Methoden

Zirkuläre Fragen 2.0. Teil 2

Typen zirkulärer Fragen

Zirkuläre Fragen sind sowohl im Coaching als auch in der Führungsarbeit ein wirksames Interventionsinstrument, das zur Anregung von Reflexion geeignet ist. Im ersten Teil dieses zweiteiligen Artikels, der in Ausgabe 2/2021 des Coaching-Magazins erschien, wurde der Begriff der Zirkularität näher beleuchtet, um ein Modell zirkulärer Fragen abzuleiten. Im zweiten Teil sollen im Modell dargestellte Typen zirkulärer Fragen näher erläutert und anhand praxisbezogener Beispiele illustriert werden.

18 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2021 am 08.09.2021

In Teil 1 dieses Beitrages (Patrzek, 2021) wurde ein erweitertes Modell zirkulärer Fragen dargelegt. Nachfolgend werden Fragetypen vorgestellt, die sich aus diesem Konzept ergeben und – je nach Situation und Anliegen – im Coaching nützlich sein können.

Allgemeine Fragen zu Unterschieden

Den Anfang macht die Frage nach Unterschieden, die durch diese Frage entstehen. Dieser Aspekt nimmt im dargestellten Konzept eine zentrale Stellung ein, da sie unmittelbar mit dem zirkulären Ansatz verbunden ist: Die Fragen sind nie Selbstzweck, sondern sollen immer Unterschiede generieren und für Unterschiede sensibilisieren.

Der Grundgedanke ist, dass wir oft in einer Art Problemtrance stecken und die Situation als unveränderbar wahrnehmen. Veränderungen entstehen aber aus dem Bewusstsein, dass andere Gedanken, Gefühle oder Handlungen zu Unterschieden führen, die – auch wenn sie anfangs fast unmerklich klein erscheinen – relevant sind, weil sie einen ersten Auslöseimpuls für weitere Veränderungsschritte darstellen können. Somit kann man diese Frage auch als Zu- bzw. Nachsatz zu allen folgenden Fragetypen einsetzen.

Beispiel: Die eigentliche zirkuläre Frage (hypothetische Frage zur Zukunft) lautet: „Was würde passieren, wenn Ihr Kollege zufriedener mit seiner Aufgabe wäre?“ Mögliche Unterschiedsfragen wären:

  • Welchen Unterschied würde das für Sie machen?
  • Woran würden Sie zuerst merken, dass es einen Unterschied für Sie macht?
  • Wie wichtig ist dieser Unterschied für Sie? (evtl. mit skalierender Frage verbinden)
  • Woran würde Ihr Kollege merken, dass es einen Unterschied für Sie macht?
  • Woran würden Personen aus Ihrem Umfeld merken, dass es einen Unterschied für Sie macht?

Skalierende Fragen

Skalierende Fragen werden in vielen Fachbüchern – neben hypothetischen und zirkulären Fragen – als dritte typische Art systemischer Fragen gesehen. Dies ergibt durchaus Sinn. In einem erweiterten Sinne sind sie aber „zirkuläre“ Fragen, da sie den eigenen Bewertungsrahmen der Reflexion zuführen sollen, der ja maßgeblich für die Bewertung anderer Personen ist. Besonders gut sind sie in Verbindung mit Fragen nach Unterschieden einsetzbar. Beispiele:

  • Auf einer Skala von 1 (extrem wenig) bis 10 (maximal viel): Als wie effektiv erleben Sie aktuell die Zusammenarbeit mit Ihrer Kollegin? (angenommen, die Antwort ist 5)
  • Folgefrage: Woran machen Sie das im Detail fest?
  • Folgefrage: Was müsste passieren, dass es einen Unterschied für Sie macht, der auch skalenmäßig fassbar wäre?
  • Alternativfrage: Was müssten Sie tun, damit Sie auf eine 6 kämen?
  • Alternativfrage: Was vermuten Sie, wie Ihre Kollegin das auf derselben Skala bewertet?

An der vorletzten (hypothetisch formulierten) Frage ist zu erkennen, dass sich die verschiedenen Fragarten auch oft überlappen. Auch an der letzten Frage, die perspektivisch formuliert ist, wird diese Verzahnung sichtbar.

Auch wenn skalierende Fragen oft in dieser Form gestellt werden (mit einer Reihung von 1 bis 10), gibt es eine große Vielfalt anderer „Skalierungen“:

  • Fragen nach prozentualen Anteilen: Zu wie viel Prozent verhält sich Ihre Kollegin kooperativ, zu wie viel nicht?
  • Fragen nach Best- oder Worst-Case-Momenten: Was waren die beiden schlimmsten Erfahrungen im Kontakt mit ihr?
  • Fragen nach Rangreihen: Was sind aus Ihrer Sicht ihre drei wichtigsten Kompetenzen?

Direkte Fragen zu Unterschieden

Unterschiede sind – zumindest wenn sie die eigene Person einbeziehen – per se zirkulär, da sie die eigene und die fremde Position gegenüberstellend vergleichen. Fast jeder Unterschied kann zur näheren Bestimmung auch mit einer Skalierung hinterlegt werden. Beispiele:

  • Was unterscheidet Sie beide?
  • Was haben Sie – trotz aller Unterschiede – gemeinsam?
  • Was unterscheidet Sie beide von einem Dritten?
  • Wem aus Ihrer Umgebung fallen diese Unterschiede besonders auf?
  • Was könnten Sie tun, um diesen Unterschied ein kleines Stück zu reduzieren?
  • Woran würden Sie zuerst merken, dass dieser Unterschied für Ihr Gegenüber auch einen Unterschied macht?
  • Wie könnten Sie durch Ihr Verhalten Ihrem Gegenüber signalisieren, dass Sie diesen Unterschied in seinem Verhalten positiv bemerkt haben?
  • Woran würden Sie beide zuerst merken – auch wenn es nur ein kleines Detail wäre –, dass Ihre direkte Umgebung einen Unterschied in der Kommunikation zwischen Ihnen beiden bemerkt?
  • Was müsste zwischen Ihnen beiden passieren, dass dieser klitzekleine Unterschied sofort wieder in Frage gestellt wird?
  • Wenn Sie das Gemeinsame und den Unterschied zwischen Ihnen grafisch darstellen würden – quasi mit einer Art Mengen-Diagramm: Wie viel Prozent hätten Sie wohl gemeinsam, wie viel Unterschiedlichkeit?
  • Welchen Unterschied würde es für Sie machen, wenn dieser Unterschied zwischen Ihnen beiden größer werden würde?

Fragen zu Auswirkungen von Konzepten

Eigenes Erleben und Verhalten basiert – bewusst und unbewusst – auf eigenen Konzepten. Ändern sich die Konzepte, ändern sich das Erleben und das Verhalten. Mit dieser Art von Fragen will man den Gesprächspartner für diesen Zusammenhang sensibilisieren. Beispiele:

  • Was glauben Sie, was andere Personen besonders an Ihnen schätzen?
  • Welcher Ihrer Eigenschaften verdanken Sie es, dass Sie so gut mit dem schwierigen Kunden auskommen?
  • Welcher Ihrer Eigenschaften „verdanken“ Sie es, dass Sie immer wieder mit eher schwierigen Kunden in Konflikte geraten?
  • Worauf legen Sie im Austausch mit anderen Kollegen besonderen Wert?
  • Was wird Ihnen von Ihrem Umfeld immer wieder als eine Ihrer Stärken gespiegelt?
  • Welche Erwartungen sind für Sie handlungsleitend im Kontakt mit Ihrer Umwelt?
  • Welches Ihrer Motive empfinden Sie als besonders zentral?
  • Welches Ihrer Muster fällt Ihnen laufend auf die Füße?
  • Welchem inneren Drehbuch scheinen viele Ihrer Konflikte zu folgen?
  • In welchem Film finden Sie sich wieder?
  • Wenn Sie Weltmeister im Heraufbeschwören von Konflikten werden wollten, welche Ihrer Eigenschaften müssten Sie verstärken?

Besonders die letzten Fragen verdeutlichen, dass dieser Fragentyp Überschneidungen mit metaphorischen bzw. leicht provokanten und paradoxen Fragen aufweisen kann.

Meta-Fragen zur Zirkularität

Diese Fragen thematisieren Grundannahmen und zentrale Gedanken der Zirkularität direkt. Oftmals kann man sie auch in Form von kleinen Geschichten darbieten, damit sie nicht zu „schulmeisterlich“ wirken. Ob und wann man sie einsetzt, bedarf natürlich viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung. Beispiele:

Kluger-Kopf-Frage

Die Frage kann lauten: „Ein kluger Kopf hat einmal sinngemäß gesagt, dass Menschen nicht darauf reagieren, was der andere tut, sondern was sie dahinter als Absicht vermuten. Inwieweit spiegelt sich dies in der Interaktion mit B?“ Hieran können sich folgende Fragen anschließen:

  • Was können Sie mit diesem Satz anfangen?
  • Inwieweit bestimmt ein solches Verhalten – zumindest in kleinen Stücken – manchmal Ihr Verhalten B gegenüber?
  • Wie könnten Sie herausfinden, was B wirklich über Sie denkt?
  • Welchen Unterschied in Ihrem Verhalten würde dies machen?
  • Was müsste B tun, damit Sie Ihre Vermutung über seine Absicht ändern könnten?
  • Welchen Unterschied würde dies für Sie machen?
  • Woran würde B merken, dass es für Sie einen Unterschied macht?

Bildhaft metaphorische Frage

Unter Verwendung von Metaphern können Fragen zur Zirkularität bildhaft eingeleitet werden: „Ein Kollege von mir – der gerne segelt – hat dafür einmal ein Bild benutzt: Viele Kommunikationsmuster im Betrieb zwischen Kollegen erinnern an zwei Segler im aufkommenden Sturm, von denen sich jeder ein Stück nach außen lehnt, um das Schiff zu stabilisieren, der andere reagiert darauf, der andere wieder usw. Am Ende sind beide fast maximal nach außen gelehnt, um das Schiff zu stabilisieren, was letztendlich auch gelingt, aber mit sehr viel Kraftaufwand. Man käme zu dem gleichen Ergebnis, wenn beide sich wieder grade hinsetzen. In welchen Momenten haben Sie das Gefühl, dass der Kontakt mit B auch nach diesem Schema abläuft?“ Folgefragen können lauten:

  • Woran machen Sie das fest?
  • An welcher Stelle würde es noch einen Unterschied machen, wenn Sie anders handeln?
  • Wie könnte für Sie eine erste Gelegenheit aussehen, sich ein wenig zurückzulehnen?
  • Wie viel Zeit würden Sie B geben, um darauf zu reagieren?

Fragen zu Außenperspektiven

Fragen, bei denen die Außensicht einer oder mehrerer Personen einbezogen wird, werden klassischerweise als zirkulär bezeichnet. Diese Fragen stellen nach wie vor das Herzstück zirkulären Fragens dar und sind in ihrer Bedeutung auch nicht zu überschätzen. Folgende „warnende“ Aspekte sind aber vorauszuschicken:

Fragen wie „Was glauben Sie, wie B das sieht?“ werden allzu leicht dazu benutzt, um gegenüber dem Befragten erzieherisch tätig zu werden. Nach dem Motto: „Das können Sie doch nicht machen! Was soll denn der andere dazu sagen?“ Der Fragende legt dem Befragten die Nicht-Angemessenheit einer Handlung durch die neu eingeführte Sicht einer anderen Person nahe. Dies ist nicht zielführend.

Ideal wäre es, wenn der Fragende keine klare Vorstellung darüber hat, wie der Zirkulär-Integrierte antworten würde. Was unmöglich ist, da wir immer Hypothesen darüber bilden.

Gleichwohl wird hier die Meinung vertreten, dass die zirkuläre Frage umso besser ist, desto weniger eine bestimmte Sichtweise a priori unterstellt wird. Erfahrungsgemäß wirkt sich diese „Vagheit“ auch auf die Stimme des Fragenden aus: Sie wirkt um Nuancen weniger „bestimmend“.

Wenig sinnvoll ist es auch, zu viele zirkuläre Perspektivfragen in dichter Reihenfolge nacheinander einzusetzen. Sie wirken dann oft zu bedrängend und verwirrend. Je komplexer die Frage wird (d.h. zumeist, umso mehr Personen man einbezieht), desto schwieriger ist die Frage für das Gegenüber zu verstehen. „Was meinen Sie, was B sagen würde, was C sagt, wenn man D fragen würde, was E über das Verhalten von F gegenüber G sagen würde?“ Fragen wie diese mögen zwar für das Vorstellungsvermögen des Fragenden sprechen, jedoch sind sie ansonsten bestenfalls ineffektiv.

Auf die Formulierung kommt es an: Es macht einen Unterschied, welche der beiden folgenden Varianten man wählt:

  • Was vermuten Sie, wie Ihr Kollege Ihr Verhalten einschätzt?
  • Wenn ich Ihren Kollegen fragen würde, wie er Sie einschätzt, was würde er mir sagen?

Die zweite Frage klingt subjektiv betrachtet wesentlich „investigativer“. Da zirkulär-perspektivische Fragen per se relativ „dominant“ wirken, empfiehlt es sich generell, deren Formulierung etwas „weicher“ zu gestalten: über die Länge und die Wortwahl. Die besten Erfahrungen machte der Autor mit ganz einfachen umgangssprachlichen Konstruktionen: „Und was meinen Sie, wie er Sie sieht?“

Nun gibt es natürlich – wie bei den anderen Fragen – eine schier unendliche Fülle von Konstruktionsmöglichkeiten. An dieser Stelle sollen einige zentrale aufgeführt und jeweils bestimmten Ansätzen/Kategorien zugeordnet werden.

Fragen zu Sachen/Gegenständen/Konzepten aus der Sicht Dritter:

  • Was vermuten Sie, wie Ihr Kollege diesen Sachverhalt einschätzt?
  • Wie sieht Ihr Chef wohl den Projekt-Fortschritt?

Fragen zu Personen aus der Sicht Dritter (allgemein und offen):

  • Was vermuten Sie, wie Ihr Kollege A den Kollegen B sieht?
  • Wie schätzt Ihr Lieferant die Situation des Kunden ein?

Fragen zu Personen (allgemein und offen):

  • Was vermuten Sie, welche Befürchtung hinter dem Verhalten von B Ihnen gegenüber steckt?
  • Was glauben Sie, würde Ihre Mitarbeiter besonders motivieren, das Projekt zu Ende zu bringen?

Fragen zu Personen aus der Sicht Dritter (verhaltens-/konzeptfokussiert):

  • Was vermuten Sie, wie Ihr Kollege A die Fachkompetenz von Kollege B sieht?
  • Wie schätzt Ihr Lieferant die Liquiditätssituation des Kunden ein?

Fragen zu Inneren Anteilen der eigenen Person (vgl. Konzept des Inneren Teams nach Schulz von Thun, 2013):

  • Was meinen Sie, welcher Anteil Ihres Inneren Teams hier besonders rebellieren würde?
  • Was vermuten Sie, welcher innere Konflikt zwischen zwei Anteilen Ihres Inneren Teams hier sichtbar werden könnte?

Reziproke Fragen zur Person des Befragten (allgemein):

  • Was vermuten Sie, wie Ihr Kollege Sie sieht?
  • Was schätzen Sie, wie Ihre Kollegen Sie im Team sehen?

Reziproke Fragen zur Person des Befragten (bezogen auf Interaktion):

  • Was vermuten Sie, wie Ihr Kollege das Verhältnis zwischen Ihnen beiden einschätzt?
  • Was schätzen Sie, wie Ihre Kollegen Ihre Rolle im Team sehen?

Fragen, die direkt einen Unterschied einführen:

  • Was unterscheidet Sie und Ihren Kollegen in der Sicht auf den Projekterfolg?
  • Welche Unterschiede in der Art zu kommunizieren werden hier womöglich sichtbar?

Rekursive Fragen zur Person des Befragten:

  • Was vermuten Sie, wie Ihr Kollege Sie sieht?
  • Was glauben Sie, schätzt Ihr Chef an Ihnen besonders?

Rekursive Fragen zur Person des Befragten aus Sicht des Fragenden:

  • Was vermuten Sie, wie ich Ihr Verhalten einschätze?
  • Was glauben Sie, hat mich besonders überrascht?

Reziprok-perspektivische Fragen zur Sicht Dritter:

  • Wer in Ihrem Umfeld sieht das Projekt wohl besonders kritisch?
  • Wen in Ihrem Team müsste man fragen, um eine besonders positive Sicht auf die Dinge zu erhalten?

Folgefragen

Natürlich wäre noch eine Vielzahl weiterer Ansätze denkbar. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Umgang mit der Antwort bzw. die Wahl der Folgefragen. Die perspektivische Frage stellt nämlich oftmals „nur“ so etwas wie den ersten Türöffner zu neuen Perspektiven und Unterschieden dar. Dabei lassen sich diese Folgeschritte unterscheiden: Fragen nach dem Zustandekommen der Antwort (Hintergründe), nach der Bewertung bzw. dem Unterschied und möglichen Folgen, die einen Unterschied machen. Beispiele für Antwort-Sequenzen …

… bezogen auf die Hintergründe:

  • Woran machen Sie das fest?
  • Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
  • Was lässt Sie das vermuten?
  • Woraus schließen Sie das?
  • Wie erklären Sie sich das?
  • Worin vermuten Sie die Ursachen?
  • Was lässt Sie da so sicher sein?

… bezogen auf die Bewertung bzw. Unterschiedlichkeit:

  • Auf einer Skala von 1 (wenig) bis 10 (maximal viel): Wie groß sehen Sie den Unterschied?
  • In Prozent ausgedrückt: Wie viel Gemeinsamkeit besteht hier zwischen Ihnen?
  • Als wie bedeutsam schätzen Sie die Unterschiede ein?
  • Wie wichtig sind Ihnen diese Unterschiede?

… bezogen auf die Folgen:

  • Was könnten Sie tun, um das ein Stück zu verändern?
  • Woran würden Sie eine erste Veränderung bemerken?
  • Was könnten Sie zu einer Stabilisierung beitragen?
  • Was würde einen Unterschied machen?
  • Welchen kleinen Unterschied in Ihrem Verhalten könnten Sie vornehmen, um eine andere Wirkung zu erzielen?
  • Stellen Sie sich vor, Sie würden im nächsten Meeting Ihren Kollegen vorab über Ihre Kernthesen informieren, was meinen Sie, wie er sich verhalten würde?
Verhältnis skalierender, zirkulärer und hypothetischer Fragen

Abb.: Verhältnis skalierender, zirkulärer und hypothetischer Fragen

Hypothetische Fragen

Die letzte Frage führt ein Als-ob-Szenario ein. Sie ist also von der Konstruktion her eine hypothetische Frage. An dieser Stelle werden die Ähnlichkeiten zwischen zirkulären und hypothetischen Fragen sichtbar: Zum einen ist die zirkuläre Frage auch eine Form der hypothetischen Frage, da sie die vermuteten – also fiktiven – Antworten dritter Personen fokussiert. Basis ist die Vorstellung. Eine hypothetische Frage ist in diesem Sinne eine dynamische Erweiterung der zirkulären Frage: Sie bringt eine Veränderung, einen Unterschied ein, um dann wiederum die Folgen, die vermutete Fremdsicht – also die Auswirkungen in der imaginierten Interaktion – zu evaluieren. So betrachtet sind hypothetische Fragen als kristallisierte Unterschiedsfragen zu verstehen.

Hypothetische Fragen können unter den verschiedensten Blickwinkeln konstruiert werden. Dies betrifft sowohl …

  • die Art und Weise des „imaginierten Ereignisses“ („Stellen Sie sich vor, Ihr Chef befördert Sie …“, „Stellen Sie sich vor, das Zinsniveau verändert sich …“ ),
  • dessen Zeitpunkt („Stellen Sie sich vor, Ihr Chef befördert Sie in einem halben Jahr / morgen …“ ),
  • die Folgen („Was bedeutet dies …?“, „Welche Reaktion erwarten Sie?“),
  • die betroffene Person („Was bedeutet das für Sie?“, „Was bedeutet das für Ihre Kollegen?“) und
  • ggf. weitere Aspekte.

Hypothetische Fragen eröffnen einen eigenen Kosmos an Möglichkeiten. Sinnvoll erscheint an dieser Stelle eine erste Segmentierung nach den Verbindungen zu perspektivisch-zirkulären Fragen:

Hypothetische Wechselwirkungen:

  • Angenommen Sie verhielten sich ab sofort sehr kooperativ, wie würden Ihre Mitarbeiter reagieren?
  • Angenommen Sie würden Ihre Aufgaben neu verteilen, wie würde Ihr Chef reagieren?
  • Und welche Rückwirkungen hätten diese Reaktionen wiederum auf Ihr Verhalten?

Hypothetische Prüfung von Auswirkungen:

  • Angenommen Sie würden das nun in Angriff nehmen, was würde Ihr Chef als nächstes tun?
  • Angenommen Sie setzen diese Strategie um, welche Auswirkungen hat dies auf die Kundenbeziehungen?

Hypothetische Dissoziationsverfahren:

  • Angenommen es käme jemand in den Raum, der keinerlei Expertise in dieser Angelegenheit hat, was würde dieser zu dem Problem sagen?
  • Angenommen wir würden ihre Mitarbeiter in die Frage miteinbeziehen, was wäre diesen wichtig?

Hypothetische Ziel-Weg-Verknüpfung:

  • Angenommen Sie würden in einem Jahr auf die Erreichung Ihres Ziels zurückblicken, welche Meilensteine wären auf diesem Weg für Sie besonders wichtig gewesen?
  • Stellen Sie sich vor, Sie haben in einem Jahr Ihr Ziel endlich erreicht und blicken zurück: Welchen aufmunternden Tipp würden Sie sich geben?

Hypothetischer Personen-(Sicht-)Wechsel:

  • Nehmen wir an, der Vorstand wäre Ihr Mitarbeiter. Was würden Sie dann zu ihm bezüglich seines Verhaltens sagen?
  • Nehmen wir an, nicht Sie, sondern Ihr Kollege aus dem Vertrieb würde das Gespräch mit Ihrem Chef beginnen: Was würde er sagen?
  • Was wäre der Unterschied?

Hypothetische Wunder-Problemlöse-Frage – Wunderfrage als last remedy question:

  • Klassische Version nach Steve de Shazer (2018): Nehmen wir an, Sie steigen wie immer am Abend in Ihr Bett und schlafen ein. Und in der Nacht geschieht ein Wunder. Einfach so. Ihr Problem mit Ihrem Kollegen ist gelöst. Wenn Sie dann morgens ins Büro kommen, woran werden Sie das zuerst merken?
  • Alltagsvariante: Stellen Sie sich vor, Sie verfügen plötzlich über unbegrenzte Ressourcen und können Wunder bewirken: Was würden Sie zuerst in Ihrem Unternehmen ändern, um es effektiver zu gestalten?

Anmerkung: Die Wunderfrage wurde ursprünglich von de Shazer eingesetzt, um bei Patienten, die sich als eher veränderungsresistent erweisen, dennoch ein kleines Gefühl für mögliche Veränderungen (also einen Unterschied) zu initiieren (de Shazer, 2018). Es war für ihn also ursprünglich ein Ultima-Ratio-Werkzeug. In der Zwischenzeit wurde es zwar auch von ihm und kompetenten Kollegen häufiger eingesetzt, einer inflationären Verwendung in jedem Gespräch steht der Autor dieses Artikels allerdings eher skeptisch gegenüber.

Als zirkulärer Schlussstein soll an dieser Stelle nochmals das Konzept der Unterschiedlichkeit als zentrales Merkmal des systemischen Fragens neben der Zirkularität hervorgehoben werden: Wie Fritz Simon (Simon & Rech-Simon, 1999) sagt, geht es primär darum, in den Fragen Unterschiede zu finden, die Unterschiede machen, neue Perspektiven eröffnen und Impulse für Veränderungen geben.

Zirkulär-perspektivische Fragen führen eine erste Unterschiedlichkeit ein: die vermutete Perspektive einer anderen Person. Hypothetische Fragen erzeugen eine Unterschiedlichkeit in der Situation, die wiederum zu Unterschiedlichkeit in der vermuteten Fremdwahrnehmung führen kann. Und skalierende Fragen wiederum sind ein zentrales Instrument zur Begreifbar- und Handhabbarmachung der Unterschiede. Sie können am Anfang einer Fragesequenz stehen, immer wieder zwischengeschaltet werden oder als Überleitung zu zirkulären oder hypothetischen Fragen dienen (siehe Abb.). Und sollte es einmal überraschender Weise keine Unterschiedlichkeit zwischen zwei Personen, Situationen oder Konzepten geben, so ist dies auch wieder eine Frage wert.


Im ersten Teil dieses Beitrages (Coaching-Magazin 3/2021) legt Andreas Patrzek ein erweitertes Modell zirkulärer Fragen dar.

Literatur

  • de Shazer, S. (2018). Der Dreh. Heidelberg: Carl Auer.
  • Patrzek, A. (2021). Zirkuläre Fragen 2.0. Teil 1. Coaching-Magazin, 14(2), S. 21–26.
  • Patrzek, A. (2016). Systemisches Fragen. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer.
  • Schulz von Thun, F. (2013). Miteinander reden, Band 3. Reinbek: Rowohlt.
  • Simon, F. B. & Rech-Simon, C. (1999). Zirkuläres Fragen. Heidelberg: Carl Auer.

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