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Beruf Coach

Künstliche Intelligenz im Coaching?

Wie KI das Coaching verändern wird

10 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2019 am 04.09.2019

Ein normales Computer-Programm ist im Grunde nichts anderes als eine Abfrage bestimmter Daten, die miteinander auf festgelegte Weise in Bezug gesetzt, sprich verglichen, verrechnet etc. werden. Es funktioniert wie eine umfangreiche Excel-Tabelle, in der man in bestimmte Felder Werte eingibt, die anschließend mittels Formeln verrechnet werden – oder noch sehr viel einfacher: Wie ein Taschenrechner, in den man Zahlen eingibt, die addiert oder multipliziert werden. Die Bahnen, in denen sich die Eingaben bewegen, mögen bei komplexen Anwendungen zwar überwältigend vielfältig erscheinen, sie sind aber fest verankert, das Ergebnis ist prinzipiell vorhersehbar.

Gibt man der Anwendung aber die Freiheit zur eigentlich nicht vorgesehenen Verknüpfung dieser festen Bahnen, so werden plötzlich Abgleiche und Bezugssetzungen neuer Datenmengen untereinander möglich, die man nicht vorhergesehen hat. Muster und Gemeinsamkeiten werden erkannt, die dann wiederum neue Bahnen und Verknüpfungen entstehen lassen. In diesem flexiblen Netzwerk aus Knotenpunkten wird es möglich, eingehende gleichartige Daten viel schneller zu erkennen und z.B. zu vergleichen. Dieses Prinzip kann man auch als „Lernen“ bezeichnen: Man bezieht Informationen, z.B. über Katzen (der Zugang zu einer Informationsquelle ist für ein KI-System zwingend). Aufgrund dieser Daten kann man mit einiger Gewissheit sagen, was Katzen sind und entsprechend Katzenbilder sortieren – man hat also neue Strukturen (Bahnen) geschaffen, um dies zu tun. Was passiert aber, wenn man plötzlich vor abstrakten Katzenbildern steht oder wenn statt des Wesens nur die Buchstabenfolge „Katze“ auf dem Bild steht? Mit Hilfe weiterer Informationen wird es mir möglich, hier Verbindungen zur abstrakten Kunst zu erkennen, zum Zusammenhang zwischen der Zeichenfolge „Katze“ (dem Bezeichnenden) und dem Tier (dem Bezeichneten). Gerade diese Erkenntnis, dass ein Etwas für etwas anderes stehen kann, ist immens, da es die Grundlage der Sprache ist, eine Grundlage des menschlichen Denkens. So entsteht: ein lernendes, selbstorganisierendes, „intelligentes“ System.

Wo wird KI eingesetzt?

Systeme mit künstlicher Intelligenz sind bereits heute im Alltag aktiv. Man denke an autonomes Fahren mit der Notwendigkeit, komplexe Situationen zu erkennen bzw. zu überblicken und aus verschiedenen Fahrsituationen Schlüsse für zukünftiges Verhalten zu speichern. Zudem nutzen Unternehmen wie Amazon KI für Nachfrageprognosen, um Lagerkosten zu sparen und Lieferketten zu optimieren; Zalando bietet eine KI-gestützte Suche durch den Abgleich eines hochgeladenen Fotos eines Kleidungsstücks und dem eigenen Angebot an; Facebook baut hiermit seine individuell an den Nutzer angepassten News-Feeds auf (WiWo, 2018). Weitere Einsatzgebiete finden sich in der Medizin, Finanzwelt und Landwirtschaft, aber auch im großen Bereich der Spracherkennung und -verarbeitung. Hier sind vor allem Google und Amazon präsent, die vordergründig Software bzw. ganze Geräte (Alexa bzw. Echo) anbieten, die mittels Sprachbefehlen verschiedenste Funktionen erfüllen können. Im Hintergrund aber hat Amazon „bereits ein Patent darauf angemeldet, Emotionen und sogar Krankheiten aus der Stimme herauszulesen“, um Produktvorschläge gezielt zu platzieren – es ist anzunehmen, dass Google diese Technik ebenso mitlaufen lässt (Wolfangel, 2019, S. 27–28).

Gerade der Punkt der Spracherkennung in Form einer lernenden Mustererkennung mittels KI wird bereits heute im Bereich der Personalverwaltung/-entwicklung und HR eingesetzt. Unternehmen wie Talanx, Randstad Deutschland, die AOK und einige DAX-Konzerne nutzen beispielsweise eine Software von Precire, die „in erster Linie Strukturen in der Sprache, d.h. die Kombination von Wörtern und die Bildung von Sätzen/Sprache auf bestimmte Muster“ untersucht, wie das Unternehmen auf Anfrage mitteilt. Konkret wird diese Software u.a. bei Bewerbungsverfahren genutzt zwecks Persönlichkeitstest und Vorauswahl der Kandidaten. Das Programm greift dabei auf einen Datensatz zurück, der auf psychologischen Tests und einer dazu gehörenden Sprachprobe basiert bzw. den hier gefunden Verbindungen, d.h.: Nutzten laut psychologischem Test offene oder ängstliche Personen häufig bestimmte Worte oder Kombinationen, so wird dieser Datensatz entsprechend gespeichert (Rudzio, 2018). Die Bewerber unterhalten sich so eine Viertelstunde mit einer Maschine, die sie über das Wochenende, einen „ganz normalen Sonntag“ oder Hobbys befragt (ebd.) – und im Hintergrund werden Syntax und Lexik mit dem Datensatz abgeglichen.

Das funktioniert, weil Menschen in ihrer Stimme Informationen über ihre Emotionen preisgeben und sie das nur bedingt unterdrücken können – ein Umstand, den sich Therapeuten (wie auch Coaches) häufig zunutze machen (Wolfangel, 2019). Nun kann auch die KI diese Informationen verarbeiten. Allerdings achten Therapeuten und Coaches im Gespräch auch z.B. auf Tonhöhe und „Klangfarbe“, sprich die phonetischen Eigenschaften der Stimme – das macht die Precire-Software nach eigenen Angaben nicht. Zudem kritisierte Prof. Dr. Kanning im Deutschlandfunk (2019) das Prinzip der Software, da der „Zusammenhang zwischen sprachlichen Äußerungen und Persönlichkeitsmerkmalen“ je nach Studie „zwischen zehn und null Prozent“ liege und selbst „die vorteilhaftesten Zahlen […] überhaupt kein Argument dafür [… liefern würden,] so etwas seriös einzusetzen in der Eignungsdiagnostik“. Das System ist (noch) nicht perfekt.

KI im Coaching?

Da der digitale Wandel und der vermehrte Einsatz von KI alle Lebensbereiche betreffen, ist es wahrscheinlich, dass Klienten mit Anliegen in diesem Bereich ins Coaching kommen. Man stelle sich eine Führungskraft der mittleren Ebene vor, die sich in ihrem Ermessens- und Entscheidungsspielraum eingeengt fühlt, in ihrer Führungskompetenz beschnitten, weil sie den Vorgaben des Systems folgen muss – anders ausgedrückt: Die Führungskraft ist an die Weisungen der KI gebunden, sie erscheint dem Menschen als Vorgesetzte. Das klingt abwegig, doch man denke an die eingangs genannten Beispiele von Amazon oder Facebook. In diesen (noch vereinzelten und spezifischen) Arbeitsbereichen trifft der Mensch die Entscheidung nicht mehr, er folgt dem System. Um einen Klienten mit einem derartigen Anliegen unterstützen zu können, ist es zwingend, die Funktionsweise der KI zumindest im Ansatz zu verstehen.

KI als Coaching-Tool

Der zuvor dargestellte Einsatz von KI-Systemen zwecks Sprachanalyse, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit erlaubt, kann ein guter Fall für Coaching-Prozesse hinsichtlich Karriereplanung oder Bewerbung sein. Beachtenswert ist, dass derartige KI-gestützte Bewerbungsverfahren sehr stark zunehmen, immer mehr Unternehmen nutzen diese, weil eine stärkere Vorauswahl der Bewerber Zeit und damit Kosten spart (Backovic, 2018).

Wurde in einem Karriere-Coaching beispielsweise zuvor mit dem Klienten die Bewerbungssituation durchgespielt, so steht er nun vor einer ganz anderen Herausforderung: Für die Maschine ist der Klient im Grunde nackt und lediglich ein Datensatz. Er kann weder das Gespräch auf seine Stärken lenken oder überhaupt steuern, noch auf die körperlichen oder stimmlichen Signale seines Gegenübers reagieren. Außerdem spielt bei einigen Systemen nicht nur die Stimme eine Rolle: Es wird auch Software eingesetzt – z.B. bei Unilever –, die per Video ebenso Haltung, Gestik und Mimik des Bewerbers untersucht (ebd.). Wie geht man mit so einer Situation um? Sich hierauf einzustellen, erfordert vom Coach erweiterte Kenntnisse der Funktionsweisen derartiger Systeme. Seine Erfahrungen der Wirkungsweisen körperlicher Reaktionen auf Kommunikationspartner müssen in solch einem Fall deutlich ausgedehnt werden – denn die Maschine übersieht nichts.

Zudem kann es in diesem Fall nützlich sein, wenn der Coach selbst auf derartige Systeme zurückgreifen und sie im Coaching-Prozess einsetzen kann. So wäre es möglich, direkt die Wirkung des Klienten auszulesen und im Coaching den Ursachen des Verhaltens nachzuspüren – und im Rahmen eines hieran anknüpfenden Trainings das im Coaching Erarbeitete zu festigen und zu prüfen.

An dieser Stelle wäre auch eine weitere Einsatzmöglichkeit einer derartigen KI-gestützten Software möglich: Mit deren Hilfe könnte ein umfassender Perspektivwechsel ermöglicht werden, zumindest aber eine umfassende Außenperspektive. Der Klient nimmt so nicht nur sich selbst in Gestik, Mimik, Körperhaltung und Stimme wahr. Sondern er erhält zugleich eine Auswertung seiner Wirkung, die allerdings vom Coach nochmals erläutert bzw. in einen bestimmten Kontext gestellt wird. Denn beachtet man Kannings zuvor genannte Kritik, dann sind die Systeme nur bedingt perfekt (was ist z.B., wenn der Klient aufgrund eines Sprachfehlers dazu neigt, bestimmte Worte ungewöhnlich auszusprechen, wenn er aufgrund einer Verletzung eine bestimmte Körperhaltung einnimmt?). Der Coach ist hier der einordnende und korrigierende Faktor – die Maschine ein Coaching-Tool, wenn auch ein mächtiges.

Die so gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen es ferner, die eigene Wirkung auf Menschen und vor allem auf bestimmte Personen in spezifischen Situationen besser verstehen und einsetzen zu können. Wie wirke ich bei einem Gespräch mit dem Vorstand, wie während einer Team-Sitzung? Und was drücke ich vielleicht unbewusst aus, wenn ich bestimmte Handlungen (bewusst oder unbewusst) in diesen Situationen zulasse oder gar unterdrücke? Hier hilft dem Coach der Umstand, dass die Maschine eine objektive Analyse liefert, während er an der subjektiven Wahrnehmung dieser Ergebnisse durch den Klienten arbeiten kann.

Und natürlich: Die KI hat das Potential, gewisse Dinge zu erkennen, die dem Coach vielleicht abgehen, denn wie erwähnt, sie sieht den Klienten lediglich als Objekt, das es zu vermessen gilt, während der Blick des Coachs eventuell durch zu große Sympathie oder Antipathie verklärt ist. In diesem Sinne kann die KI in diesem Kontext nicht nur Hilfsmittel für die Arbeit mit dem Klienten sein, sondern zugleich auch eine stetige Überprüfung der Perspektive des Coachs.

KI als Coach-Ersatz?

Dass die Nutzung einer KI zwecks Selbstwahrnehmung, Persönlichkeitsanalyse etc. wie im vorigen Beispiel nicht alleine am Computer gemacht werden sollte, wie eine fünfminütige kostenfreie Browser-Persönlichkeitsanalyse, liegt auf der Hand – der Coach als kompetenter und subjektiv wahrnehmender Vermittler ist relevant. Aber könnte der Coach nicht ganz von einer KI ersetzt werden?

Ein möglicher Ersatz läge im Einsatz so genannter Chat-Bots mit künstlicher Intelligenz. Dabei handelt es sich um ein Programm, das auf Textnachrichten reagiert (man findet Bots z.B. auf Homepages diverser Internet-Provider), wird es intelligent, kann es theoretisch wie ein Mensch kommunizieren. Grundsätzlich könnte ein Coach-KI-Bot vor dem Coaching zum Einsatz kommen, um Anliegen zu klären und zu spezifizieren, sodass der eigentliche Coaching-Prozess schneller und gezielter beginnen kann. Er müsste hierfür analog zum dargestellten Prinzip der Spracherkennung mit Coaching-Informationen sowie Coaching-Fällen gefüttert werden, zumal nicht selten das vom Klienten anfangs vorgetragene Anliegen sich im Verlauf eines klärenden Gesprächs (oder des Coaching-Prozesses) abwandelt. Im Verlauf des Prozesses wäre der Bot, gefüttert mit dem Verlauf und aktuellen Stand des Coachings, ein allzeit verfügbarer Ansprechpartner für den Klienten, um das Erarbeitete nochmals aufzurufen oder ggf. mit neuen Erkenntnissen zu erweitern. Für jene, die Coaching/Coaches skeptisch gegenüberstehen, könnte dieser Bot zumindest ein erster Ansprechpartner sein, der nicht urteilt und sich objektiv mit dem Klienten auseinandersetzt, ggf. erklärt, was Coaching ist und wie man grundsätzlich an das Anliegen herangehen könnte. Ein derartiger Chat-Bot mit vergleichbaren Funktionen existiert bereits als mobile App im Bereich der Gesundheitsversorgung (Grams, 2018).

Aber diese Version eines Coach-KI-Bots wäre kein Coach-Ersatz, sondern vielmehr ein kompetenter Coach-Assistent. Der KI mangelt es augenblicklich noch an der menschlichen Fähigkeit der Empathie, Gefühle sind der Maschine fremd – was nicht bedeutet, dass sie diese nicht korrekt erkennen und einordnen könnte. Der Coach versteht seinen Klienten in gewissem Sinne also auf einer deutlich tiefergehenden Ebene als die Maschine. Dies ist auch ein Grund, weshalb die KI vielmehr als Tool genutzt werden sollte, deren Ergebnisse der Coach einsortieren und erklären kann, um sie zugänglich bzw. nutzbar für den Klienten zu machen. Aber die KI sollte nicht unterschätzt werden, sie hat immenses Potential zu lernen und zu wachsen. Die Frage des Ersetzens dürfte deshalb in nicht ferner Zukunft keine des Könnens, sondern eine des Wollens sein.

Literatur

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