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Coaching-Tools

Der Gefühls-Kompass

Ein Coaching-Tool von Pia Gerdes

14 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2019 am 27.02.2019

Kurzbeschreibung

Gefühle blockieren uns, behindern uns, stehen uns im Weg! Dieses Bild ist, gerade im beruflichen Kontext, weit verbreitet. Dabei haben Gefühle eine wichtige Funktion im Umgang mit verschiedenen Situationen, wenn wir in der Lage sind, sie bewusst zu nutzen. Hierfür bedarf es eines guten Zugangs zu ihnen. Der Gefühls-Kompass dient als Orientierung in unserer Gefühlswelt und zeigt zum einen grundlegend auf, welchen Nutzen die Gefühle in der jeweiligen Situation haben. Zum anderen hat der Klient die Möglichkeit, den ganz konkreten Nutzen in der von ihm beschriebenen Situation herauszuarbeiten.

Anwendungsbereiche

Das Tool ist besonders hilfreich, wenn Klienten eine starke, emotionale Reaktion in bestimmten Situationen beschreiben, die sie nicht gut zuordnen können und die ein jeweils angemessenes Agieren erschwert. Es bietet sich auch an, mit dem Tool zu arbeiten, wenn sich der Klient mit seiner Gefühlswelt auseinandersetzen will.

Effekte

Mit dem Coaching-Tool hat der Klient die Möglichkeit, einen Zugang zu seinen Gefühlen zu bekommen und diese für sich besser einzuordnen. Gefühle sind keine „Duselei“. Der Ausdruck echter Gefühle ist ein angemessenes Mittel zur Lösung von Problemen. Dabei ist es allerdings zum einen wichtig, zu erkennen, welches Gefühl ich erlebe, um zum anderen klar und bewusst entscheiden zu können, in welcher Form ich in der jeweiligen Situation reagiere.

Ausführliche Beschreibung

Bei der Anwendung des Tools sind Kenntnisse der Transaktionsanalyse (TA), aus deren Theorie auch die Grundgefühle nach Eric Berne abgeleitet sind, hilfreich. Stewart und Joines (2015) unterscheiden dabei die Grundgefühle Angst, Wut, Trauer, Freude und Schmerz. Für jedes dieser Grundgefühle gibt es einen Auslöser und eine Funktion. Beispielsweise empfinde ich Angst in einer Situation, die für mich bedrohlich ist. Das Gefühl der Angst hat die Funktion, mich zu schützen, beispielsweise nicht von einem hohen Dach zu springen, weil dadurch meine Gesundheit und mein Wohlergehen gefährdet sein könnten.

Dem Gefühl der (1) Angst werden also der Auslöser Bedrohung und die Funktion Schutz zugeordnet. Die (2) Wut (gelegentlich auch als Ärger bezeichnet) geht auf den Auslöser Frustration zurück und erfüllt die Funktion Veränderung. Zum Gefühl der (3) Trauer gehören der Auslöser Verlust und die Funktion Loslassen; zur (4) Freude der Auslöser Erfüllung und die Funktion Gemeinsamkeit/Stimmigkeit; zum (5) Schmerz der Auslöser Verletzung und die Funktion Heilung bzw. Heilsein (Tewes, 2011).

Im Coaching geht es darum, gemeinsam mit dem Klienten diesen Dreiklang von Gefühl, Auslöser und Funktion durchzuspielen. Damit kann der Klient eine größere Klarheit im Umgang mit seiner Gefühlswelt erreichen und sie sogar bewusst nutzen.

Als Materialien benötigt man etwa 20 Karten. Ein Teil davon wird vorab beschriftet. In welcher Form, wird bei den technischen Hinweisen beschrieben. Empfehlenswert ist es, die Übung mit etwas Platz im Raum auszuführen. So kann der Klient sich jeweils zu dem Gefühl (beschriftet auf einer Karte) stellen und nachspüren, welche Reaktion er bei sich erlebt.

1. Schritt: Anliegen klären

Nachdem der Klient sein Anliegen vorgestellt hat, entscheidet der Coach, ob das Tool zum Anliegen passt. Hilfreich ist es vor allem dann, wenn der Klient einzelne oder wiederkehrende Situationen beschreibt, die ihn in irgendeiner Weise blockiert haben oder die er als unangenehm empfunden hat.

Der Coach beschreibt kurz, dass er gern gemeinsam mit dem Klienten auf die Gefühle schauen möchte, die in dieser Situation beim Klienten eine Rolle gespielt haben, um herauszuarbeiten, welchen Einfluss diese auf die Situation genommen haben. Dies kann man gut mit dem Sinnbild verbinden, dass es einfacher ist, einen Weg zu finden, wenn man einen Kompass dabei hat. Der Coach beschreibt die Grundgefühle kurz.

Der Klient soll sich gedanklich noch einmal in die von ihm beschriebene Situation begeben. Dabei ist es wichtig, dass der Klient die Gelegenheit hat, sich möglichst intensiv mit der erlebten Situation auseinanderzusetzen, damit er einen Zugang zu den erlebten Gefühlen bekommt. Wichtig ist es, dass auch der Coach einen guten Eindruck davon erhält, wie sich die Situation für den Klienten angefühlt, wie er sie erlebt und empfunden hat. Für einige Klienten ist es hilfreich, bei dieser Reflexion die Augen zu schließen. Der Coach kann mit Hilfe von Fragen unterstützen:

  • Beschreiben Sie bitte noch einmal die Situation so konkret wie möglich.
  • Was war Ihre Aufgabe/Ihr Ziel in der konkreten Situation? Was haben Sie getan?
  • Wer waren die Beteiligten?
  • Wie würde einer der Beteiligten die Situation beschreiben? Was wäre ihm aufgefallen?
  • Wie haben Sie sich in diesem Moment gefühlt?
  • Wo haben Sie das gefühlt? (Im Kopf, im Bauch …)
  • Wie hat sich das angefühlt?
  • Was war Ihre größte Befürchtung?
  • Warum war die Situation für Sie unangenehm? Was war das Unangenehme daran?

2. Schritt: Erkennen des Hauptgefühls

Im zweiten Schritt geht es darum zu klären, welches Gefühl in der beschriebenen Situation am stärksten war. Dazu legt der Coach die auf die Karten geschriebenen Gefühls-Begriffe (Grundgefühle) mit jeweils etwas Abstand auf den Boden. Es bietet sich dabei an, die Karten in einem großen Kreis auszulegen, um dem Kompass-Bild zu entsprechen und auch genügend Abstand zwischen den einzelnen Karten zu haben. Der Klient hat nun die Aufgabe, sich an die Karte zu stellen, die er am stärksten empfunden hat, z.B. Wut.

Der Coach fragt nun noch einmal konkreter nach den Empfindungen des Klienten. Fragen, die dabei helfen können:

  • Wie hat sich die Wut angefühlt?
  • Wo (im Körper) konnten Sie das spüren?
  • Was hat das mit Ihnen in der Situation gemacht?
  • Kennen Sie das auch aus anderen Situationen? Was ist da ähnlich? Was ist anders?

Wichtig ist es in dieser Phase, herauszufinden, ob das vom Klienten beschriebene Gefühl das „Hauptgefühl“ in dieser Situation war. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass wir zum Teil gelernt haben, dass es „erlaubte“ und „nicht erlaubte“ Gefühle gibt. Wenn ein Klient z.B. in einem Umfeld groß geworden ist, in dem Angst nicht akzeptiert wurde, ist es für ihn sinnvoller, es mit einem Gefühl zu überdecken, das in seinem Umfeld eher akzeptiert war, z.B. Wut. Um die Situation des Klienten gut erfassen zu können, ist es aber wichtig, das tatsächliche Hauptgefühl zu erfahren. So kann es sein, dass der Klient in dieser Phase verschiedene Karten „ausprobiert“, um sein Hauptgefühl zu erkennen. Wenn der Klient sich bei einer Karte sicher ist, beginnt der dritte Schritt.

3. Schritt: Der Auslöser des Gefühls

Im dritten Schritt erarbeitet der Klient den Auslöser des Gefühls. Hierzu legt der Coach die vorbereiteten Karten mit den jeweiligen Auslösern zu den Gefühlskarten. Bei Wut ist der Auslöser des Gefühls Frustration. Der Coach unterstützt den Klienten nun dabei, den konkreten Auslöser für das Gefühl des Klienten zu erfragen:

  • Gab es in der von Ihnen beschriebenen Situation etwas, das Sie frustriert hat? Was könnte das gewesen sein?
  • Warum, glauben Sie, waren Sie frustriert?
  • Angenommen, ich könnte einen anderen Beteiligten der Situation fragen, wie würde er mir diese beschreiben?

4. Schritt: Die Funktion des Gefühls

Im vierten Schritt geht es darum, sich der Funktion des Gefühls bewusst zu werden. Hierzu legt der Coach die Karten mit den Funktionen der Gefühle in einen äußeren Kreis um die Auslöser. Bei Wut ist beispielsweise die Funktion des Gefühls die Veränderung. Wut hat eine große Kraft, die uns die Energie gibt, Veränderungen zu initiieren und auch durchzuhalten.

Der Coach erläutert dem Klienten die zugehörige Funktion des Gefühls und erkundet mit ihm gemeinsam, welche Funktion sein Gefühl in der Situation wohl konkret gehabt haben könnte. Die Interpretation sollte im Schwerpunkt beim Klienten liegen. Erst wenn der Klient keine Idee (mehr) hat und auch durch Nachfragen keine neuen Ideen mehr kommen, kann der Coach seine Thesen dazu anbieten. Unterstützend können die Ideen notiert werden, z.B. auf einer Flipchart oder einem Blatt Papier.

5. Schritt: Was bedeutet das für künftige Situationen?

Im letzten Schritt geht es darum, mit dem Klienten zu klären, welche Schlüsse er aus diesen Erkenntnissen zieht. Dies kann der Coach aktiv hinterfragen:

  • Wenn Sie jetzt die gleiche Situation noch einmal erleben würden, wäre dann etwas anders? Wenn ja, was?
  • Worauf werden Sie in Zukunft achten, wenn sich das Gefühl (z.B. die Wut) ankündigt? Wie gehen Sie gut mit diesem Gefühl um?

Eine einfache, aber im Kontext sehr hilfreiche Frage könnte hier zum Abschluss sein: „Was nehmen Sie aus dieser Sitzung mit?“ Dem Klienten sind oft andere Schwerpunkte wichtig, als der Coach vielleicht vermuten mag. Wenn der Coach noch hilfreiche Ergänzungen hat, kann er diese hier mit dem Klienten teilen. Es lohnt sich auch, in einer nächsten Sitzung zu fragen, was der Klient aus den Erkenntnissen gemacht hat bzw. inwiefern diese für den Alltag hilfreich waren.
 

Der Gefühls-Kompass
Der Gefühls-Kompass - ein Coaching-Tool von Pia Gerdes

Beispiel: Die Präsentation, die nicht gelingt

Herr M. ist im mittleren Management eines Unternehmens des öffentlichen Dienstes aktiv. Er hat seine Karriere hier als Auszubildender begonnen, im Anschluss berufsbegleitend studiert und ist mittlerweile seit 20 Jahren im Unternehmen. Er ist gern Führungskraft und hat Freude daran, mit seinem Team an innovativen Themen zu arbeiten. Die Vorstellung der Team-Ergebnisse als Präsentation hat er schon viele Male durchgeführt und ist dort eigentlich ein „alter Hase“. Nun ist es ihm schon zweimal passiert, dass er bei der Vorstellung einer von ihm und seinem Team ausgearbeiteten Idee vor der Geschäftsführung so ins Stocken geraten ist, dass die Qualität der Präsentation stark gelitten hat. Darüber ist Herr M. sehr verärgert und möchte für sich im Coaching klären, wie er diese Präsentationen professioneller halten kann.

Der Coach erläutert Herrn M. kurz das Coaching-Tool und bitte ihn dann, eine Situation, in der die Präsentationsqualität aus seiner Perspektive sehr gelitten hat, so konkret wie möglich zu schildern. Es stellt sich heraus, dass Herr M. und zwei seiner Mitarbeiter an der Präsentation beteiligt waren. Die vier Geschäftsführer, die während der Präsentation anwesend waren, sind seit drei, fünf und jeweils zehn Jahren im Unternehmen aktiv und kennen das Unternehmen nicht so lange wie Herr M.

Als Herr M. seine Gefühle während der Präsentation beschreiben soll, berichtet er von einer großen Wut. Eine Wut darauf, dass er ins Stocken gerät und sich wie ein „dummer Schuljunge“ verhält, obwohl er sich sowohl inhaltlich als auch methodisch nicht verstecken braucht. Er stellt sich dann auch auf die Karte mit der Wut. Auf das Nachfragen, woher diese Wut denn kommt und wie sie sich zeigt, sackt Herr M. körperlich in sich zusammen. Mit deutlich leiserer Stimme berichtet er davon, dass er dieses Schuljungen-Gefühl noch von seinem vorherigen Geschäftsführer kennt, der ihn als Auszubildender eingestellt hat und aus Sicht von Herrn M. nie wirklich aufgehört hat, ihn als Auszubildenden zu sehen. „Der hatte richtig Spaß daran, mich klein zu machen und als dumm darzustellen. Er meinte mal, eine gute Führungskraft erkennt man daran, dass die Mitarbeiter nach einem Termin auch unter der Tür durchpassen, damit sie wissen, wo sie wirklich stehen.“

Der Coach fragt noch einmal nach, welches Gefühl er in dieser Situation wohl am stärksten empfunden hat (Hauptgefühl). „Angst“, sagt Herr M. Der Coach bittet ihn, sich zu der entsprechenden Karte zu stellen. Coach und Klient sprechen darüber, welche Bedrohung (Auslöser) wohl hinter der empfundenen Angst stehen könnte. Dabei stellt Herr M. fest, dass er sich in den „alten Geschäftsführerzeiten“ sehr unwohl und häufig bedroht gefühlt hat und dass er sich mit seinem sehr vorsichtigen Verhalten schützen wollte, um nicht zur Zielscheibe des Spotts zu werden.

Coach und Klient schauen gemeinsam darauf, wie Herr M. die aktuellen Geschäftsführer empfindet. „Die sind ganz anders drauf“, antwortet er spontan, „deshalb bin ich ja überhaupt geblieben. Sie nehmen die Beschäftigten ernst und wissen, dass gute Ideen am besten direkt aus der Mannschaft kommen. Augenhöhe ist ihr Credo.“

Die von Herrn M. beschriebene Angst hatte ihre Berechtigung also in vergangenen Zeiten. Dort war sie hilfreich und hat den Klienten vor Demütigungen geschützt (Funktion). Jetzt ist diese „alte Angst“ hinderlich und nicht mehr angemessen.

In der weiteren Coaching-Sitzung wird herausgearbeitet, dass Herr M. das Gefühl im Bauch wahrnimmt und es sich wie eine Faust anfühlt. Es ist hilfreich für ihn, das Gefühl körperlich lokalisieren zu können. So wird es für ihn greifbar und kommt nicht „aus dem Nichts“.

Herr M. wirkt erleichtert, als er erkennt, woher das Gefühl kommt. Gemeinsam arbeiten Coach und Klient heraus, wie er sich in zukünftigen Präsentationssituationen verhalten kann. Herr M. sucht sich einen „Anker“, den er in diese Situation mitnehmen will, wenn er spürt, dass das Gefühl der Angst hochkommt. Herr M. entscheidet sich für einen kleinen Stein seiner Tochter, den er in der Hosentasche tragen wird und den er (unauffällig) in die Hand nehmen oder berühren kann, wenn das Gefühl hochkommen sollte. Herr M. fühlt sich für die nächste Präsentation mental gut vorbereitet und ist gespannt, wie diese ablaufen wird.

In der nächsten Sitzung berichtet er erleichtert, dass die Präsentation sehr gut gelaufen ist. „Kurz ist das alte Gefühl der Angst wieder in mir hochgekommen, aber mein Anker hat mir sehr geholfen, bei mir und in der Situation zu bleiben“, so Herr M. Der Klient kann künftig auch in Präsentationen vor der Geschäftsführung fokussiert bleiben und seine Stärken zeigen.

Voraussetzungen

Der Coach sollte sich mit dem Tool auseinandergesetzt haben und über verschiedene Fragetechniken verfügen. Auch sollte sich der Coach einen fundierten, theoretischen Hintergrund zum Thema Gefühle erarbeitet haben. Dies ist vor allem bei der Begleitung von Klienten wichtig, denen eine rationale Einordnung des Themas hilft. Kenntnisse in Transaktionsanalyse sind zudem hilfreich.

Persönlicher Hinweis

Es hat sich als hilfreich erwiesen, als Coach gut in der Selbstreflexion zu bleiben, um eigene Erfahrungen und Bilder nur ganz bewusst (wenn überhaupt) einzusetzen und sie ansonsten aus dem Prozess fernzuhalten. Das Tool eignet sich vor allem in der Mitte des Prozesses, wenn Coach und Klient schon ein gewisses Vertrauensverhältnis aufgebaut haben.

Technische Hinweise

Benötigt werden vorbereitete Karten mit den Gefühlen: Angst, Freude, Wut, Trauer und Schmerz. Weitere Karten (gern in einer anderen Farbe) werden mit den Auslösern Bedrohung, Erfüllung, Frustration, Verlust und Verletzung beschrieben. Eine dritte Kartenart (mit der dritten Farbe) wird mit den Funktionen Schutz, Stimmigkeit, Veränderung, Loslassen und Heilung versehen.

Literatur

  • Berne, Eric (2002). Spiele der Erwachsenen: Psychologie der menschlichen Beziehungen. Reinbek: Rowohlt.
  • Stewart, Ian & Joines, Vann (2015). Die Transaktionsanalyse: Eine Einführung. Freiburg im Breisgau: Herder.
  • Tewes, Renate (2011). Führungskompetenz ist lernbar. Berlin: Springer.

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