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Coaching-Tools

Der Baum der Entwicklung

Ein Coaching-Tool von Maximilian Bache, Bettina Hahne, Pavlos Sidiropoulos & Corinna Thumm

11 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2020 am 20.05.2020

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Kurzbeschreibung

Der Baum der Entwicklung unterstützt Klienten bei der Definition, Visualisierung und Reflexion ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung. Das Tool ermöglicht eine ganzheitliche Betrachtung des eigenen Entwicklungspfades mit allen Entwicklungszielen und -ressourcen und berücksichtigt gegebene sowie potenzielle Entwicklungschancen und -risiken zur Definition einzelner Entwicklungsmaßnahmen.

Anwendungsbereiche

Das Tool ist im Einzel-Coaching anwendbar und kann sowohl als Instrument einer einzelnen Sitzung als auch zur Abbildung eines gesamten Coaching-Prozesses genutzt werden. In Einzelsitzungen eignet es sich idealerweise zur Formulierung der eigenen Ziele, zur Standortbestimmung in der Selbstanalyse- und Diagnosephase und zur Erarbeitung erster Veränderungsoptionen.

Effekte

Aus der methodischen Erarbeitung eines individualisierten Baums der Entwicklung soll ein Bild für den Klienten entstehen, das neue Erkenntnisse und daraus abgeleitete Handlungsoptionen im Rahmen der persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung eröffnet. Je nach Coaching-Anliegen kann der Baum Inhalt und Abbild einer einzelnen Sitzung sein oder vom Klienten im Rahmen des Coaching-Prozesses weiterentwickelt werden. Der Entwicklungspfad mit den Entwicklungszielen und -ressourcen kann sich – insbesondere über einen längeren Zeitraum – kontinuierlich verändern. Dabei sind die Entwicklungschancen und -risiken fortlaufend zu berücksichtigen und zu visualisieren. Das Tool gibt dem Klienten einen klaren prozessualen Rahmen. Gleichzeitig werden dem Klienten durch die hohe Flexibilität des Tools zusätzliche Handlungsoptionen unter Berücksichtigung der Entwicklungsziele eröffnet.

Ausführliche Beschreibung

Die persönliche und berufliche Entwicklung eines Menschen ist facettenreich und kann von komplexen Zusammenhängen, Strukturen sowie Beziehungen beeinflusst werden. Allein die Fragen „Was bedeutet für mich Entwicklung?“ und „Welche Ziele setze ich mir im Zuge meines selbstdefinierten Entwicklungsverständnisses?“ sind für Klienten teilweise schwierig zu beantworten und bedürfen einer längeren Selbstreflexion. Selten sind eigene Entwicklungsziele schriftlich fixiert bzw. visualisiert und somit klar für den Klienten. Sind die Entwicklungsziele beschrieben, so stellen sich auf einer tieferen Ebene die Fragen „Warum habe ich diese Ziele?“, „Welche meiner Ressourcen unterstützen mich bei der Erreichung meiner Entwicklungsziele?“ und „Wie kann ich weiter meine eigenen Potenziale zur Zielerreichung entfalten?“. Seine Ressourcen (Wurzeln) stellen das Fundament im Leben des Klienten dar. Berufe, Traditionen, Beziehungsverhalten, Gesundheitsbewusstsein und soziale Kontakte der Familie sowie die Erziehung, sein Umfeld, Schule, Ausbildung und die Prägung durch viele Menschen haben Einfluss auf das Leben des Klienten gehabt und beeinflussen sein heutiges Denken und Verhalten, seine Fähigkeiten und Eigenschaften. Der Entwicklungspfad ermöglicht das Herstellen einer Verbindung zwischen den eigenen Ressourcen und den definierten Zielen. Hieraus können sich für den Klienten bereits erste Handlungsoptionen ergeben: „Was kann ich tun, um mit Hilfe meiner Ressourcen die mir gesteckten Entwicklungsziele zu erreichen?“

 

Baum der Entwicklung

Abb.: Baum der Entwicklung


Für eine ganzheitliche Reflexion seiner eigenen Entwicklung kann eine Chancen- und Risiken-Analyse dem Klienten ein klares Bild über sein Entwicklungsumfeld und darin bestehende oder aufkommende „Meilensteine“ (Chancen) sowie „Stolpersteine“ (Risiken) geben. Wie in der Abbildung dargestellt, wird das Entwicklungsumfeld in vier Quadranten unterteilt. Mit den Quadranten Q1 und Q2 kann der Klient die gegebenen Entwicklungschancen und -risiken erarbeiten. Die potenziellen Entwicklungschancen und -risiken bilden die Quadranten Q3 und Q4 ab. Diese resultieren aus der Annahme bestimmter Zukunftsszenarien, die der Klient entwickelt. Die Differenzierung in gegebene und potenzielle Chancen und Risiken ist elementar, denn nur so kann der Klient seinen langfristigen Entwicklungspfad ganzheitlich beschreiben. Diese Vorgehensweise ermöglicht somit die eigene Standortbestimmung und zukünftige Entwicklung. Daraus abgeleitet kann der Klient für sich Maßnahmen definieren, um relevante Chancen zu nutzen und Risiken zu minimieren.

Der Baum der Entwicklung unterstützt den Klienten durch die systematische Vorgehensweise. Er erarbeitet mit Hilfe des Coachs ein gesamtheitliches, zielorientiertes sowie eigenes Entwicklungsbild, das ihm hilft, sich aus den komplexen Verwicklungen (Zusammenhänge, Strukturen, Beziehungen) zu befreien. Das Tool ist somit auch ein visualisierendes Modell zur Komplexitätsreduzierung, ohne die für den Klienten relevanten zahlreichen komplexitätsbestimmenden Variablen zu vernachlässigen.

Toolbereitstellung und -einsatz

Eine bedeutende Rolle spielt, dass der Klient das Tool und dessen Methodik verstanden hat. Hierbei kann der Baum der Entwicklung durch bereitgestellte Materialien vom Klienten selbst erarbeitet oder durch den Coach mittels Aufzeigen eines Beispiels erklärt werden. Die Herangehensweise sollte sich an die Bedürfnisse und Präferenzen des Klienten anlehnen und stringent auf das Anliegen referenzieren. Handelt es sich um eine persönliche Entwicklung innerhalb von privaten und beruflichen Lebensdomänen oder geht es um eine berufliche Entwicklung in einem bestimmten Unternehmenskontext? Die hier geschaffene Klarheit sichert in der Analyse sowie in der Entwicklung der Folgeschritte den Mehrwert für den Klienten.

Nachdem das Grundverständnis zur Anwendung der Intervention zwischen Coach und Klient hergestellt worden ist, beginnt im nächsten Schritt die umfängliche Reflexion der entsprechend zu untersuchenden Entwicklungsphase des Klienten. Ob das Entwicklungsbild Inhalt einer einzelnen Coaching-Sitzung oder im Rahmen des gesamten Coaching-Prozesses zeitlich erweitert/verändert werden soll, ist eine Frage der jeweils individuell angepassten Herangehensweise. Dies gilt ebenso für die Frage nach der Einsatzflexibilität des Tools. Im Nachfolgenden werden drei Anwendungsszenarien für ein methodisches Vorgehen dargestellt.

Einsatz im Verlauf des Prozesses – „Der begleitende Baum“

Ein den Coaching-Prozess begleitendes Tool kann eine emotionale Verbindung zwischen dem Klienten und seinem skizzierten Baum der Entwicklung aufbauen. Das Bild erweitert und verändert sich oder kann auch gleichbleiben (parallel zu den Gedanken des Klienten im gesamten Prozess). Ist ein Coaching-Anliegen weitestgehend auf die persönliche oder die berufliche Entwicklung determiniert, so kann sich diese Methode als eine Abbildung fortlaufender Erkenntnisse anbieten: Der Erkenntnis- und Entwicklungsprozess wird gespiegelt und verstärkt.

Der Klient führt den Baum der Entwicklung mit sich und entwickelt diesen vor, in und nach jeder Coaching-Sitzung weiter. Für den Coach bietet diese Herangehensweise die Möglichkeit einer gezielten Prozessbegleitung – das Coaching und die Themen werden durch die grafische Darstellung des Baums abgebildet. Die Teilaspekte (Entwicklungsziele, -ressourcen, -pfad, -chancen, -risiken) können hierbei die Inhalte einzelner Coaching-Sitzungen bestimmen und im Rahmen des Prozesses auch mit der Zielklärung (Reflexion und Beschreibung der Entwicklungsziele), Analyse- und Diagnosephase (Reflexion und Beschreibung der Entwicklungsressourcen), Ableitung von Veränderungsoptionen (Reflexion und Beschreibung eines potenziellen Entwicklungspfads) sowie der Erstellung eines Handlungsplans (Festigung des Entwicklungspfads bei Berücksichtigung von Entwicklungschancen und -risiken) kombiniert werden.

Entlang des Coaching-Prozesses kann der Coach je nach inhaltlichem Schwerpunkt gestaltete Fragen stellen. Dies dient dazu, die Reflexion des Klienten zu fördern:

  • Welche Entwicklungsziele möchten Sie in Ihrem Coaching reflektieren und erarbeiten? Welche Ziele haben Sie konkret? (Reflexion und Beschreibung der Entwicklungsziele)
  • Woraus schöpfen Sie positive Energie und Kraft, die Sie in der Erreichung Ihrer Ziele unterstützt? (Reflexion und Beschreibung der Entwicklungsressourcen)
  • Wie könnte Ihr eigener Weg der Entwicklung aussehen? Was müssten Sie in Ihrer aktuellen Situation ändern? (Reflexion und Beschreibung eines potenziellen Entwicklungspfads)
  • Wann und wie möchten Sie konkret Ihren definierten Entwicklungspfad umsetzen? Im Zusammenspiel mit welchen Entwicklungschancen und -risiken ändert sich dieser? (Festigung des Entwicklungspfads bei Berücksichtigung von Entwicklungschancen und -risiken) 

Zusätzlich können bestimmte Fragen bei der Vorbereitung der nächsten Coaching-Sitzungen hilfreich sein. Ebenso können sie dazu dienen, die inhaltliche Zielrichtung der aktuellen Sitzung zu überprüfen:

  • Gibt es einen Gedanken, der sich in Ihrem Baum der Entwicklung seit unserem letzten Treffen verändert hat?
  • Welches der von Ihnen skizzierten Entwicklungsziele möchten Sie heute oder bei unserem nächsten Treffen schwerpunktmäßig reflektieren?
  • Gibt es eine bestimmte Verbindung zwischen Ihren Ressourcen, Entwicklungschancen, -risiken und -zielen, die Sie heute oder bei unserem nächsten Treffen behandeln möchten?

Einsatz zu Beginn und gegen Ende eines Prozesses – „Der erkenntniserzeugende Baum“

Nachdem der Baum der Entwicklung in den Anfängen des Coaching-Prozesses Schwerpunkt einer Sitzung ist, kann gegen Ende erneut ein Bild durch den Klienten skizziert werden. Dabei kann ein gleicher, ähnlicher oder auch veränderter Baum entstehen. Das Wirkungsprinzip dieser Herangehensweise basiert auf der Wahrnehmung von unterschiedlichen Perspektiven und Formulierungen in einem definierten Zeitabstand. So können Erkenntnisse über die Konsistenz, Fortschritte sowie eventuelle Abweichungen im Verlauf des Coaching-Prozesses gewonnen werden.

Der Coach unterstützt den Prozess fragenorientiert. Als Fragen bieten sich insbesondere an:

  • Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede haben Sie jeweils identifiziert?
  • Worauf führen Sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zurück?
  • Was hat sich mit der Zeit herauskristallisiert?
  • Was ist Ihnen klarer geworden?
  • Welche Entwicklungsziele sind Sie angegangen? 
  • Welche Entwicklungsziele sind noch offen?

Je nach Coaching-Anliegen und -Situation kann der Klient zusätzlich einen dritten Baum der Entwicklung darstellen (oder einen der beiden ändern), sodass ein finales Entwicklungsbild entsteht. Dabei ist zu beachten, inwieweit die vergangenheitsbezogene Darstellung (erstes Bild, das zu Beginn des Prozesses skizziert wurde) eine Relevanz für den Klienten besitzt.

Einsatz innerhalb einer Sitzung – „Der flexible Baum“

Ist die Reflexion und Definition der persönlichen und/oder beruflichen Weiterentwicklung ein Teilziel im Coaching-Prozess, so kann der Baum der Entwicklung den Schwerpunkt einer entsprechenden Sitzung einnehmen. Sofern die Einsatzvoraussetzungen geschaffen werden, kann der Klient methodisch sehr schnell sein eigenes Entwicklungsbild erarbeiten. Dabei kann der Coach den Klienten durch gezielte Fragestellungen unterstützen:

  • Wo möchten Sie im Rahmen Ihrer beruflichen Entwicklung in fünf Jahren stehen? (Entwicklungsziele)
  • Welche persönlichen Faktoren unterstützen Sie bei der Zielerreichung? (Entwicklungsressourcen)
  • Wie könnten Sie auf Basis Ihrer beschriebenen Ressourcen Ihre Entwicklungsziele erreichen? (Entwicklungspfad)
  • Gibt es in Ihrem persönlichen oder beruflichen Umfeld Strukturen oder Personen, die aus Ihrer Perspektive eine Chance oder ein Risiko bei der Zielerreichung darstellen? (gegebene Entwicklungschancen/-risiken)
  • Welche betrieblichen Zukunftsszenarien könnten sich für Sie als Chance oder Risiko darstellen? (nicht gegebene, potenzielle Entwicklungschancen/-risiken)

Der Coach bietet dem Klienten durch die genannten Fragestellungen zielgerichtet die Möglichkeit, seine individuelle Entwicklung zu reflektieren und zu definieren. Zusätzlich kann der Coach im zweiten Schritt die Reflexion und Lösungsfindung im Zuge des selbstdefinierten Entwicklungsbilds anregen:

  • Was können Sie tun, um die von Ihnen eruierten Chancen zu nutzen und Risiken zu vermeiden?
  • Wie schaffen Sie es, den von Ihnen definierten Entwicklungspfad zu realisieren?
  • Auf welche Ressourcen könnten Sie hierbei zugreifen?

Voraussetzungen

Voraussetzung für den erfolgreichen Einsatz des Baums der Entwicklung ist, dass die Systematik und die einzelnen Symbole des Baums verinnerlicht werden, um die mit Hilfe des Tools zu entwickelnde Klarheit über die eigene Entwicklung zu ermöglichen. Bei der Ausführung und Erweiterung einzelner, festgelegter Teilaspekte (Entwicklungsziele, -ressourcen, -pfad, -chancen, -risiken) hat der Klient freien Gestaltungsspielraum, was eine Erweiterung der Handlungsoptionen ermöglicht.

Persönliche Hinweise

Klienten, die sich in der Vergangenheit bereits mit ihrer Entwicklung und ihren individuellen Einflussfaktoren beschäftigt haben, können sich in der Regel sehr schnell in das Tool, dessen Methodik, seine Möglichkeiten und Inhalte einfinden. Die persönliche und berufliche Entwicklung ist in vielen Coachings ein Kernthema. Im privaten Kontext geht es häufig um persönliche Weiterentwicklung, Sinnfragen und Selbstreflexion. Im beruflichen Kontext eher um die Entwicklung in eine verantwortungsvollere oder attraktivere Rolle oder darum, die eigene Beschäftigungs- und Leistungsfähigkeit (unter Berücksichtigung des privaten Umfelds) zu erhalten. Aus den persönlichen Perspektiven der Autoren bedürfen derartige Zielsetzungen einer längeren, kontinuierlichen und ganzheitlichen Reflexion. Die Umfelder, in denen Menschen sich befinden, werden durch die dynamische Arbeits- und Privatwelt komplexer, weshalb eine Komplexitätsreduzierung für eine reliable Entwicklung unabdingbar ist. Der Baum der Entwicklung hilft Klienten, mit größtmöglicher methodischer Vereinfachung alle relevanten Einflussfaktoren einzubeziehen.

Das Tool wurde während der Ausbildung der Autoren zum Systemischen Business-Coach durch die Haufe-Akademie unter Anleitung ihrer Ausbilder Ralf Gasche und Dr. Anna Kreuzer entwickelt und angewandt.

Technische Hinweise

Das Tool lebt von der grafischen Darstellung des persönlichen Baums der Entwicklung. Daher sind entsprechende Visualisierungsmaterialien erforderlich. Es können ein vorgezeichnetes Papier oder vorgefertigte Symbole zum Anheften genutzt werden. Ein Flipchart oder eine Metaplantafel und ein Moderationskoffer sind daher empfehlenswert.

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