüsste gar nicht, was sie alles zu tun haben und das als noch mehr Druck empfinden? Wie kann ich es besser akzeptieren, wenn unsere Leute einfach „nein“ sagen?
In diesem Kontext wurde viel mit Tauschen/Wechseln von Rollen, mit Bedürfnisäußerungen, mit dem Erklären von Zusammenhängen und mit verschiedenen Stilen (z.B. „coachender Stil“) experimentiert. Es wurde auch daran gearbeitet, besser „nein“ sagen zu können oder – abgeschwächt – sich über (neue) Prioritäten zu unterhalten, ein Bewusstsein für Überforderung zu schaffen und den Umgang damit zu reflektieren (schauen, was dahinter steckt), um Verhaltensalternativen erproben zu können.
Es wurde gezeigt, dass sich Coaching – ganz im Sinne des systemischen Organisationsbildes – auf den verschiedenen Ebenen des Transformationsprozesses einbringen kann und sollte, um die Führungspersonen, die sich diesen Herausforderungen stellen (müssen), wirkungsvoll stärken zu können. Besonders bedeutsam sind dabei eine gute Rollenklärung, die darauf bezogenen Feedbackschleifen und die Implementierung von Beteiligungsstrukturen und passenden Informations- und Kommunikationsprozessen. Diese Aspekte sind in Veränderungsprozessen unbedingt zu thematisieren, um die verantwortlichen Führungspersonen dabei zu unterstützen, den herausfordernden Prozess ruhig, mit Weitblick, im Team, rahmengebend, konsequent lösungsorientiert und kreativ auf allen berührten Ebenen gestalten zu können (vergleiche zur Komplexität Borgert, 2018).
Es ist auch wichtig, die jeweilige Change-Erfahrung so besprechbar zu machen, dass sich aus deren Reflexion Anregungen für ein angemessenes Führungshandeln ergeben und dass gleichzeitig klar wird, dass es keineswegs zuerst oder schwerpunktmäßig um „inner work“ geht (wie dies manche Veröffentlichungen zu diesem Thema nahelegen). Stattdessen geht es auch um „organisationale Arbeit“, weil sich eine Transformation auf allen Ebenen einer Organisation und darüber hinaus vollzieht.