Wissenschaft

Virtual und Mixed Reality im Business-Coaching

Sicherung und Beschleunigung des Lerntransfers

Onlinebasiertes Coaching ist aufgrund der Coronavirus-Pandemie in aller Munde. Zumeist ist dabei von Video-Coaching die Rede. Die Bandbreite digital gestützter Anwendungen, die im Coaching genutzt werden können, ist jedoch größer und umfasst die Nutzung von Virtual und Mixed Reality. U.a. im Bereich der Psychotherapie kommen entsprechende Technologien bereits zum Einsatz. Im Coaching können sie die Sicherung und Beschleunigung des Lerntransfers begünstigen, wie im Rahmen der hier vorgestellten Forschungsarbeit in Erfahrung gebracht wurde.

8 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2021 am 24.02.2021

Die Pandemie um COVID-19 hat das weltweite Zusammenarbeiten grundlegend verändert. Lern- und Arbeitsprozesse wurden virtualisiert. Meetings aus dem Homeoffice und Fernunterricht sind gezwungenermaßen State of the Art. Krisen wirken wie eine Art Turbo auf technische Entwicklungen, um die neuartigen Herausforderungen zu überwinden. Jüngst befindet sich eine neue Technologie kurz vor dem gesellschaftlichen Durchbruch: Virtual und Mixed Reality.

Mithilfe einer Art Computerbrille wird eine virtuelle Realität erzeugt, die sich individuell programmieren lässt. Durch diese Simulation bekommt der Anwender die Möglichkeit, sich in nahezu jede Situation zu begeben, ohne seine „vier Wände“ verlassen zu müssen. Betrachtet man die Möglichkeiten dieser Technologie, lässt sich das Potenzial derselben bestenfalls unterschätzen, um nur einige zu nennen: Meetings an virtuellen Orten ermöglichen mehr Interaktionen und dadurch ein stärkeres Präsenzgefühl sowie Empathie, da die Anwesenden – durch Avatare dargestellt – mittels VR-Controller Bewegungen wiedergeben können. Simulationen lassen sich beliebig oft wiederholen, wodurch der Zeitaufwand für Lernprozesse enorm verkürzt wird. Es lassen sich Situationen darstellen, die in der Realität nur schwer zugänglich sind wie beispielsweise Vorträge vor großem Publikum.

Als Arbeitsthema meiner Master-Thesis an der EURO-FH habe ich mir die Frage gestellt, was diese Technologie für das Business-Coaching bedeutet. Coaching strebt eine Handlungsorientierung an, weshalb die Umsetzungshilfe in ihm ihren festen Platz hat (Bachmann & Steinke, 2019). Die Umsetzungshilfe beinhaltet das Probehandeln, die Lernbegleitung sowie den Transfer (ebd.). Die drei Komponenten lassen sich zu einem Schlüsselaspekt zusammenfassen: Lerntransfer. Verzahnt man den Lerntransfer mit den technologischen Entwicklungen und Vorteilen von Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR), lässt sich folgende Forschungsfrage ableiten: Ist die Simulationsgestaltung von Virtual und Mixed Reality im Business-Coaching ein Indikator zur Sicherung und Beschleunigung von Lerntransfers? Diese Fragestellung wurde anhand eines qualitativen Forschungsansatzes erörtert. Die folgenden Ausführungen geben einen Einblick in die Ergebnisse.

Es handelt sich um ein interdisziplinäres Forschungsthema. Um sich der Beantwortung der Fragestellung zu nähern, wurde es daher zunächst in seine Grundbestandteile gesplittet, um jeden für sich betrachten zu können: Lernen ist Grundthematik der Didaktik. VR und AR sind technische Implikationen. Transfer ist Teilbereich des Business-Coachings. Alle drei Bereiche kreuzen sich in der Simulationsgestaltung.

Ein Blick in die virtuelle Realität

Für ein grundlegendes Verständnis gilt es zunächst, drei verschiedene Spielarten der Technologie zu unterscheiden, die der VR-Trainer Torsten Fell (2020) systematisiert: 360°-, Mixed- (MR) und Virtual Reality (VR). MR, als Überbegriff für Augmented Reality (AR), funktioniert mit einer halbtransparenten Brille, die durch Projektionen im Sichtfeld die reale Wirklichkeit anreichert. VR ist eine vollständig computergenerierte Wirklichkeit mittels geschlossener VR-Brille. 360°-Abbildungen und -Videos bilden fotorealistische Umgebungen ab, die mithilfe einer 360°-Kamera aufgenommen werden. Diese können anhand von VR-Brillen wiedergegeben werden und lassen nur eingeschränkte Interaktionen mit der Simulation zu oder können die VR anreichern (Fell, 2020).

Interessant ist, dass VR bereits einen festen Bestandteil der Psychotherapie darstellt. In Expositionstherapien werden Phobien wirksam behandelt, indem die Patienten mit Angst auslösenden Situationen konfrontiert werden. Dabei hat die Wirksamkeitsforschung einen Lerntransfer feststellen können, der jedoch nur spezifischen Phobien zuzuordnen ist (Diemer & Mühlberger, 2019). Weitere Anwendungsszenarien für VR und AR sehen Buehler und Kohne (2020) in vier Segmenten:

  • Trainingswelten (z.B. Nachahmung von Gefahrensituationen ohne reelle Gefahr)
  • Explorationswelten (z.B. Informationsumgebung zur Selbsterkundung)
  • Konstruktionswelten (z.B. Baukreationen durch modulare Objekte)
  • Wahrnehmungswelten (Visualisierung extrem kleiner oder schneller Objekte)

Durch VR und AR kann Erlerntes unmittelbar praktisch angewandt und dadurch verinnerlicht werden. Doch wie ist das möglich? Durch VR- und AR-Brillen bekommt der Anwender die Möglichkeit, in die virtuelle Welt abzutauchen. Interaktionen mit dieser virtuellen Realität – sei es durch Kopfbewegungen, Laufen oder Armbewegungen mit Controllern – vermitteln das Gefühl, „aktiver Teil der wahrgenommenen Welt zu sein“ (Fell, 2020, S. 332). Dieses Phänomen wird Immersion genannt (ebd.). Immersion bezeichnet den Zustand, die virtuelle Welt vollständig zu akzeptieren und als real anzuerkennen. Der Immersionsgrad variiert je nach Anwendung.

Die DNA des Lerntransfers

Lerntransfer ist die Kombination zweier Teilbereiche: Lernen und Transfer. Lernen ist ein Erfahrungsprozess, aus dem eine relativ nachhaltige Änderung des Verhaltens, der Gefühle und Gedanken sowie der Leistung (z.B. Kompetenzen, Haltung) resultieren (Gerrig, 2015; Myers, 2014). Transfer ist der Prozess, bei dem „neu erworbenes Wissen, Inhalte, Kompetenzen in einem Kontext erworben und in einen anderen Kontext übertragen werden“ (Vigerske, 2017, S. 32).

Mit dem Lernen beschäftigt sich die Didaktik als Lehre des Lernens und Lehrens (Riedl, 2004). Diese wiederum ist eng verzahnt mit der Psychologie und lässt sich in drei Schulen klassifizieren: Behaviorismus, Kognition und Konstruktivismus (ebd.).

Welche Implikationen lassen sich anhand der drei Schulen für eine Simulationsgestaltung ableiten? Behavioristisches Lernen fokussiert Verhaltensausprägungen auf Basis von Umwelteinwirkungen und erlernten Reaktionen (Waszkewitz, 2012). Die drei Säulen des Behaviorismus sind das klassische sowie operante Konditionieren und das Beobachtungslernen (Gerrig, 2015; Myers, 2014). Das klassische Konditionieren kann als diagnostisches Hilfsmittel dienen, um „Trigger“ (Hinweisreize) beim Anwender zu identifizieren, die zu unerwünschten Reaktionen führen. Mithilfe von Belohnungssystemen können innerhalb einer Simulation Verstärker zur Ausbildung von gewünschten Verhaltensweisen dienen. Im Sinne des Beobachtungslernens können Modelle (z.B. Vorbilder) in einer Simulation genutzt werden, um Verhaltensweisen nachzubilden.

Kognitivistisches Lernen bezieht sich auf den Wissenserwerb in Form von Informationsaufnahme, -verarbeitung und -speicherung. Weicker (o.D.) sieht die Einbettung von Ziel, Sinn und Sinnzusammenhängen als genauso relevant an, wie die strukturelle Präsentation von Inhalten und das Anknüpfen an Vorwissen. Gleichzeitig sind die beforschten Verarbeitungsstrategien Chunking, Mnemotechniken, Hierarchien und verteilte Übungen als lernrelevant einzustufen (Myers, 2014). Weiterhin ist das elaborierende Wiederholen eine Technik der Gedächtnisspeicherung (Gerrig, 2015). Solche Techniken lassen sich mittels Visualisierungen in VR und AR übersetzen.

Konstruktivistisches Lernen basiert auf der Annahme, dass Wissen individuell konstruiert wird (Weicker, o.D.). Anstatt eines fotografischen Abbildes der Wirklichkeit, wird unsere Wahrnehmung von Gefühlen und Gedanken sowie biografischen Vorerfahrungen und sensorischen Möglichkeiten verzerrt (Riedl, 2004). Laut Weicker (ebd.) bedeutet das eine aktive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff, um Problemlösemethoden selbst zu entwickeln. Zeit für eigene Konstruktionsprozesse muss bereitgestellt und wirklichkeitsnahe Lernsituationen müssen geschaffen werden, um Lerninhalte aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können.

Ähnlich wie beim Lernen sieht es beim Transfer aus: Faulstich und Zeuner (1999) ordnen den drei Lernschulen drei Transfertheorien zu. Die behavioristische Transfertheorie geht davon aus, dass die Ähnlichkeit von Lern- und Anwendungskontext ausschlaggebend für die Transferwahrscheinlichkeit ist (Hasselhorn & Gold, 2006). Der kognitivistische Transferansatz fokussiert die Ähnlichkeit von Schlüsselelementen auf Makro-Ebene zwischen Lern- und Anwendungskontext (Faulstich & Zeuner, 1999) und der konstruktivistische die Übertragung vorhandenen Wissens aus dem Lern- in den Anwendungskontext (Euler & Hahn, 2007).

Zusammenfassend kann die behavioristische Schule als Lerntransfer begleitend angesehen werden. Der Kognitivismus liefert Wissensbausteine, die konstruktivistisch zusammengesetzt werden, sodass ein wechselseitiges Wirkungsprinzip entsteht.

Anwendung im Business-Coaching

Um bei einer VR- und AR-Simulationsgestaltung die Qualität und Professionalität im Business-Coaching zu wahren, sind insbesondere die Wirkfaktoren nach Lindart (2017) maßgeblich. Für eine Simulationsgestaltung wurden die ergebnisorientierte Selbstreflexion (Handlungsweisen visualisieren und einüben), Ressourcenaktivierung (Assoziationen, Belohnungssystem auf Bedürfnisse abstimmen) sowie die Umsetzungsunterstützung (Darstellung von Handlungsalternativen) ausgewählt. Gemäß der Literatur wurde die Umsetzungsunterstützung im Coaching-Prozess bisher z.B. durch folgende Methoden begleitet:

  • Shadowing („Beschattung“) via Telefon, SMS oder Mail in Kombination mit dem erweiterten Rubikon-Modell (Bachmann & Steinke, 2019)
  • Virtuelles Transfer-Coaching als Wechselspiel zwischen Online-Beobachtung der Praxisanwendung und Telefon-Coaching (vgl. Geißler, 2010)

Wie würde demgegenüber eine Umsetzungsunterstützung mit einer VR- und AR-Simulation aussehen? Im Rahmen der vorgestellten Master-Thesis wurden 13 Experten nach der qualitativen Sozialforschung von Gläser und Laudel (2010) auf Basis eines Fragebogens interviewt. Das Leitfadeninterview splittete sich in einen quantifizierten Teil (Definitionen, Bedeutung von VR und AR für Lerntransfer, Sicherung und Beschleunigung) und eine Fallausleuchtung (Umsetzungsmöglichkeiten, Resultate, Realisierung, Chancen und Risiken). Das Sample besteht aus Vertretern technischer Forschungseinrichtungen wie dem Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Professoren psychologischer, didaktischer und technischer Lehrstühle sowie Experten aus den Bereichen Business-Coaching, VR und AR. Die gesammelten Informationen wurden zunächst extrahiert, aufbereitet und anschließend auf Basis des Schemas nach Gläser und Laudel (2010) ausgewertet.

Die Auswertung der Sozialforschung zeigt einen Zusammenhang zwischen der Simulationsgestaltung und der Sicherung und Beschleunigung von Lerntransfers. Spannend ist an dieser Stelle die Begründung der Antwort auf die Forschungsfrage. Hierbei wurden rund 55 Determinanten erhoben, die eine Sicherung und Beschleunigung auf Lerntransfers innerhalb einer Simulationsgestaltung ausüben können. Diesen wurden Sachdimensionen zugeordnet. Letztere wiederum bilden einen sachlogischen Ablauf einer Simulationsgestaltung ab und gliedern sich in Simulationsvorbereitung, -bedingung, -inhalt und -aufbau. Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt der wichtigsten Erfolgsfaktoren.

Cluster relevanter Variablenmodalitäten zur Initiierung und Beschleunigung von Lerntransfers

Abb.: Cluster relevanter Variablenmodalitäten zur Initiierung und Beschleunigung von Lerntransfers


Interessant ist die Tatsache, dass sich zwischen den erhobenen Modalitäten und den Inhalten der wissenschaftlichen Literatur Parallelen finden: etwa der didaktisch-pädagogische Aufbau oder die Wiederholungsfrequenz in VR- & AR-Simulationen. Die Ergebnisse bilden damit einen Ansatz, bestehend aus Simulationsprinzipien, die einen Lerntransfer mit VR- und AR-Anwendungen sichern und beschleunigen.

Fazit

VR und AR bieten dem Coaching die Möglichkeit, fast vollständig individualisierte Lernräume zu gestalten, die entsprechend auf die spezifischen Anforderungen der Klienten angepasst werden können. Mit der steigenden Dynamik der VUCA-Welt steigt komplementär die Komplexität coaching-relevanter Thematiken. VR und AR haben das Potenzial, diese Komplexität abzubilden.

Literatur

  • Bachmann, T. & Steinke, I. (2019). Coaching-Prozesse. In DBVC (Hrsg.), Leitlinien und Empfehlungen für die Entwicklung von Coaching als Profession (S. 75–96), Osnabrück: DBVC.
  • Buehler, K. & Kohne, A. (2020). Besser Lernen mit VR/AR Anwendungen. In H. Orsolits & M. Lackner (Hrsg.), Virtual Reality und Augmented Reality in der Digitalen Produktion (S. 75–97), Wiesbaden: Springer.
  • Diemer, J. & Mühlberger, A. (2019). Expositionstherapie in virtueller Realität. In P. Zwanzger (Hrsg.), Angst (S. 199–206), Berlin: MWV.
  • Euler, D. & Hahn, A. (2007). Wirtschaftsdidaktik. Bern: UTB.
  • Faulstich, P. & Zeuner, C. (1999). Erwachsenenbildung. Weinheim: Juventa.
  • Fell, T. (2020). NewWork und Immersives Lernen. In H. Orsolits & M. Lackner (Hrsg.), Virtual Reality und Augmented Reality in der Digitalen Produktion (S. 329–346). Wiesbaden: Springer.
  • Geißler, H. (2010). Erhöhung der Nachhaltigkeit von Trainings durch nachbetreuende internetbasierte Einzelcoachings. GDW, Mai, S. 1–15.
  • Gerrig, R. J. (2015). Psychologie. Hallbergmoos: Pearson.
  • Gläser, J. & Laudel, G. (2010). Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. Wiesbaden: Springer.
  • Hasselhorn, M. & Gold, A. (2006). Pädagogische Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Lindart, M. (2017). Den Blick auf die wirksamen Dinge richten! Coaching-Magazin, 10(1), S. 49–53.
  • Myers, D. (2014). Psychologie. Berlin: Springer.
  • Riedl, A. (2004). Grundlagen der Didaktik. Stuttgart: Franz Steiner.
  • Vigerske, S. (2017). Transfer von Lehrerfortbildungsinhalten in die Praxis. Wiesbaden: Springer.
  • Waszkewitz, B. (2012). Psychologie zwischen Geisteswissenschaft und Behaviorismus. Stuttgart: ibidem.
  • Weicker, N. (o.D.). Lernmodelle in der Übersicht. Abgerufen am 06.06.2020: https://docplayer.org/75605823-Lernmodelle-in-der-uebersicht.html.

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