Wertschätzend zu sein, bedeutet für mich, mein Gegenüber so zu nehmen, wie es ist, und ihm mit Akzeptanz zu begegnen. Ich möchte die Person respektvoll da abholen, wo sie sich gerade befindet. In der Coaching-Praxis heißt das, zunächst zu schauen, was für die andere Person der nächste logische Schritt ist, anstatt mein eigenes Programm durchzuziehen.
Ja. Ich sehe starke Parallelen zwischen der Haltung guter Coaches und jener von Appreciative Inquiry – einem Modell, mit dem ich gerne arbeite.
Appreciative Inquiry – wertschätzendes Fragen – ist in den 80er-Jahren in Cleveland entstanden und bietet einen sicheren und strukturierten Rahmen, um Innovation und Zusammenarbeit anzuregen. Federführend entwickelt wurde es von David Cooperrider. Im Zuge seiner Promotion führte er eine Organisationsveränderung durch. Dabei fokussierte er sich weniger auf die Aspekte, die in der Organisation nicht optimal funktionierten, sondern auf das, was bereits gut lief. Mit dieser Herangehensweise, die ein anderes, nicht defizitorientiertes Denken widerspiegelt, erzielte er einen sehr guten Effekt, sodass er in der Folgezeit Prinzipien und Schritte herausdestillierte, die eine Reproduktion seines Vorgehens ermöglichen. Das Modell ist sowohl in der Arbeit mit einzelnen Personen als auch mit Gruppen oder gar ganzen Städten anwendbar. Ein berühmtes Beispiel ist Imagine Chicago, als die Stadt 1992 auf diesem Wege neu erdacht wurde.
Am Anfang steht die Define-Phase. Hier wird erst einmal geklärt, was die Klientinnen und Klienten wirklich möchten. Es geht darum, einen uneingeschränkt positiven Wunsch zu formulieren. Ein Team, das ich begleitete, wünschte sich z.B., fröhlich zusammenzuarbeiten. Hier kamen die wertschätzende Haltung und die Fähigkeit, sich selbst zurückzunehmen, ins Spiel, denn ich dachte zunächst: Das ist alles? (lacht) Aber im Team wussten alle, was gemeint ist, und kamen in ihre Energie. An dieser Stelle hat man den Frame.
Es folgt die Discover-Phase, in der herausgearbeitet wird, was hinsichtlich des formulierten Wunsches schon gut funktioniert. Dieser positive Fokus fungiert als Türöffner und verdeutlicht den Teilnehmenden, dass das Ziel tatsächlich erreichbar ist. Die Botschaft lautet dann nicht: Ab Montag beginne ich damit. Sie lautet: Ab Montag mache ich mehr von dem, was ich schon getan hab. Das bestärkt. Empowerment spielt bei Appreciative Inquiry eine wichtige Rolle. Im Beispiel ging es z.B. um die Fragen: Was bedeutet Fröhlichkeit für euch? Wo habt ihr bereits fröhlich zusammengearbeitet? Wie definiert ihr Zusammenarbeit? Wichtig ist der Grundsatz: The method follows the message. Die eingesetzten Methoden sollten mit dem formulierten Wunsch kongruent sein und es den Personen ermöglichen, den angestrebten Zustand bereits im Prozess zu erfahren. Im Beispiel hieß das, Aufgaben zu vereinbaren, die Zusammenarbeit beinhalten bzw. anregen. Am Ende dieser Phase werden die Ergebnisse zusammengetragen.
Dann wird es „frivol“, denn in der nächsten Phase, die als Dream bezeichnet wird, springen wir direkt in die Zukunft und schauen auf die sonnige Wiese, die sich hinter dem Schatten, dem Problem, befindet. Dabei kommen Methoden zum Einsatz, die man z.B. auch aus dem Ansatz der Lösungsorientierung kennt, beispielsweise die Wunderfrage. Was wäre, wenn das Team die Samen, die es in der vorherigen Phase gefunden hat, keimen und aufblühen ließe? Wie sähe es aus, wenn die Blumen bereits schön und groß wären, und alles funktionierte? Man sollte realistisch bleiben, z.B. was den Einfluss eines gecoachten Teams auf das Gesamtsystem betrifft, und keine falschen Versprechungen machen. Innerhalb des Möglichen darf aber geträumt werden. Dabei arbeite ich gerne mit kreativen Methoden, um beide Gehirnhälften zu nutzen, den Klientinnen und Klienten eine neue Erfahrung zu ermöglichen und zusätzlich Informationen zu gewinnen. Es wird gemalt, Lego gebaut oder – wenn genug Zeit zur Verfügung steht – Theater gespielt. Auf Basis der gewonnenen Einsichten gilt es, näher zu verstehen, worum es bei dem Wunsch ganz konkret geht, und einen Eindruck zu erlangen, wie die Umsetzung in der Praxis aussehen könnte.
Abb.: Fünf Phasen von Appreciative Inquiry
Ja, die Design-Phase zielt darauf ab, den „Heißluftballon“, den man zuvor kreiert hat, mit der Realität zu verbinden, Strategien und Pläne für die Umsetzung zu entwickeln. In dieser Phase wird es praktisch. Dabei besteht die Gefahr, ins Projektmanagement zu verfallen und To-do-Listen anzufertigen, bis das Vorhaben letztlich im Alltag versandet. Stattdessen nutze ich die Energie des Teams und frage: Was wäre jetzt der nächste kleine, elegante Schritt mit dem höchsten Impact, den ihr gehen könnt? Welche der Themen, die sich im Prozess herauskristallisierten, wollt ihr ins Hier und Jetzt holen? Was wollt ihr ausprobieren? Wofür wollt ihr Stewards sein? Anstatt eine Brücke in die Zukunft zu bauen, wie es in vielen Coachings der Fall ist, wird die erwünschte Zukunft bei Appreciative Inquiry in die Gegenwart eingeladen und gefragt, wie sie heute schon erlebt werden kann. Wie kann heute schon Platz dafür geschaffen werden und was wird dafür benötigt? Mittels dieser Herangehensweise sollen die Menschen in Aktion gebracht werden. Das hat etwas Generatives.
Dabei wird nicht funktionsgerichtet zugeordnet, wer was macht, sondern anhand der intrinsischen Motivation gewählt. Die Beteiligten werden so von Teilnehmenden zu Ownern und setzen sich für ihre Bereiche ein – weil sie wirklich Lust darauf haben. So nimmt man das ganze Team mit. Die Führungskräfte haben in diesem Prozess zum einen dafür zu sorgen, dass die Mitarbeitenden die Möglichkeit haben – die notwendige Zeit, das Budget etc. –, ihre Aufgaben überhaupt anzugehen. Zum anderen sollten sie sie immer wieder ermutigen, damit das innere Flämmchen weiterhin brennt. Sonst passiert nichts. Natürlich ist es wichtig, dass es auch Follow-ups gibt und gefragt wird, was tatsächlich geschehen und wie das gelaufen ist. In dieser Phase kommt es dann auch zu den schwierigen Gesprächen über die Hürden und Probleme, die von den Beteiligten gesehen werden.
Bei Appreciative Inquiry geht es nämlich nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, nur um das Positive, das Licht. Auch der Schatten wird einbezogen, jedoch nicht zum Prozessbeginn, sondern zu einem späteren Zeitpunkt, um die Menschen erst einmal in Aktion zu bringen, sie mitzunehmen und die psychologische Sicherheit herzustellen, die notwendig ist, um überhaupt offen auszusprechen, was man schwierig findet. Ein Punkt im Prozess, an dem eine Moderations- und Konfliktlösungsmethode, mit der ich gerne arbeite, gut zum Einsatz kommen kann: Deep Democracy.
Auf die Design- folgt die Destiny/Deliver-Phase, in der es um die Implementation, um die notwendigen Anpassungen und die Weiterentwicklung des Handelns im Alltag geht.
Sie fühlen sich – zugespitzt formuliert – nicht mehr als „Opfer“, die nichts können. Sie nehmen sich nach dem Gespräch als „schön, stark und gut“ war, was sie ja auch sind. Man spiegelt der anderen Person, dass sie das, was sie benötigt, um ein Ziel anzugehen, bereits in sich trägt und bisher nur noch nicht richtig draufgeschaut hat. So entstehen Selbstbewusstsein, Sicherheit und Mut. Prof. Dr. Barbara Fredrickson, die im Bereich der Positiven Psychologie forscht, betont, dass Menschen sich durch die ressourcenorientierte Herangehensweise entspannen, kreativer werden und dass sich ihr Blickfeld erweitert. Das kann zu besseren Resultaten führen.
Ich coachte eine weibliche Führungskraft, die wortwörtlich sagte, ihre Abteilung sei „halbtot“. Es gab einen hohen Krankenstand und Fluktuation. Es gelang ihr nicht, zu den Mitarbeitenden durchzudringen und sie wollte dies fixen. Ihr positiver Wunsch, den wir erarbeiteten, bestand darin, dass ihre Abteilung zu einem „Mitarbeitermagneten“ werden sollte. Es wurde dann gefragt, wie sie dies in der Vergangenheit hinbekommen hatte, was an ihr und anderen in der Abteilung „magnetisch“ ist. Dem auf den Grund zu gehen, war zunächst der „Forschungsauftrag“. Auch die Wunderfrage kam zum Einsatz: Wie sähe es aus und woran würden Sie es merken, wenn Ihre Abteilung ein Mitarbeitermagnet wäre? Wie wären Sie dann? Dabei sollte sie mit ihren Gefühlen in Kontakt gebracht werden, um sich noch besser in die Situation hineinversetzen zu können. Sie fertigte daher ein Bild von der gewünschten Zukunft an, in dem sie sich auch selbst darstellte. Abgeleitet wurden letztlich die Prinzipien dieser gewünschten Zukunft, um dann in die Umsetzung zu gehen. Diese startete mit der Frage, worin ein ganz kleiner erster Schritt bestehen könnte, der bereits umsetzungsfähig ist, zur Klientin passt und effektiv wäre. Die Idee lautete: „Coffee Dates“ vereinbaren und so mit den Teammitgliedern ins Gespräch kommen. Die weitere Implementation wurde dem Modell entsprechend mit Monitoring begleitet.
Heike Aiello
Man spricht auch von der Lewis-Methode, da sie in den 90er-Jahren von Myrna und Greg Lewis in Südafrika entwickelt wurde. Es handelt sich dabei um eine Moderations- und Konfliktlösungsmethode, die darauf setzt, die Stimmen aller Betroffenen zu hören und einzubinden, um tieferliegende Konflikte zu bearbeiten und die Gruppenintelligenz freizusetzen. Zu Beginn der Anwendung führt man einen Check-in durch. Dabei hört man sämtliche Stimmen an und achtet gezielt auf die Abweichungen – auf die Minderheitenmeinungen, die oftmals als lästig empfunden werden. Übergeht man diese einfach, indem man schlicht der Mehrheitsmeinung folgt, bleiben die Vertreter anderer Ansichten unzufrieden. Das birgt Konfliktpotenzial. Deep Democracy zielt darauf, die Qualität der Entscheidung und somit des Gesamtergebnisses des jeweiligen Vorhabens zu verbessern, indem die Sichtweisen der Minderheiten produktiv eingebunden werden. Deep Democracy geht auf die Prozessorientierte Psychologie des US-amerikanischen Psychotherapeuten Arnold Mindell zurück, der sehr komplex gedacht hat. Myrna und Greg Lewis haben daraus ganz praktische Methoden herausdestilliert.
Ja, bei beiden Modellen – Deep Democracy und Appreciative Inquiry – geht es letztlich um Nachhaltigkeit. Wenn man das ganze Team im Boot hat und alle mitmachen, weil sie Wertschätzung erfahren, gehört werden und sich einbringen können, hat man die besten Voraussetzungen für eine nachhaltige Veränderung geschaffen. Das ist etwas anderes, als erst einen fertigen Projektplan zu erarbeiten und dann zu schauen, wie man alle mitnimmt und Widerstände, die sich gebildet haben, „wegmanagt“ .
Eine ganz wichtige. Es ist das Ziel, mehr psychologische Sicherheit zu schaffen, indem man die Menschen wertschätzend einbindet und ihnen die Möglichkeit gibt, gehört zu werden und Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig werden die Beteiligten durch die empfundene Sicherheit darin bestärkt, diese Möglichkeit auch selbstbewusst wahrzunehmen. Bei Deep Democracy ist der Grundsatz wichtig, dass niemand die Wahrheit gepachtet hat. Alles darf gesagt werden – mit dem Ziel, gemeinsam zu lernen. Eine Methode dafür ist z.B. der Soft Shoe Shuffle. Dabei bitte ich alle Beteiligten, aufzustehen und ihre Meinung zum Thema zu äußern. Um sie dabei psychologisch zu stützen, stelle ich mich immer zu der Person, die gerade an der Reihe ist. Wenn sich dann Fraktionen bilden und jemand mit seiner Meinung allein dasteht, stelle ich mich zu diesem Menschen und nehme seine Aussagen ernst. Auch das soll Sicherheit vermitteln. Systeme sind diese Inklusivität oftmals nicht gewohnt. So wird aus der irritierenden „Abweichlermeinung“ eine starke Ressource.
Absolut. Die Beteiligten merken, dass sie und ihre Meinung zählen, dass sie etwas bewegen können. Ich habe das erlebt, als ich mein MBA-Studium in Südafrika absolvierte. Wir wurden das ganze Jahr lang von einem in Deep Democracy ausgebildeten Facilitator begleitet und hatten regelmäßig Teamsitzungen. Hintergrund war, dass im MBA-Programm der Graduate School der Universität Kapstadt nur rund 20 Prozent People of Colour studierten. Hinzu kam die Gruppe der ausländischen Studierenden, die ebenfalls zahlenmäßig in der Minderheit war und der ich angehörte. Ich habe damals selbst gespürt, wie es zur Partizipation ermutigt, wenn man aktiv einbezogen und unterstützt wird.
Ja. Ich würde Führungskräften empfehlen, sich in Deep Democracy zu schulen. Sie erkennen besser, was im Team passiert und welche Muster wirken. Sie werden für Minderheitsmeinungen sensibilisiert und bekommen ganz einfach anwendbare Tools an die Hand, mit denen sie die verschiedenen Ansichten praktisch einbinden können. Damit beugen sie Konflikten vor und fördern das Engagement im Team. Aus meiner Sicht ist das eine gute Erweiterung von Führungskompetenz.
Das schöne ist, dass man in größeren Gruppen mehr Stimmen hört, die in die gemeinsame Lernerfahrung einfließen. Man muss sich aber immer fragen, welches konkrete Vorgehen zielführend ist. Bei größeren Veränderungsvorhaben beziehe ich in der Arbeit mit Appreciative Inquiry z.B. nicht jede Einzelperson, sondern Repräsentanten der verschiedenen „Blutgruppen“ des Systems ein. Vorbehalte gibt es natürlich. Ich setze mich vorab mit den Auftraggebenden auseinander, um zu schauen, ob das Vorgehen zum Ziel passt. Immer dann, wenn es um die Förderung von Zusammenarbeit, um die Erarbeitung von Strategien oder um wertschätzendes Evaluieren geht, ist es wertvoll. Bei Deep Democracy kann, wenn es sich um einen größeren Kontext handelt, in mehreren einzelnen Workshops gearbeitet werden, sodass der psychologisch sichere Rahmen gewahrt bleibt. Letztlich ist es eine Frage der professionellen Vorbereitung und natürlich des Budgets.
Da ich Deep Democracy beherrsche, habe ich keine Angst davor, bei der Arbeit mit Appreciative Inquiry den Schatten einzubeziehen. Prozesse, in denen dieser Schritt übergangen wird, können nicht funktionieren. Wir hatten schon angesprochen, dass die schwierigen Gespräche in der Design-Phase vorkommen. Es gibt aber zwei weitere Punkte im Prozess, die hier relevant sind: Manchmal gilt es, vorab auf Sorgen einzugehen oder anzuerkennen, dass etwas momentan nicht gut läuft. Auch das ist Wertschätzung. Ich hatte schon den Fall, dass sich zwei Fraktionen eines Teams erst einmal aussprechen mussten, bevor wir mit dem eigentlichen Prozess loslegen konnten, da wenige Tage vor dem geplanten Beginn etwas vorgefallen war. Dabei halfen verschiedene Techniken aus der Deep Democracy. Und auch am Ende des Prozesses, wenn die Umsetzung ggf. nicht wie gewünscht vonstattengeht, kann es angeraten sein, sich tief in die Augen zu schauen.
Ich habe mein eurozentriertes Weltbild über den Haufen geworfen, einiges über meinen Unconscious Bias gelernt und mehr Bescheidenheit sowie kulturelle Sensitivität entwickelt. Beeindruckt war ich davon, wie salonfähig Coaching und Facilitation dort schon waren. Ich war 2004 in Südafrika. Es schien ganz normal, sich als Führungskraft für unterschiedliche Ansichten zu sensibilisieren und auf Gruppenprozesse einzulassen. Zudem habe ich einen großen Ideenreichtum wahrgenommen – insbesondere in den Townships, in denen ich an Projekten teilnahm. Die Menschen dort stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie haben fast nichts, machen aber dennoch etwas daraus, indem sie einfach loslegen. Diese Erfahrung hat mich nochmals in der Haltung bestärkt, vor allem das Positive zu verstärken und auf die Möglichkeiten zu fokussieren, die man hat, anstatt Probleme in den Vordergrund zu rücken.
Die Arbeit beim niederländischen Flugunternehmen KLM, wo ich unter anderem HR-Managerin war, hat meinen Karriereweg stark beeinflusst. Obwohl es ein tolles Unternehmen ist, hatte ich manchmal den Eindruck, dass Mitarbeitende ihre Leidenschaft morgens an der Garderobe abgeben. Das habe ich seitdem leider in vielen Konzernen beobachtet. Ich dachte: Unternehmen sollten doch Orte sein, an denen Menschen aufblühen! Und genau dazu möchte ich heute als Coach und Facilitator beitragen.