Nach oben

Portrait

Interview mit Karsten Drath

Was Resilienz ausmacht – individuell, im Team und organisational

Wie gelingt Resilienzförderung? Coach Karsten Drath setzte sich intensiv mit dieser Frage auseinander. Ergebnis ist u.a. das FiRE-Modell, das acht Sphären unterscheidet und bei der Leadership Choices GmbH, die Drath als Managing Partner mit leitet, als Grundlage der Arbeit mit Führungskräften im Kontext Resilienz dient. Aus Leadership Choices ist die Cosmikk-Foundation entsprungen. Sie unterstützt sozial engagierte Organisationen. Um Gelder für die Stiftung zu sammeln, fährt Drath etappenweise mit dem Fahrrad um die Welt – ein Schritt aus der Komfortzone, was wiederum resilienzfördernd wirkt.      

23 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2023 am 22.02.2023

Ein Gespräch mit David Ebermann

Karsten Drath

Im Juni 2022 haben Sie – gemeinsam mit Uwe Achterholt – die Cosmikk-Foundation gegründet. Worin bestehen die Ziele der Stiftung?

Die Ziele der Cosmikk-Foundation bestehen darin, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich sozial, humanitär und ökologisch engagieren, Zugang zu Coaching, Teamentwicklung und Organisationsentwicklung zu ermöglichen – entweder kostenlos oder stark vergünstigt. Dazu arbeitet die Foundation in drei Richtungen. Ein Ansatz besteht darin, Geld einzuwerben. Dies geschieht beispielsweise über Fundraising oder Partnerschaften mit anderen Stiftungen oder Unternehmen, die Unterstützung leisten möchten. Der zweite Punkt ist die Vorqualifikation von NGOs, die sich durch Coaching begleiten lassen wollen. Es ist längst nicht selbstverständlich, dass eine Organisation Coaching in Anspruch nehmen möchte. Die dritte Stoßrichtung ist die Bereitstellung qualifizierter Coaches. Hierbei arbeitet die Stiftung u.a. mit der Leadership Choices GmbH, die Uwe Achterholt und ich als Managing Partner leiten dürfen, und ihrer digitalen Coaching-Plattform Cosmikk zusammen.

Wie kam es zur Gründung der Stiftung?

2021 haben wir nach der Flutkatastrophe als Firma beschlossen, im Ahrtal tätig zu werden. Von der Flut betroffenen Unternehmerinnen und Unternehmern haben wir das Angebot gemacht, sie durch Coaching zu unterstützen. Dabei merkten wir, dass es schwierig war, Vertrauen aufzubauen. Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen sind wir nicht aus dem Ahrtal. Zum anderen war das Thema Coaching vielen kein Begriff. Vor allem begegnete uns aber immer wieder die Frage, weshalb eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Firma anbietet, kostenlos zu arbeiten, und welche Hintergedanken wir dabei haben. Selbst dann, wenn Leute alles verloren hatten, mussten wir regelrecht gegen diese Vorbehalte anarbeiten. Die Frage ist auch berechtigt. Daher haben wir beschlossen, unser Engagement auf eine ordentliche Basis zu stellen, um die Aufrichtigkeit unseres Anliegens zu unterstreichen. Wir gründeten eine gemeinnützige Stiftung, die keine marktwirtschaftlichen Interessen verfolgt. 

Im Ahrtal arbeiten Sie mit der Hilfsorganisation Dachzeltnomaden zusammen. Wie sieht das aus?

Die meisten Hilfsorganisationen haben ihre Arbeit vor Ort eingestellt, obwohl die Menschen dort noch sehr lange viele helfende Hände benötigen werden. Der Politik war es offenbar wichtig, zu zeigen, dass man wieder alles unter Kontrolle habe. Der Katastrophenzustand wurde daher aufgehoben. Hilfsorganisationen wurde die öffentliche Finanzierung gesperrt. Da die Dachzeltnomaden privat bzw. von der Aktion Deutschland hilft finanziert sind, stellen sie eine der wenigen noch vor Ort agierenden Organisationen dar. Wir unterstützen die Dachzeltnomaden mittels Einzel-Coaching der Mitglieder des Ältestenrats, der den harten Kern bzw. den Führungskreis der Organisation bildet. Außerdem bieten wir Teamentwicklung sowie Konfliktmoderation an und stehen der Geschäftsführung mit strategischer Beratung zur Seite. Durch die Zusammenarbeit haben wir sehr viel über den dritten Sektor gelernt, sodass wir Konzepte, die wir in unserer Arbeit mit privatwirtschaftlichen Unternehmen anwenden, nun auch auf zivilgesellschaftliche Organisationen übertragen können. Dabei handelt es sich z.B. um Konzepte der Resilienzarbeit – auch aus dem Bereich der organisationalen Resilienz. Die Zusammenarbeit ist für alle Seiten wertvoll.

Welche konkrete Rolle spielt das Thema Resilienzförderung in diesem Zusammenhang?

Im Ahrtal steht man vor einer unlösbaren Aufgabe. Einer kleiner werdenden Anzahl an Helfern und endlichen Geldern steht Arbeit für viele Jahre gegenüber. Man ist nie fertig. Anfangs – im Katastrophenmodus – haben die Dachzeltnomaden an sieben Tagen in der Woche auf den Baustellen gearbeitet. Nach einem halben Jahr sagen aber selbst der stärkste Körper und die robusteste Seele: Jetzt ist es mal gut! Das war auch zu spüren. Die Organisation war erschöpft. Man hat erst die Sechs- und jetzt die Fünftagewoche eingeführt. Das Camp wurde Anfang 2023 für einen Monat in Betriebsferien geschickt, damit die Mitarbeitenden sich regenerieren können. Auf der individuellen Ebene spielt Resilienz eine wichtige Rolle, weil jeder mit seinen eigenen Themen konfrontiert wird. Manche erfahren gar Retraumatisierung, weil sie permanent das Leid der Betroffenen sehen. Zudem leben die Dachzeltnomaden, wie es ihr Name bereits sagt, vor Ort in einem Camp, das sich auf einem Feld mitten in einem Wald befindet. Dort ist es im Winter dunkel, nass und kalt. Es gibt keine trockenen Rückzugs- oder Aufenthaltsräume, nur ein großes Zelt. Man kann sich nicht aus dem Weg gehen, weshalb auch Konflikte nicht ausbleiben. Das alles belastet natürlich.

Welche weiteren Organisationen und Projekte unterstützt die Cosmikk-Foundation?

Wir unterstützen die zis-Stiftung. Sie vergibt Stipendien für Studienreisen an junge Menschen – nicht basierend auf akademischen Leistungskriterien, sondern aufgrund der individuellen Motivation der Interessierten. Das Angebot richtet sich insbesondere an Kinder von Eltern, die nicht aus dem Bildungsbürgertum stammen. Die jungen Leute zwischen 16 und 20 Jahren suchen sich ein Thema aus und reisen alleine für mindestens einen Monat – gerne auch länger – ins Ausland, nehmen aber kein eigenes Geld mit, sondern nur die Stipendiensumme von aktuell 800 Euro. Das ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. D.h., sie müssen auf andere Menschen zugehen, sich Hilfe suchen und treten dadurch meilenweit aus ihrer Komfortzone heraus. Als ich ein junger Mann von 17 Jahren war, durfte ich das Angebot selber in Anspruch nehmen. Für mich war das sehr bedeutsam. Begriffe wie Selbstwirksamkeit, Persönlichkeitsentwicklung oder Resilienz waren mir damals noch völlig fremd, aber ich merkte bereits, dass die Reise meiner Entwicklung zugutekam. Die zis-Stiftung war die erste Organisation, die wir unterstützten. Den Stipendiaten werden Mentoren zur Seite gestellt. Diese wiederum werden von uns weitergebildet und begleitet. Sie kriegen auch Coaching-Skills vermittelt. Es gibt also auch hier eine Verquickung von der Bereitstellung von Geldern und der Vermittlung von Know-how, das in die Organisation hineingetragen wird. 

Ein Projekt zur Unterstützung Geflüchteter führen Sie gemeinsam mit der International Coach Federation (ICF) durch …

Richtig. Wir betreiben die digitale Coaching-Plattform Cosmikk. Diese ermöglicht es potenziellen Coaching-Klienten, sich selbstständig einen Coach zu suchen. Natürlich haben wir die Plattform ursprünglich für den Einsatz in Unternehmen entwickelt. Wenn ein Unternehmen ein leicht verfügbares Coaching-Angebot – z.B. für eine bestimmte Managementebene – schaffen möchte, kommen wir ins Spiel. Gemeinsam mit der Personalabteilung wird nach gewissen Kriterien ein Coach-Pool zusammengestellt und ein Rahmenvertrag aufgesetzt. Für die potenziellen Klienten ist es dann eine einfache Sache: Sie laden sich die App runter, in der sie anhand der Beantwortung vier einfacher Fragen ihre Coach-Shortlist generieren und mit den Coaches in Kontakt treten können. In der App kann es dann ohne Medienbruch und relativ kurzfristig ins Coaching gehen. Die Technologie ist aber in vielen Kontexten einsetzbar und als der Angriffskrieg auf die Ukraine begann, haben wir mit der ICF vereinbart, dass wir die Plattform kostenlos zur Verfügung stellen. Wir haben die Inhalte ins Ukrainische übersetzt, sodass sich Geflüchtete anmelden können, um sich einen Coach zu suchen. Auf der anderen Seite haben sich viele Coaches aus ganz Europa und sogar Nordafrika registriert, um ihre Unterstützung anzubieten – ein tolles Engagement. Die Plattform hilft beiden Seiten beim Matching.

Karsten Drath in den Rocky Mountains

Karsten Drath in den Rocky Mountains, © Foto: privat

Um Spenden zu akquirieren, fahren Sie bereits seit 2017 etappenweise mit dem Fahrrad um die Welt. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Das frage ich mich auch jedes Jahr aufs Neue. (lacht) Ein Freund und Kollege ist mit dem Fahrrad über die Alpen gefahren und hat damit Geld gesammelt. Ich fand die Idee schön. Zudem bin ich bereits auf meiner zis-Reise mit dem Fahrrad nach Schottland gefahren. Ich habe daher eine Affinität dazu. Irgendwann ist in mir der Gedanke gereift: Du könntest das doch auch machen, um etwas Gutes zu tun. Und das habe ich dann auch getan. Die erste Tour ging nach Verona – nach heutigen Standards relativ unspektakulär, aber es waren die Alpen zu überqueren. Die Tour hat mir viel Spaß gemacht und ich wäre gerne noch weitergefahren, wenn die eingeplante Zeit nicht vorüber gewesen wäre. Es folgten dann weitere ähnliche Touren. Irgendwann war das nicht mehr so spannend. Die Aktionen sollten schon fesseln und Wirkung haben, damit Sponsoren auch bereit sind, Gelder zur Verfügung zu stellen. Ich fragte mich dann, wovor ich am meisten Angst hätte – eine gute Coaching-Frage. Dabei stellte ich fest, dass der Gedanke, mit dem Fahrrad um die Welt zu fahren, schon angstbesetzt war. In Europa war ich mittlerweile von Gibraltar bis ans Nordkap, von der Westküste Portugals bis zur deutsch-polnischen Grenze unterwegs. 2022 konnte ich endlich nach Nordamerika reisen und beginnen, Kanada zu durchqueren. Ich fuhr von Vancouver an die Grenze zu Alaska, weiter durch die Rocky Mountains nach Calgary und dann durch die Prairies bis Saskatoon in der Provinz Saskatchewan. 2023 geht es von Saskatoon ca. 3.000 km weiter nach Montreal und dann – nochmals etwa 2.500 km – nach St. Johns auf Neufundland, die östlichste Ecke Kanadas. Wenn diese Strecke absolviert ist, bin ich 10.000 km durch Kanada gefahren. Danach soll es von der deutsch-polnischen Grenze nach Südosteuropa, in die Türkei, den Iran, Irak und nach Kasachstan gehen – mit dem Ziel, schlussendlich in Shanghai anzukommen. Anschließend stehen Australien und Neuseeland auf dem Programm.

Welche Erfahrungen haben Sie aus Kanada mitgebracht?

Nur die besten. Ich war schon vor der Tour großer Kanada-Fan. Mittlerweile bin ich durch 13 Länder geradelt und kann sagen: Kanada ist mein liebstes. Die Kombination aus sehr herzlichen, gastfreundlichen Menschen, toller Natur, der Weite des Landes, der Intensität des Wetters und der Tierwelt ist einmalig und hat mich sehr fasziniert. Ich hatte Begegnungen mit Bären, Elchen, Weißkopfseeadlern und Wapitis – diese Riesenhirsche. Das alles war extrem beeindruckend. Wenn man in dieser Umgebung mit einem kleinen Zelt unterwegs und dem Wetter ausgesetzt ist, wird man sehr demütig. Ich bin in einen Blizzard geraten – das ist eine andere Liga als ein gewöhnliches Gewitter in Deutschland. Die großen Entfernungen kommen hinzu. Man ist einfach dankbar für jedes Geschäft, dass man nach 100 oder teils 200 km findet. Das sind Dimensionen, die man aus Europa nicht kennt.   

Schon im Vorfeld der Tour äußerten Sie großen Respekt vor Begegnungen mit Bären …

Das stimmt. (lacht) Einmal ist ein Bär in zehn Metern Entfernung an meinem Zelt vorbeigelaufen. Da hatte ich ordentlich Blutdruck, zum Glück interessierte sich der Bär aber nicht für mich. Die Frage ist natürlich, was ich hätte tun können, wäre er interessiert gewesen. Allerdings habe ich immer auf offiziellen Campingplätzen übernachtet, um kein unbilliges Risiko einzugehen. Dort gibt es Sicherheitsvorkehrungen und man kann sich mit den Nachbarn vernetzen, um z.B. seine Nahrung in deren Autos unterzubringen. Ein kleines Restrisiko bleibt natürlich. Eine Ausnahme stellten die Columbia Icefields dar. Das ist Grizzly-Gebiet, was nicht so lustig ist, da Grizzlys weniger kooperativ, größer und aggressiver sind als Schwarzbären, die als vergleichsweise entspannt gelten. Dort habe ich mir einen Platz in der Nähe von Hundebesitzern gesucht. Hunde schlagen an, wenn sie einen Bären wittern. So gewinnt man im Zweifelsfall Zeit, sich zu sammeln. Dass ich dort unruhig geschlafen habe – mit dem Bärenspray im Schlafsack –, gebe ich gerne zu. Tatsächlich stehen meinen insgesamt drei Bärenbegegnungen aber ziemlich viele Begegnungen mit LKW gegenüber, die deutlich gefährlicher waren. In Kanada wird sehr intensiv Holz abgebaut und so begegnete ich häufig 40-Tonnern, die randvoll mit Holzstämmen beladen waren und mit Tempo 100 an mir vorbeifuhren. Die Seitenstreifen sind teilweise recht schmal, sodass es sehr eng wurde. Das war ein realistisches Drohpotenzial. Ein Fahrfehler und es wäre vorbei gewesen – da hätte ich nicht mal mehr „pieps“ sagen können. Zum Glück war dies auf meiner Tour aber nur in einer Region der Fall.

Nach Angaben der Stiftung konnten Sie mit Ihren Fahrten durch zwölf europäische Länder rund 93.000 Euro an Spenden akquirieren. War die Kanada-Tour in dieser Hinsicht ebenfalls erfolgreich?

Überhaupt nicht. Aus meiner Sicht war es die bisher spektakulärste Tour. Gleichzeitig war es die ökonomisch am wenigsten ertragreiche. Wir fragen im Vorfeld einer Tour Unternehmen, ob sie an einem Sponsoring interessiert sind. Viele Firmen haben 2022 gesagt: „Wir haben die Aktionen bisher immer unterstützt, aber diesmal setzen wir aus.“ Sie wollen sich für die aufkommende Rezession gut aufstellen und scheuen daher unnötige Kosten. Zudem denke ich, dass wir noch bekannter machen müssen, was die Cosmikk-Foundation ist und leistet. Dass wir Coaching für den dritten Sektor ermöglichen und damit Organisationen zum Florieren bringen bzw. helfen, durch schwierige Zeiten zu kommen, müssen wir noch besser erklären. Dann wird das Fundraising auch wieder gut funktionieren.

Karsten Drath am Nordkap

Karsten Drath am Nordkap © Foto: privat

Wir haben das Thema Resilienzförderung bereits angesprochen. Sie sind Autor mehrerer Bücher zum Thema und arbeiten mit Top-Managern sowie ihren Teams, um deren Resilienz zu verbessern. Wie sieht Letzteres aus?

Es geht darum, nicht zu versuchen, Herausforderungen mit Härte zu begegnen, was wir bei vielen Führungskräften immer wieder erleben. Oft verhalten sie sich, als seien sie unverwundbar, als hätten sie unendliche Kräfte und Ressourcen ohne Limit. Stattdessen sollten sie sich der Endlichkeit ihrer Ressourcen bewusst sein und sich selbst auf ganzheitlicher Ebene verstehen, z.B. die eigenen Trigger kennenlernen. Dies ist die Ebene der Persönlichkeit im Acht-Sphären-Modell von Leadership Choices, dem FiRE-Modell der Resilienz. FiRE steht für Factors Improving Resilience Effectiveness. Auf der Sphäre der Persönlichkeit geht es um die Frage, wie die Führungskraft gestrickt ist, wie dick ihre Haut ist. Wie viel Stress von außen kommt bei ihr an? Dann schauen wir uns die Sphäre der Biografie an: Welche Ressourcen hält die Lebensgeschichte der Führungskraft bereit? Worauf kann sie aufbauen? Welche Krisen hat sie bereits erfolgreich bewältigt? Welche schönen Momente hat sie erlebt, welche tollen Menschen getroffen? Womit hat sie sich Selbstwirksamkeit bewiesen? Auf der nächsten Sphäre geht es um die Haltung. Wie kommt die Führungskraft aus einem Opfer-Modus in den Gestalter-Modus? Wir sprechen hier ganz bewusst nicht von der Rolle, sondern von einem Modus, weil man diesen verlassen und schneller in andere Modi wechseln kann. Wie schafft es die Führungskraft, statt der Überforderung eine Herausforderung zu sehen? Es geht um die Grundeinstellung, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, und um die Frage, wie dies gelingt. Dann haben wir die Sphäre der mentalen Agilität. Wie gelingt es, mit einem guten Gefühl die eigene Komfortzone zu verlassen und sich damit anzufreunden, auch mal Gebiete zu betreten, auf denen man noch kein Experte ist? Das ist wichtig, weil man in der heutigen Welt ständig mit Situationen konfrontiert wird, die neu sind. Es folgen zwei Sphären, die sozusagen Notfallressourcen abbilden: das Energiemanagement und die Geist-Körperachse. Wie geht die Führungskraft mit destruktiven Gedanken, Denkfallen und dysfunktionalen Glaubenssätzen um? Wie nutzt sie ihren Körper – sei es durch Bewegung, Schlaf, Meditation oder Ernährung –, um die Färbung ihrer Gedanken zu beeinflussen? Die Sphäre der authentischen Beziehungen thematisiert das soziale Netz, das die Führungskraft trägt und aus engen Bezugspersonen besteht, die es gut mit ihr meinen, sie auch in schwierigen Zeiten leistungsunabhängig wertschätzen und die sie nah an sich ranlässt. Die Sphäre der Sinnhaftigkeit fragt: Wozu ist das alles gut? Welchem höheren Sinn dient mein Handeln? Es stärkt, hierfür ein Bewusstsein zu haben. 

Das FiRE-Modell bildet die wissenschaftlich nachgewiesenen Wirkmechanismen ab, die Widerstandsfähigkeit positiv beeinflussen können. Es stellt die Grundlage unserer Arbeit mit Führungskräften – aber natürlich auch mit Mitarbeitenden – im Bereich Resilienz dar. Ebenso ist es die Grundlage unserer Arbeit im Kontext Team-Resilienz, in dem es insbesondere um folgende Frage geht: Wie funktioniert Resilienz im Team und welche Führungsstile und -eigenschaften sind diesbezüglich förderlich bzw. hinderlich? 

Für den Bereich der individuellen Resilienz haben wir zudem ein Instrument der Persönlichkeitsmessung entwickelt, den Executive FiRE-Index. Die Idee besteht darin, dass sowohl die Resilienzfaktoren gemessen werden, die auf zeitstabilen Persönlichkeitseigenschaften – sogenannten Traits – basieren, als auch solche, die man erlernen kann. Diese Resilienzkomponenten bezeichnet man als Habits – Strategien, Rituale, Bewältigungsmechanismen, die man sich im Laufe seines Lebens aneignen kann, auch in der Arbeit mit einem Coach oder durch Workshops. Der Executive FiRE-Index wird immer zweimal durchgeführt – am Anfang des Coachings und dann nochmals zu einem späteren Zeitpunkt, z.B. nach einem halben Jahr. Es wird dann geschaut, welche Veränderungen es nach der Arbeit an sich selbst hinsichtlich der Habits und der Lebenszufriedenheit gibt. 

Neben der individuellen und der Team-Ebene gibt es noch eine weitere Resilienzebene: die organisationale Resilienz. Diesen Aspekt sind wir konzeptionell noch einmal ganz neu angegangen und haben uns gefragt, welche Faktoren die Resilienz von Organisationen beeinflussen, die zwar aus Menschen bestehen, aber auch große Systeme sind und damit der Systemtheorie unterliegen. Mit Resilienz ist in diesem Kontext Langlebigkeit gemeint. Hier gibt es viele Faktoren, die über Leadership hinausreichen: z.B. Besitzstrukturen, Finanzierung, Innovation und der emotionale Kontrakt mit den Mitarbeitenden. Im Zusammenhang mit der organisationalen Resilienz spielen auch Entwicklungsübergänge eine große Rolle. In einem Phasenübergang bzw. Paradigmenwechsel – z.B. von einem traditionellen zu einem modernen Paradigma – funktioniert die alte Welt nicht mehr oder immer schlechter. Die neue Welt ist noch nicht etabliert, sodass Unsicherheit entsteht. In diesem Zustand ist ein Unternehmen „verletzbar“, da negative Einwirkungen von außen ein größeres Schadpotenzial haben. Die Verbindung all dieser Aspekte ist nach den vielen Jahren, die wir uns bei Leadership Choices mit dem Thema Resilienz befassen, zu einer Art Komplettlösung zusammengewachsen.

FiRE-Modell der Resilienz

FiRE-Modell der Resilienz: Acht-Sphären-Modell von Leadership Choices ©Karsten Drath

Welches Führungsverhalten ist der Team-Resilienz abträglich?

Wenn sowohl Selbstwahrnehmung als auch Selbststeuerung bei einer Führungskraft gering ausgeprägt sind, sie über wenig Impulskontrolle verfügt und ihren Emotionen in der Folge freien Lauf lässt, ist dies sehr abträglich. Ist eine Person dann noch sehr temperamentvoll oder gar cholerisch, kann dies dazu führen, dass es zwei Versionen von ihr als Führungskraft gibt. Eine, die an guten Tagen sichtbar wird, und eine, die an schlechten Tagen zum Vorschein tritt. Dies trägt im Team eher zu Stress und Vulnerabilität bei, statt zu Resilienz. Hinzu kommen viele weitere Aspekte. Beispielsweise lösen Mikroverhaltensweisen selbst dann, wenn die Führungskraft die besten Intentionen hat, bei Mitarbeitenden Stress aus. Die Leadership-Forscherin Liz Wiseman spricht hier von Accidental Deminishers – Führungskräfte, die Mitarbeitende klein machen, ohne es bewusst zu beabsichtigen. In unserer Arbeit fokussieren wir jedoch intensiver auf die Frage, was Resilienz fördert, als auf negative Faktoren. Wir fragen: Was ist schon gut und kann noch verstärkt werden? Für das Coaching von Teams, das auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit zielt, haben wir ein weiters Konzept entwickelt, das POWER-Modell. Es geht darum, einen Gleichklang folgender fünf Aspekte zu ermöglichen. Purpose: Warum das Ganze? Orientation: Wo geht die Reise hin? Was sind die Rahmenbedingungen? Was wird erwartet und was bedeutet Erfolg? Wavelength: Wie ist das Miteinander? Besteht ein gutes Teamgefühl? Engagement: Wie steht es um die Motivation? Resilience: Ist das eigene Wohlergehen ein Thema? Unterstützen wir uns gegenseitig? Hier spielt das Thema psychologische Sicherheit hinein.

Mit Blick auf die individuelle Resilienzebene sprachen Sie die Bedeutung der inneren Haltung gegenüber herausfordernden Situationen an. Hätten Sie ein Beispiel aus Ihrer Praxis, das diesen Punkt illustriert?

Wir sind mit dem Führungsteam einer großen deutschen Firma ins Ahrtal gegangen und haben mit dem Team einen Tag auf der Baustelle eines Hotels gearbeitet, das bis zum zweiten Stock überflutet gewesen ist. Am folgenden Tag haben wir das Erlebte miteinander bearbeitet. Solche Maßnahmen sind dazu geeignet, zu reflektieren, wie gut es einem eigentlich geht und welche Privilegien man allein dadurch genießt, dass man gesund ist, ein Haus und ein gutes Auskommen hat. Themen, die vorher riesengroß erschienen, wurden plötzlich als eher klein wahrgenommen. Dankbarkeit bewusst zu praktizieren, ist ein wichtiges Antidot und hilft, den Beschwerdemodus zu verlassen. Damit möchte ich nicht in Abrede stellen, dass es in schmerzhaften Momenten wichtig ist, zu trauern und einen Umgang mit dem Schmerz zu erlernen. Zu oft verschließen wir aber die Augen vor den vielen guten Dingen in unserem Leben und fokussieren uns nur auf das, was uns ärgert. Es geht also darum, wie wir unseren Fokus ausrichten. Das ist ein Grundprinzip der Achtsamkeit. Nimmt man Positives nicht als selbstverständlich wahr, lässt sich daraus Kraft schöpfen. Ein persönliches Beispiel: Ich bin sehr dankbar dafür, ein glückliches Familienleben führen zu dürfen. Meine Frau, die auch Coach ist und bei Leadership Choices arbeitet, und ich haben vier Kinder. Aus diesem Glück ziehe ich viel Kraft.

Bezüglich mentaler Agilität sprechen Sie auch von einem „Muskel“, der zu trainieren ist. Wie ist das zu verstehen?

Um die mentale Agilität zu stärken, ist es notwendig, sich mit Neuem auseinanderzusetzen, das außerhalb der eigenen Komfortzone liegt. Um dies zu können, muss man erst einmal in der entsprechenden Ressourcenlage sein. Ist man schon total erschöpft und kommt – bildlich gesprochen – auf den Felgen angerollt, führt das Verlassen der Komfortzone nur zu negativem Stress. Es gilt also zunächst, die Batterien aufzuladen. Anschließend ist es wichtig, immer wieder Neues auszuprobieren, um die eigene Flexibilität zu trainieren. 

Ich bin jetzt 52 Jahre alt, habe kürzlich angefangen zu singen und bin vermutlich der Schlechteste im Chor. Ich versuche es aber einfach, weil es mir großen Spaß macht und es eine spannende Erfahrung ist. Dasselbe gilt für die Radtouren. Jedes Jahr versetzen sie mich erneut in einen mittleren Panikzustand. Vor etwa zwei Jahren haben wir zudem unseren Podcast „Leaders Talk“ gestartet, einen biografischen Interview-Podcast für Führungskräfte aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, die sich für bessere Führung, bessere Organisationen und eine bessere Welt engagieren. Der Podcast ist – nachdem er anfangs auch etwas Neues für mich war – zu einer echten Herzensangelegenheit geworden. Es können aber auch sehr kleine Dinge sein, wie im Café zu arbeiten, einen neuen Arbeitsweg zu nehmen oder jemanden kennenzulernen, der einen ganz anderen Beruf hat als man selber. Ein Künstler wird auf vieles ganz anders blicken als ein Ingenieur und eine andere Sinnstiftung haben. 

Wenn man sich, seinen Körper, sein ganzes System darauf konditioniert, mit Neuem konstruktiv und mit Neugierde zu begegnen, fällt auch der Umgang mit Unvorhergesehenem leichter. Macht man hingegen immer alles wie gehabt, empfindet man viel schneller Stress, wenn irgendetwas aus der Bahn gerät. All diese Maßnahmen der Resilienzförderung sind keine Astrophysik. In der Arbeit mit den Menschen geht es uns aber darum, diese anhand eines leicht verständlichen und niederschwelligen Angebotes ins Handeln zu bringen und ihnen gezielt aufzuzeigen, an welchen Stellen sie etwas unternehmen können, um besser auf sich zu achten.

Bei Leadership Choices haben sie ein Fünf-Phasen-Coaching-Modell für die Begleitung von Führungskräften in Veränderungsprozessen entwickelt. Wie sieht die Arbeit mit dem Modell aus?

Die erste Phase lautet Awareness: Was ist im Umfeld der Führungskraft los? Unsere Coachings beginnen zumeist mit Feedback. Zu diesem Zweck führen wir Stakeholderinterviews oder Online-Befragungen mit ausgewählten Personen durch, z.B. Mitarbeitenden, Kollegen und Vorgesetzten. Zudem wird das Selbstbild des Klienten ermittelt, um Selbst- und Fremdeinschätzung abzugleichen. Das alles geschieht, um die Selbsterkenntnis zu verbessern. Daraus ergibt sich die Phase Plan: Was soll erreicht werden? Was soll nach dem Coaching anders sein und worin besteht die Motivation des Klienten? Die Phase der Choicepoints besteht darin, der Führungskraft immer wieder vor Augen zu führen, dass sie eine Wahl hat und dass es ihre Aufgabe ist, Wahloptionen für sich zu generieren. Wenn sie dann zu einer Option „ja“ sagt, muss sie dazu in der Lage sein, zu anderen „nein“ zu sagen. Daher kann es in dieser Phase auch darum gehen, an den inneren Antreibern oder Glaubenssätzen zu arbeiten, um sich der inneren Saboteure bewusst zu werden. Die Integrationsphase zielt darauf, das Erarbeitete ins tägliche Leben zu überführen – z.B. durch Verhaltensexperimente und Hausaufgaben, die in der folgenden Session gemeinsam reflektiert werden. Den Abschluss bildet die Phase Results, in der die Erfolge gefeiert werden. Führungskräfte neigen oftmals dazu, zwar auf ein Problem zu fokussieren, es aber nicht wirklich zu honorieren, sobald es gelöst ist. Indem man nochmals genauer hinschaut, weshalb etwas gut funktioniert hat, stärkt man das Selbstwirksamkeitsempfinden der gecoachten Person. 

Die Phasen bauen nicht statisch aufeinander auf, sondern greifen in der Praxis durchaus ineinander. Bei der Gestaltung des Coachings sind die Mikro- und die Makro-Ebene zu betrachten. Auf der Makro-Ebene gibt es einen Prozess, der vielleicht ein halbes Jahr dauert und einen bestimmten Auftrag verfolgt. Es gilt, das vereinbarte Ziel zu erreichen. Auf der Mikro-Ebene kann aber nur mit der Person gearbeitet werden, die tatsächlich durch die Tür kommt. Lautet das Ziel z.B., das Selbstbewusstsein einer Führungskraft zu verbessern, die aber gerade eine schwere Scheidung durchmacht, ist es möglicherweise angebracht, die Person zunächst im Umgang mit dieser Belastung zu stärken. Man muss also immer beachten, was die individuelle Situation hier und heute hergibt.

Bevor Sie Coach wurden, sammelten Sie umfangreiche Führungserfahrung. Welche Stationen haben Sie besonders geprägt?

Stark geprägt hat mich meine Zeit in der Unternehmensberatung, vor allem bei Accenture. Das war eine hervorragende Grundausbildung in Sachen Problemlösungskompetenz. Wir hatten ein tolles Team aus Leuten, die schnell im Kopf sind, gerne anpacken und einen Unterschied machen. Das war einfach inspirierend. Von Accenture ging es für mich zu Bombardier, wo ich in noch recht jungen Jahren für ein Team von 200 Personen zuständig war, das international große Veränderungsprozesse leitete. Das war meine erste echte – gleich ziemlich große – Führungsfunktion und für mich sehr herausfordernd, weshalb ich mich damals von einem Coach begleiten ließ. Ich brauchte einen Reflexionspartner ohne Eigeninteressen. Coaching habe ich also in der Rolle des Klienten kennengelernt. Das war eine sehr positive Erfahrung und so absolvierte ich nach meiner Zeit bei Bombardier selbst eine erste Coaching-Ausbildung. 

Nach einer Station bei Perrot Systems wurde ich Managing Director im europäischen Consulting-Geschäft bei Dell, wollte aber auch immer mehr über Coaching wissen und durchlief weitere drei Ausbildungen. Der Job bei Dell hat einerseits viel Spaß gemacht, da wir die spannende Aufgabe hatten, eine Consulting-Einheit grundlegend aufzubauen. Andererseits ging es mir zu wenig um die Menschen. Die technologische Seite reizte mich weniger. Daher entschied ich, bei Dell aufzuhören und mich zum Heilpraktiker für Psychotherapie ausbilden zu lassen. Das war ein lebensveränderndes Erlebnis. Teil der Ausbildung war ein klinisches Praktikum in einer Privatklinik, das mich sehr beeindruckte. Mit den Patienten – viele hatten Managementfunktionen inne – konnte ich mich identifizieren und ich fragte mich: Warum sitzen die mit Depressionen oder Burn-out auf der Seite des Patienten und ich auf der des Therapeuten? Das war der Anstoß, mich mit dem Thema Resilienz theoretisch auseinanderzusetzen. Die Modelle, mit denen ich mich dann beschäftige, waren nicht falsch, aber es fehlte einiges – Aspekte wie Psychoneuroimmunologie, Hirnforschung oder Epigenetik waren nicht berücksichtigt. Das gab mir die Motivation, das FiRE-Modell zu entwickeln. Bei Leadership Choices bin ich nun seit 14 Jahren. Mittlerweile haben wir 150 Coaches in 16 Ländern. Ich coache zwar noch sehr gerne, bin aber wieder mehr in der Managementrolle. Die Arbeit an der Firma bereitet mir aber genauso viel Freude wie die in der Firma.

Themen

Dieser Artikel gefällt Ihnen?

Dann unterstützen Sie unsere redaktionelle Arbeit durch den Abschluss eines Abonnements und ermöglichen Sie es uns, auch in Zukunft fundiert über das Thema Coaching informieren zu können.