Coaching-Tools

Motivorientierte Lebensbalance

Ein Coaching-Tool von Dr. Claudia Eilles-Matthiessen

11 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2011 am 13.09.2011

Kurzbeschreibung

Mit dem Tool „Motivorientierte Lebensbalance“ können Klient und Coach gemeinsam betrachten, inwieweit die zentralen Motive (z. B.: Bindung, Leistung oder Autonomie) gegenwärtig in den unterschiedlichen Lebensbereichen des Klienten (z. B.: im Bereich Familie oder Karriere) erfüllt werden. Ausgehend von dieser Analyse kann der Klient Ansatzpunkte für hilfreiche Veränderungen ableiten.

Anwendungsbereiche

Das Tool kann in der Analysephase oder in der Veränderungsphase eines Coachings eingesetzt werden. Es ist dann angebracht, wenn ein Klient Arbeitsüberlastung, Stress, allgemeine Unzufriedenheit oder das „Zerissensein“ zwischen vielfältigen, konkurrierenden Anforderungen beschreibt. Es eignet sich sehr gut für das Coaching von Frauen und Männern, die Karriere- und Familienarbeit verbinden und dabei vielfältige Anforderungen beschreiben.

Zielsetzung

Erstes Ziel des Tools ist eine Klärung möglicher Faktoren, die zu Unzufriedenheit oder Überlastung eines Klienten beitragen. Davon ausgehend können gezielt Veränderungsideen abgeleitet werden. Ein zweites Ziel des Tools ist eine Bewusstwerdung und Wertschätzung derjenigen Aspekte der eigenen Lebenssituation, die als Quellen von Zufriedenheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden erlebt werden. Klienten berichten nach der Durchführung des Tools oft von einem Gefühl der Entlastung und Klärung sowie von gesteigerter Wertschätzung für die positiven Aspekte ihrer Arbeits- und Lebenssituation.

Ausführliche Beschreibung

Vor dem Hintergrund der Zunahme von Burn-out und anderen Belastungsreaktionen in Organisationen gewinnt die Frage nach Lebensbalance an Bedeutung und wird auch im Coaching zunehmend thematisiert.

Klassische Work-Life-Balance-Konzepte setzen oft implizit voraus, dass Lebensbalance dann entsteht, wenn Menschen einen Ausgleich zwischen den wichtigsten Lebensbereichen erzielen. Je nach Konzept werden unterschiedliche Lebensbereiche unterschieden – in der Regel jedoch Beruf/Karriere, Familie, soziale Kontakte, Körper/Gesundheit. Vielen Work-Life-Balance-Konzeptionen liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine „gute“ Zeitverteilung zwischen verschiedenen Lebensbereichen automatisch zu Zufriedenheit und Wohlbefinden beiträgt.

Diese Vorstellung greift jedoch zu kurz, wie etwa Strehlau (2008) oder Schmidt-Lellek (2006) darlegen. Als alternative Konzeption zur zeitbezogenen Work-Life-Balance schlägt Strehlau (2008) eine motivorientierte Perspektive vor, der zufolge eine Person dann Wohlbefinden erzielt, wenn in ihrem Leben – übergreifend über die einzelnen Lebensbereiche – die wichtigsten Bedürfnisse erfüllt werden.

Für die Entwicklung des Coaching-Tools „Motivorientierte Lebensbalance“ wurde die von Strehlau (2008) vorgestellte Konzeption einer motivorientierten Lebensbalance als Ausdruck der gelungenen Befriedigung wichtiger psychologischer Bedürfnisse übernommen und wie folgt umgesetzt:

Ausgehend von etablierten Klassifikationen psychologischer Grundmotive (zum Beispiel: Heckhausen & Heckhausen, 2007) wird angenommen, dass zumindest die folgenden vier Motive als grundlegend für das psychische Wohlergehen betrachtet werden können: Bindung, Leistung, Autonomie und Selbstwertschutz.

Bindung/Beziehung/Zugehörigkeit

Das Bindungsbedürfnis und das Bedürfnis nach sozialen Kontakten und langfristigen Beziehungen ist ein zentrales Grundbedürfnis, das den Menschen als soziales Wesen definiert. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit gilt als universelles, evolutionär verankertes Grundbedürfnis (Baumeister & Leary, 1995, Gere & MacDonald, 2010). Auch in Organisationen ist das Bindungsmotiv vielfältig beobachtbar. Menschen wollen dazugehören, sei es zu ihrem Unternehmen, ihrer Abteilung oder dem Team, zu einem Verband, Verein oder Netzwerk.

Leistung/Kompetenzerleben

Das Leistungsmotiv beinhaltet die Bereitschaft, sich mit Qualitätsmaßstäben für das eigene Handeln auseinanderzusetzen und die eigenen Leistungen zu erhöhen. Leistungsmotivierte Menschen haben hohe Anforderungen an sich selbst und die Ergebnisse und Qualität ihrer Arbeit. Dabei gilt ein Verhalten dann als leistungsmotiviert, wenn es sich mit einem hohen Gütemaßstab misst und der Antrieb zum Handeln von der Person selbst ausgeht. Mit dem Begriff Kompetenzerleben soll ergänzend darauf verwiesen werden, dass auch die Wahrnehmung, Erweiterung und Anwendung eigener Kompetenzen eine wichtige Quelle für Zufriedenheit ist.

Autonomie/Selbstbestimmung/ Gestaltung/Kontrolle

Kern dieses Motivs ist der Wunsch, zentrale Aspekte unseres Lebens durch das eigene Verhalten selbst beeinflussen zu können. Wir wollen Einfluss nehmen auf Dinge, die uns wichtig sind, wollen selbst gesetzte Ziele erreichen und unser Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten. In der Stressforschung konnte Gestaltungsspielraum als wichtiger Puffer gegen negative Stressfolgen identifiziert werden.

Selbstwert/Anerkennung

Ebenso ist Anerkennung und damit die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstwertgefühls für Gesundheit und Wohlbefinden von zentraler Bedeutung. Die Stärke dieses Motivs wird uns vor allem dann bewusst, wenn das Selbstwertgefühl etwa aufgrund von Abwertungen oder Ablehnung durch Andere verletzt wird. In diesen Fällen reagieren wir mit Wut, Empörung und Kränkung, manchmal auch mit Traurigkeit und Rückzug. Aber nicht nur aktive Abwertungen, sondern auch das Ausbleiben von Anerkennung für gute Leistungen wirkt sich bei den meisten Menschen negativ auf Wohlbefinden und Gesundheit aus.

Motive und Lebensbereiche koppeln

Motivtheorien gehen meist davon aus, dass die genannten Motive universell sind, jedoch bei den Menschen die einzelnen Motive unterschiedlich ausgeprägt und wichtig sind. So gibt es sehr leistungsmotivierte Menschen, während für andere zum Beispiel das Bindungsmotiv im Vordergrund steht. Die psychologischen Motive Bindung/ Beziehung/Zugehörigkeit (1), Leistung/ Kompetenzerleben (2), Autonomie, Selbstbestimmung, Gestaltung, Kontrolle (3) und Selbstwert/Anerkennung (4) wurden durch einen weiteren Bereich Körper/Erholung/ Bewegung/Entspannung (5) ergänzt. Erfahrungsgemäß verdient dieser Bereich gerade bei stark leistungsmotivierten und durch vielfältige Anforderungen besonders belasteten Klienten besondere Aufmerksamkeit.

Für jeden Motivbereich werden hier verschiedene, alternative Begriffe (z. B.: Leistung, Kompetenzerleben) vorgeschlagen, um es dem Klienten zu erleichtern, die für sich passenden Begriffe zu finden und die angesprochenen Motivbereiche nicht nur analytisch zu verstehen, sondern auch mit Erfahrungswissen zu koppeln und damit ein „Gefühl“ für die verschiedenen Motive zu bekommen.

Neben der Dimension der vier psychologischen Motive – ergänzt durch „Körper“ – wurde als zweite Dimension entsprechend der klassischen Work-Life-Konzeptionen eine Einteilung nach folgenden Lebensbereichen vorgenommen:

  • Beruf/Karriere/Wissenschaft
  • Familie
  • Freunde/Sozialkontakte
  • weitere Lebensbereiche (Freizeitinteressen, Ehrenamt …)

Es wird angenommen, dass alle Lebensbereiche einen Raum zur Erfüllung wichtiger Motive sein können. Wenn man die Lebensbereiche und die Motive gleichzeitig betrachtet, zeigt sich ein ganzes Motivrad (s. Abb. 1).

Ablauf

Im ersten Schritt befassen sich Klient und Coach mit den psychologischen Motiven. Der Coach erläutert die Motive und es werden gemeinsam Beispiele für Situationen aus der Erfahrungswelt des Klienten gesucht, in denen diese Motive erlebbar werden.

Im nächsten Schritt „durchlaufen“ Klient und Coach gemeinsam die fünf Motive. Der Klient ist dabei aufgefordert, einzuschätzen, inwieweit ein Motiv (z. B.: Zugehörigkeit/ Beziehung/Bindung) in den verschiedenen Lebensbereichen realisiert/erfüllt wird. Seine Einschätzung markiert er auf dem Motivrad wie folgt:

  • Innerer Kreis: Das Motiv wird in diesem Lebensbereich in hohem Maße verwirklicht.
  • Mittlerer Kreis: Das Motiv wird in diesem Lebensbereich in mittlerem Maße verwirklicht.
  • Äußerer Kreis: Das Motiv wird in diesem Lebensbereich kaum/wenig verwirklicht.

Der Coach unterstützt den Prozess der Einschätzung durch hilfreiche Fragen (z. B.: Bindung/Zugehörigkeitsmotiv):

  • Denken Sie zunächst einmal an das Zugehörigkeitsmotiv. 
  • Was bedeutet das für Sie? 
  • Worin zeigt sich Zugehörigkeit? 
  • In welchen Lebensbereichen haben Sie gute/hilfreiche Beziehungen? 
  • Wozu fühlen Sie sich zugehörig? (Familie, Freundeskreis, Arbeitgeber, Wissenschaftsgemeinschaft, Netzwerke …)?

Klient und Coach gehen mithilfe dieser und ähnlicher Fragen die Motive durch, wobei der Klient seine Einschätzung anhand des Kreises in der Abbildung vornimmt. Dieser Prozess der Selbstreflexion wird unterstützt, indem der Coach dem Klienten ausreichend Zeit lässt, keinerlei Wertungen vornimmt, sich selbst zurücknimmt und die Äußerungen des Klienten wertschätzend aufgreift.

Variation 1

Eine Variation dieses Vorgehens besteht darin, den Reflexionsprozess mit Bodenankern zu unterstützen. Das bedeutet: Der Motivkreis wird durch entsprechende Positionen im Raum nachgebildet, etwa mit Moderationskarten oder Stühlen, die die jeweiligen Motive repräsentieren. Der Klient „durchläuft“ damit tatsächlich auch räumlich den Motivkreis, was die Intensität der Übung erhöht.

Variation 2

Je nach Ausbildung und Erfahrung des Coachs kann der Prozess in der Variation mit Bodenankern oder Stühlen auch als „Dialog mit den Motiven“ gestaltet werden. In diesem Fall identifiziert sich der Klient zunächst mit dem jeweiligen Motiv (z. B.: Bindung/Zugehörigkeit). Anschließend geht der Coach einen kurzen, wertschätzenden Dialog mit diesem Motiv ein.

Sind alle Motive auf diese Art erkundet und anhand der Abbildung eingestuft, wechseln Coach und Klient auf die Metaebene und reflektieren die Erfahrungen des Klienten. Hilfreich sind dabei folgende Fragen:

  • Wie haben Sie diese Übung erlebt? 
  • Was ist Ihnen aufgefallen? 
  • Auf welcher Position (auf welchem Motiv) haben Sie sich am wohlsten gefühlt? 
  • Zu welchem Motiv hatten Sie einen besonders guten Kontakt? 
  • Welche Motive werden – über alle Lebensbereiche betrachtet – bereits sehr gut erfüllt? 
  • Gibt es Motive, die insgesamt „zu kurz kommen“? Was heißt das? Wie können Sie diesen mehr Raum geben? 
  • Welche Lebensbereiche sind eine wichtige Quelle für Zufriedenheit? 
  • Womit sind Sie insgesamt zufrieden? Was ist gut balanciert? Wofür sind Sie dankbar? Worauf sind Sie stolz? Was kann so bleiben, wie es ist? 
  • Welche Veränderung würde Ihnen gut tun?

Was wäre ein erster konkreter Veränderungsschritt?

Mit diesen und ähnlichen Fragen kann der Klient unter Würdigung und Wertschätzung seiner Arbeits- und Lebenssituation erste konkrete Veränderungsschritte ableiten.

motivorientierte-lebensbalance-motivrad

Abb. 1: Motivrad

Anwendungsfall

Mit einem verkürzten Fallbeispiel soll die Vorgehensweise verdeutlicht werden: Eine Klientin, 42 Jahre alt, Wissenschaftlerin auf dem Weg zur Professur, berichtet von Überlastungserfahrungen, dem Gefühl von Druck und Stress, der Erfahrung, zu wenig Zeit für sich zu haben und der Sorge, ihrem dreijährigen Sohn nicht gerecht zu werden.

Wir führen die Übung „Motivorientierte Lebensbalance“ mit Bodenankern durch, wobei der Coach einen Dialog mit den Motiven eingeht. Es zeigt sich während der Übung und in der anschließenden Reflexion der Erfahrungen, dass Bindung, Leistung und Autonomiebedürfnis der Klientin ausreichend erfüllt sind. Der Lebensbereich „Karriere/Wissenschaft“ beispielsweise erfüllt ihr Autonomiebedürfnis (selbstbestimmte Forschung), aber auch ihr Leistungsmotiv und den Wunsch nach Anerkennung. Ebenso erlebt sie durch ihre Arbeitsgruppe sowie durch internationale Netzwerke ihres Forschungsgebietes Erfahrungen von Zugehörigkeit.

Als schwieriger erlebt sie den familiären Bereich. Die Betreuung des dreijährigen Sohnes muss wegen häufiger Reise- und Pendlertätigkeiten regelmäßig zwischen ihr und ihrem Partner abgestimmt werden. Dabei hat sie oft das Gefühl, zu wenig Zeit für sich selbst zu haben und auch ihrem Kind nicht gerecht zu werden.

Die Arbeit mit dem Motivrad kann zwar die oft konflikthafte Beziehung zwischen Karrierestreben und familiären Anforderungen nicht aufheben, konnte jedoch – in diesem Fall eine Umbewertung der familiären Situation anregen. Vor dem Hintergrund einer Wertschätzung der Freiheiten und Privilegien, die ihre wissenschaftliche Arbeit erlaubt, fällt es der Klientin leichter, die Einschränkungen ihres Autonomiebedürfnisses im familiären Bereich, wie sie die Betreuung eine Kleinkindes und die erforderlichen Absprachen mit dem Partner mit sich bringen, in Kauf zu nehmen.

Als Entlastung erlebt sie zudem die Möglichkeit, ihr ausgeprägtes Leistungsmotiv im Bereich Karriere „auszutoben“ und private Lebensbereiche von den hohen Leistungsstandards zu entlasten. Deutlicher Veränderungsbedarf erlebte sie im Bereich „Körper, Erholung, Entspannung“, der im Dialog mit diesem Bedürfnis spürbar wurde. Hier entwickelt die Klientin konkrete Veränderungsschritte, die es ihr erlauben, mehr Zeit für sich, Entspannung, Bewegung und Ruhe zu finden, dies allerdings ohne die „Leistungsbrille“, wie sie selbst anmerkt.

Voraussetzung/Kenntnisse

Wie das Fallbeispiel zeigt, ist das Tool „Motivorientierte Lebensbalance“ kein starres Gerüst, sondern eine kreative Zugangsweise, die je nach Anliegen des Klienten und Erfahrung/ Ausbildung des Coachs mal mehr kognitiv, mal eher erfahrungsbezogen akzentuiert werden kann.

Das Tool setzt eine wertschätzende und nicht wertende Haltung gegenüber der Lebensgestaltung des Klienten voraus. Eine lösungs- und ressourcenorientierte Perspektive des Coachs ist Voraussetzung dafür, dass die Anwendung des Tools nicht in einem unproduktiven „Problemsog“ mündet, sondern unter Würdigung der positiven Aspekte der aktuellen Lebenssituation gezielt Ideen für hilfreiche Veränderungen abgeleitet werden. Erfahrungen mit Methoden des Psychodramas oder mit dem „inneren Team“ sind ebenfalls hilfreich, um mit dem Tool nicht nur die kognitive Ebene, sondern auch die affektive Ebene beziehungsweise die Ebene des impliziten Erfahrungswissens des Klienten anzusprechen.

Persönlicher Kommentar

Es empfiehlt sich, das Tool einmal selbst oder in kollegialem Peer-Coaching ausprobiert zu haben.

Technische Hinweise

Es sollte ausreichend Zeit (etwa zwei Stunden) eingeplant werden. Als Material sollten die Abbildung des Motivrades sowie bei Bedarf Moderationskarten für die Bodenanker zur Verfügung stehen. Bei der Anwendung in Gruppen sollte eine schriftliche Instruktion mit schrittweiser Anleitung vorbereitet werden.

Literatur

  • Baumeister, R. F. & Leary, M. R. (1995). The need to belong: Desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychological Bulletin, 3, 117, S. 497-529. 
  • Gere, J. & MacDonald, G. (2010). An Update of the Empirical Case for the Need to Belong. The Journal of Individual Psychology, 1, 66, S. 93-115. 
  • Heckhausen, J. & Heckhausen, H. (2007). Motivation und Handeln. Heidelberg: Springer. 
  • Schmidt-Lellek, C. (2006). Ein heuristisches Modell zur Work-Life-Balance: Vier Dimensionen des Tätigseins. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 1, 14, S. 29-40. 
  • Strehlau, A. (2008). Life Balance und Selbststeuerungskompeten zen. Eine Untersuchung mit Implikationen für Coaching und Beratung. Saarbrücken: VDM Verlag.

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