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Methoden

360-Grad-Feedbackprozesse

Tipps für Coaches, Berater und Personalentwickler

Blinde Flecken sorgen nicht selten dafür, dass Führungskräfte Entwicklungspotentiale in Bezug auf die eigene Person nicht erkennen. Feedback ist ein probates Mittel, „Lücken“ in der Wahrnehmung zu schließen. Ein 360-Grad-Feedback bezieht dabei die Perspektiven verschiedener Stakeholder mit ein und ermöglicht somit einen umfassenden Abgleich von Selbst- und Fremdbild. Um Konflikten und Kränkungen vorzubeugen, gilt es jedoch, vorausschauend zu handeln und den Prozess – wenn möglich – von einem neutralen Coach begleiten und anleiten zu lassen.

9 Min.

Coaching-Magazin Online, 17.08.2021

Der Erfolg eines Unternehmens basiert zum großen Teil auf den Kompetenzen und den Qualifikationen der Mitarbeitenden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Mitarbeiterzufriedenheit, aber auch die Entwicklungspotentiale und -möglichkeiten des gesamten Kollegiums immer weiter in den Fokus der Personalabteilung rücken. Auf der Suche nach einer erfolgsversprechenden Maßnahme für die Aufdeckung dieser Aspekte haben sich 360-Grad-Feedbackprozesse immer mehr etabliert und auch bewährt.

Besonders in Führungsabteilungen ist es wichtig, regelmäßige Feedbackschleifen durchzuführen, die der Führungskraft eine konstruktive Rückmeldung bezüglich ihrer Leistung und der individuellen Entwicklungspotentiale geben. Solche Verfahren sind aber auch für Mitarbeitende ohne Führungsposition durchaus sinnvoll. Da Feedbackprozesse einen großen Einfluss auf das Selbstwertgefühl nehmen und die Durchführung dementsprechende Gefahren birgt, ist es förderlich, systematisierte 360-Grad-Feedbackprozesse zu etablieren. Auf diesem Wege macht es Sinn, zunächst zu klären, was sich eigentlich genau hinter dem Begriff „360-Grad-Feedback“ verbirgt.

360-Grad-Feedbacks im Detail

Ein 360-Grad-Feedback ist eine formalisierte und strukturierte Rückmeldung an Mitarbeitende. Im Gegensatz zu einem klassischen Feedback werden die Mitarbeitenden nicht nur von einer Person, sondern von einer vorher definierten Personengruppe eingeschätzt. Hierzu können beispielsweise Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetze und/oder Kundinnen und Kunden zählen. Die Ergebnisse dieses Vorgangs werden dann mit der Selbsteinschätzung verglichen und ausgewertet. Da es sehr aufwendig sein kann, einen professionellen und aussagekräftigen Fragebogen überhaupt erst zu erstellen und diesen anschließend auszuwerten, ist es sinnvoll, hierfür ein formalisiertes und systematisches Verfahren zu verwenden. Aus diesem Grund setzen bereits viele Großunternehmen digitale Tools oder Software ein, die ihnen durch standardisierte Lösungen einen Großteil der Arbeit abnehmen können.

Aufgrund des Stellenwerts von 360-Grad-Feedbackprozessen lohnt es sich also, einen Blick auf einige grundsätzliche Fragen zu diesem Thema zu werfen. Es soll im Folgenden um die Argumente für (und auch gegen) 360-Grad-Feedbacks gehen, worauf bei der Umsetzung von 360-Grad-Feedbackprozessen geachtet werden sollte und was dabei in der Regel funktioniert bzw. welches Vorgehen nicht erfolgversprechend ist.

Vorteile (und Nachteile) von 360-Grad-Feedbackprozessen

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass ein kompetent durchgeführter Abgleich von Selbstbild und Fremdbild – bezogen auf Themen wie berufliche Kompetenzen, Arbeitsstil, Kommunikationsstil oder Konfliktverhalten – ein großes Entwicklungspotential in sich trägt. Das Entwicklungspotential ist deshalb so groß, weil ehrliches und systematisches Feedback die beste Möglichkeit darstellt, den gefährlichen Bereich unbewusster Defizite im Verhalten einer Person aufzudecken, die andere zwar wahrnehmen, der Person selbst aber verborgen bleiben oder bewusst ignoriert werden. Ein weiterer Vorteil ist die multiperspektivische Betrachtung der Person in 360-Grad-Feedbackprozessen. Wie bereits erwähnt, erfolgt das Feedback nicht auf der Basis einer einzelnen Einschätzung, sondern fußt auf mehreren Meinungen unterschiedlicher Personen. So kann die Rückmeldung an Einzuschätzende objektiviert und von allen Seiten beleuchtet werden.

Das Ergebnis kann die Aufdeckung unerwarteter Potentiale sein, die Einzuschätzenden völlig neue Einblicke zu den eigenen Fähigkeiten erlauben. Gerade im Bereich der Führungskräfteentwicklung kann dies von besonderer Bedeutung sein. Führungskräfte sind ein wichtiger Erfolgsfaktor eines Unternehmens – Potentiale aufzudecken und Kompetenzen dahingehend zu trainieren, ist dementsprechend bedeutend.

Doch es gibt auch Gefahren beim Einsatz von 360-Grad-Feedbackprozessen. Diese sind immer dann kritisch zu sehen, wenn sie nicht freiwillig stattfinden, nicht kompetent umgesetzt oder sogar dazu missbraucht werden, um jemanden mit einem Feedback zu schaden. Um hier intervenieren zu können und eine positive Einstellung bei den Einzuschätzenden zu erwirken, kann es hilfreich sein, eine objektive Person mit in den Prozess einzubinden, die die Durchführung leitet. Optimal wäre beispielsweise ein unabhängiger Coach, der die Gesprächsführung und die Reflexion der Ergebnisse anleitet und als Vermittler zwischen den Teilnehmenden fungiert. Ein Coach kann außerdem sofort eingreifen, wenn das Feedback konstruktive Kritik überschreitet und ins Unangemessene abdriftet. Außerdem ist es sinnvoll, auf ein professionelles Tool für 360-Grad-Feedbackprozesse zurückzugreifen, das ressourcenorientiert funktioniert und auf der Basis eines standardisierten und nicht suggestiven Fragebogens einen umfangreichen Abgleich von Selbst- und Fremdbild erfasst.

Wie sollten 360-Grad-Feedbacks durchgeführt werden?

Es muss stets klar sein, dass ein umfangreicher 360-Grad-Feedbackprozess hohe Anforderungen an die genutzten Datenerhebungsinstrumente und die handelnden Personen stellt. Wie bereits erwähnt, sollte zunächst auf ein Instrument zurückgegriffen werden, mit dem sowohl das Selbstbild als auch die Fremdbilder valide und reliabel erfasst werden können. Hierzu gibt es auf dem Markt inzwischen eine ganze Reihe empfehlenswerter Instrumente. Unabhängig von der Toolauswahl sollte bei der Auswertung der Ergebnisse unbedingt darauf geachtet werden, dass die Einzuschätzenden ein wertschätzendes und konstruktives Feedback erhalten, mit dem sie in Zukunft an sich arbeiten können. Hierbei kann es hilfreich sein, zunächst auf die Stärken des Klienten einzugehen und im Anschluss gemeinsam Entwicklungspotentiale herauszuarbeiten – anstatt Schwächen direkt und ohne jegliche Handlungsimplikationen zu nennen. Natürlich sollte das Ziel einer solchen Methode sein, dass der Klient in jedem Fall einen Mehrwert aus dem Gesagten ziehen kann. 

Folgende Hinweise können als Inspiration oder Einstiegsmöglichkeiten in 360-Grad-Feedbackprozesse dienen:

  • Im ersten Schritt sollte zunächst ein Ansatzpunkt für den Einstieg gewählt werden: Der Fokus des Feedbacks kann sich entweder auf die bereits bestehenden Stärken beziehen und somit auf damit verbundene Strategien, diese Stärken noch weiter zu festigen bzw. sie ergebnisorientiert einzusetzen. Ein anderer Weg wäre es, auf die Entwicklungspotentiale des Klienten einzugehen und Vorschläge herauszuarbeiten, wie solche Potentiale auszubauen sind. Gegebenenfalls kann hier auch der Klient entscheiden, welcher Ansatzpunkt gewählt werden soll – je motivierter dieser an die Umsetzung des Feedbacks herangeht, desto höher sind die Erfolgschancen.
  • Positives Wording statt negativer Ausrichtung des Feedbacks: Anstatt von Missständen oder Schwächen zu reden, sollten Begrifflichkeiten wie „Kompetenzen weiter ausbauen“ oder „Entwicklungspotentiale aufdecken“ gewählt werden.
  • Dem Klienten die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis geben: Es ist immer hilfreich, einem Klienten selbst die Chance zu geben, die eigenen Entwicklungsfelder aufzudecken. Diese Vorgehensweise wirkt dem Gefühl entgegen, von außen vorgeschrieben zu bekommen, an welchen Stellen  noch zu arbeiten ist. Das eigene Aufdecken von blinden Flecken gibt Selbstvertrauen und im Idealfall eine innere Motivation, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. 

Um den größtmöglichen Erfolg aus einem 360-Grad-Feedback zu ziehen, sollten außerdem die jeweils erfassten Bausteine des eingesetzten Analysetools sehr klar und deutlich erläutert werden, damit die Einzuschätzenden genau wissen, auf welche Verhaltenstendenzen sich das jeweilige Feedback bezieht. So können Fehlinterpretationen oder Missverständnissen vorgebeugt werden. Und besonders wichtig: Es sollten Zielvereinbarungen mit den Einzuschätzenden getroffen werden, um so Lernerfolge sichtbar zu machen. Nicht selten passiert es, dass nach einem Feedbackgespräch der Fokus nicht richtig gesetzt wird und Unklarheit bezüglich der Entwicklungsrichtung herrscht.

Darüber hinaus kann es hilfreich sein, die Feedbackgebenden zu anonymisieren. So kann verhindert werden, dass zwischen den Einzuschätzenden und den Einschätzenden Konflikte entstehen.

Für wen sollten 360-Grad-Feedbacks durchgeführt werden?

Die zentrale Zielgruppe für 360-Grad-Feedbacks sind Führungskräfte und Nachwuchsführungskräfte. Für diese Personengruppen ist eine möglichst hohe Passung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung von besonderer Bedeutung, da Abweichungen in der Selbst-/Fremdwahrnehmung fast unweigerlich zu Problemen im Führungsprozess führen. Aber auch alternative Einsatzformen der Feedbacks sind sinnvoll. So können diese z.B. im kleineren Rahmen bei der jährlichen Mitarbeiterbeurteilung eingesetzt werden, wenn die Führungskraft eine Fremdwahrnehmung und der Mitarbeitende eine Selbstwahrnehmung ausfüllt, die dann im Gespräch miteinander verglichen und besprochen werden.

Welche Voraussetzungen sollten für einen erfolgreichen Feedbackprozess erfüllt sein?

Zunächst einmal sollten solche Feedbackprozesse immer freiwillig durchgeführt werden. Nur dann ist gewährleistet, dass die Ergebnisse auch angenommen werden und einen echten Nutzen stiften. Bestehen Ressentiments bzw. Ängste gegenüber der Methode, kann der gesamte Prozess auch negativ verlaufen. Aus diesem Grund ist es hilfreich, die Teilnehmenden und insbesondere die Einzuschätzenden im Vorhinein über den Zweck des Feedbacks zu informieren und Hinweise zur Zielsetzung des Feedbacks sowie die Links für die Bearbeitung des jeweiligen Analysetools zu geben. Hierbei sollte klar werden, dass es sich nicht um eine defizitorientierte Maßnahme handelt. Vielmehr geht es um konstruktives Feedback, das dem Klienten die Möglichkeit geben soll, sich weiterzuentwickeln. Im Idealfall können so Ängste vor Kränkungen bzw. eine allgemeine Unsicherheit in Bezug auf Bewertungen durch andere abgebaut werden.

Auf der anderen Seite müssen die Feedbackgebenden ehrlich und ohne Angst vor Konsequenzen antworten können, damit der Prozess nicht zu einer reinen „Jubelarie“ ohne inhaltlichen Mehrwert verkommt. Daher kann es in einigen Fällen ratsam sein, die Feedbacks anonymisiert in einer Gesamtübersicht darzustellen. Dies ermöglicht noch immer einen interessanten Einblick in die Fremdsicht, ohne ein zu großes Konfliktpotential zu schüren.

Was sollte gemessen werden?

Für einen modernen und ganzheitlichen 360-Grad-Feedbackprozess sollten unterschiedliche Bereiche der Persönlichkeit erfasst und dargestellt werden, die für die eingeschätzte Person von beruflicher Relevanz sind. Ein aussagekräftiges Kompetenzprofil sollte in jedem Fall Teil des Prozesses sein, aber daneben sollten auch weitere Teilbereiche der Persönlichkeit erfasst werden, bei denen es zu Abweichungen zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung kommen kann. Hierzu zählen beispielsweise Arbeitsstil, Kommunikationsstil oder Konfliktverhalten.

Da die menschliche Persönlichkeit ein sehr komplexes Konstrukt darstellt und es diverse pseudowissenschaftliche Ansätze zur Messung und Darstellung gibt, sollte bei der Auswahl eines Analysetools für 360-Grad-Feedbackprozesse unbedingt auf Professionalität geachtet werden. Ein Indikator für eine wissenschaftliche Basis solcher Analysetools ist beispielsweise die Messung auf der Basis der Big-Five-Faktoren (siehe z.B. LINC, 2021). Das Fünf-Faktoren-Modell ist ein fundiertes Modell für die Erfassung und Darstellung der menschlichen Persönlichkeit. 

Wie geht es weiter?

Am Ende des Feedbacks sollten unbedingt klare Ziele definiert werden, die im Laufe der Weiterentwicklung erreicht werden sollen und an denen sich die Klienten orientieren können. Diesen sollten im Idealfall konkrete Ideen mit auf den Weg gegeben werden, die dabei helfen, die Ziele zu erreichen. Darüber hinaus sollte sichergestellt sein, dass hierfür alle nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Im Idealfall arbeitet der Klient gemeinsam mit einem Coach an den identifizierten Entwicklungsfeldern. Im besten Fall erhalten Mitarbeitende nach dem 360-Grad-Feedbackprozess außerdem die Möglichkeit, an Weiterbildungen teilzunehmen, die beispielsweise fachspezifische Fähigkeiten festigen können. So wird sichergestellt, dass nach dem Feedback auch alle nötigen Schritte in die Wege geleitet werden, damit dieses auch genutzt und Entwicklungspotentiale explizit umgesetzt werden.

Literatur

LINC (2021). DAS BIG FIVE MODELL. Entstehung, Studien und zeitgemäße Umsetzung des BIG FIVE Modells. Abgerufen am 13.08.2021: https://linc-institute.de/das-big-five-modell/

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