Man stelle sich folgende Situation vor: Ein Paar sitzt im Café und liest Zeitung. Der Mann schaut kurz nach draußen in den Regen und meint, dass sie „wegen dem Regen“ heute wohl nicht im Garten arbeiten könnten und fordert anschließend seine Frau auf: „Les mir den Artikel über Frankreich vor!“ Die Frau blickt ihn mit leicht gesenktem Kopf und strenger Miene über die auf die Nasenspitze heruntergeschobene Brille hinweg an. Sie setzt sich sehr aufrecht hin und spricht mit deutlicher und lauter Stimme: „Erstens, es heißt ‚wegen des Regens‘, Genitiv, nicht Dativ. Zweitens, der Imperativ von ‚lesen‘ lautet ‚lies‘, nicht ‚les‘. Drittens, Du hast das Zauberwort vergessen!“ Dieselbe Frau hat übrigens auch die Angewohnheit, E-Mails korrigiert an den Absender zurückzusenden.
Welchen Beruf übt die Frau wohl aus? Wer auch privat öfters mit Lehrern zu tun hat, könnte auf der richtigen Spur sein.
Oder: In ungezwungener Runde dreht sich die Unterhaltung in Richtung Dummheiten, in der Jugendzeit begangen. Wie so oft, liegen manche der erzählten Dummheiten eng an der Grenze zum Konflikt mit dem Gesetz – zumindest in dessen Graubereich. Dessen sind sich zwar alle bewusst, nur sehen sie darin auch jugendlichen Übermut und Leichtsinn und können darüber lachen. Nur einer in der Runde wirkt hierbei distanziert, fast grimmig und lauscht den Personen mit sehr großer Aufmerksamkeit.
Ist der stille Beobachter vielleicht ein Polizist oder zumindest jemand, der bei Gesetzesverstößen hellhörig wird? Vielleicht ein Jurist? Vielleicht hatte jemand das Vergnügen, unwissentlich mit einem Juristen zu sprechen. Dabei ist man auf ein unverfängliches Thema gekommen und benutzt die Begriffe „Eigentum“ und „Besitz“ synonym, wovon man gemeinhin ausgeht – außer, man ist Jurist. Es folgt nun ein ausführlicher Vortrag, bei dem man zu ahnen beginnt, was juristische Spitzfindigkeit bedeutet, und Gewissheit über den Beruf des Gegenübers bekommt.
Dieses Phänomen selbst wird als déformation professionelle bezeichnet, was so viel wie professionelle/berufliche Deformation/Entstellung bedeutet: Der Beruf „entstellt“ die Person. Definiert wird es als „Neigung, eine berufs- oder fachbedingte Methode oder Perspektive unbewusst über ihren Geltungsbereich hinaus auf andere Themen und Situationen anzuwenden, in denen sie zu eingeengter Sichtweise, Fehlurteilen oder sozial unangemessenem Verhalten führen kann“ (Wikipedia, 2017).
Gibt es auch beruflich „deformierte“ Coaches? Definitiv! Es gibt Coaches, die aufgrund eines längeren E-Mail-Kontakts mit einer Versandbuchhandlung dem Gegenüber ein Defizit in der Team-Arbeit attestieren und sogleich Möglichkeiten und Tools mitsenden – im positiven Sinne und der geäußerten Überzeugung, hier helfen zu wollen. Andere Coaches bemängeln während eines Telefonats beim Gegenüber „fehlende Empathie“, an der man arbeiten und die das Gegenüber schon jetzt mittels eines kurzen Perspektivwechsels wahrnehmen könne. Wiederum andere versuchen während eines Buffets, die Team-Fähigkeit und Rolleneinnahmen der Anstehenden zu untersuchen.
Nur, warum ist das so? Warum brechen manche Berufe so stark in den privaten Alltag der Menschen durch? Fengler (2008) bietet hierfür einen Erklärungsansatz. Zwar bezieht er sich dabei auf helfende Berufe, nur sind die getroffenen Feststellungen übertragbar, da sie einen eher universellen Charakter haben. Im Folgenden werden daher Ursachen bzw. Faktoren genannt, die eine déformation begünstigen, und werden speziell auf die Ausübung des Berufs des Coachs übertragen (ebd., S. 126-132).
Termine definieren den Tagesablauf. Kurze Fristen, z.B. um dem Klienten ein entsprechend aufbereitetes Feedback zur letzten Coaching-Sitzung zu geben, oder zu knappe Zeitspannen zwischen verschiedenen Coaching-Prozessen steigern den ohnehin schon hohen Druck. Zugleich ist eine so hohe Taktung des Tages insbesondere für hauptberufliche, am Anfang ihrer Karriere stehende Coaches, die um jeden Klienten werben und bangen müssen, existentiell.
Die Person identifiziert sich zu stark mit der eigenen Arbeit bzw. dem Unternehmen. Die Werte des Unternehmens bzw. der Arbeit werden so zunehmend zu den eigenen Werten – eine Unterscheidung zwischen privaten Werten, sozusagen Werten des Alltags, und jenen des Berufs ist nicht mehr möglich. Bei Coaches ist dieser Umstand besonders stark ausgeprägt: Sehr oft sind Person und Unternehmen untrennbar, da es die Person an sich ist, sprich deren Coaching-Leistung bzw. -Kompetenz, die angeboten wird. Nicht selten kann dieser Umstand auf subtile Weise deutlich werden: Coach und Unternehmen tragen den gleichen Namen.
Jede berufliche Tätigkeit führt – früher oder später – zu einer spezifischen Denk- und Handlungsweise: Sachverhalte werden wahrgenommen und selektiert, sodass jenes zügig und routiniert bearbeitet werden kann, das auch relevant ist. Bis zu einem gewissen Grad ist dies durchaus sinnvoll, nimmt das aber überhand, so wird die Person zum „Fachidioten“ oder zum „Forscher im Elfenbeinturm“. D.h., alles außerhalb des für den Beruf Notwendigen wird durch die selektive Wahrnehmung entweder ganz ausgegrenzt oder stark abgeschwächt – man stumpft sozusagen ab.
Für den Coach könnte das z.B. so aussehen, dass er nur wahrnimmt, was ihm als coaching-relevant erscheint oder er münzt das Wahrgenommene zum Coaching-Relevanten um. Diese Selektion erfolgt dann auch in Situationen, die deutlich abseits des Coachings liegen (oder in denen Coaching auch nicht erwünscht ist): Der Ehepartner des Coachs will über die Schulleistung des gemeinsamen Kindes sprechen, nicht über die Kommunikationsprobleme des „Teams Familie“. Allerdings hat ein Coach hier einen gewissen Vorteil, will er effektiv sein: Coaching ist extrem vielseitig und Klienten haben unterschiedlichste Anliegen, sodass der Coach sehr viele Faktoren wahrnehmen muss – von Kindheitserfahrungen über familiäre Probleme bis hin zum Rollenkonflikt. Kann er das aber nicht, beeinträchtigt es das Coaching.
„Berufliche Erfahrungen veranlassen uns, die Welt bevorzugt unter einer bestimmten Perspektive zu sehen, manche Aspekte völlig auszublenden und uns dabei noch von hoher subjektiver Sicherheit getragen zu fühlen, daß unsere Perspektive die wichtigste ist“ (Fengler, 2008; S. 128). Im Grunde ist dies die vollkommene Ausformung der Wahrnehmungsselektion hinsichtlich des eigenen beruflichen Vorgehens.
Wer nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. Wer als Coach ausschließlich auf eine überschaubare Auswahl an Tools und seinen Coaching-Ansatz fixiert ist, verliert letztlich den Klienten in seiner zuvor angedeuteten Vielfältigkeit aus den Augen – der Coach wird dem Klienten gegenüber sogar blind.
Der Beruf gewinnt – bewusst wie unbewusst – weiterhin derart an Bedeutung, dass sich die Interessen der Person nur noch am Nutzen für den Beruf orientieren. Aktivitäten sowie Unterhaltung werden ausschließlich mittels Kriterien ausgewählt, die nach dem Mehrwert für die berufliche Tätigkeit fragen: Kann ich diesen Sport in mein Coaching einbauen? Behandelt die Fernsehserie Coaching-Relevantes? Geht es in diesem Buch überhaupt um Coaching?
Eine solche Interessenverarmung bringt zwei Probleme mit sich. Erstens, der Coach wird immer mehr zum „Fachidioten“ – insbesondere, wenn man die vorigen Punkte hinzuzieht: Er nimmt nicht nur vornehmlich Coaching-Themen wahr, sondern ist auch blind für andere Methoden etc. und jetzt interessiert er sich sogar für nichts mehr außerhalb des Berufs. Zweitens, er verpasst so die Chance, sein Coaching wirklich zu erweitern. Denn es können Dinge für das Coaching nutzbar gemacht werden, die auf den ersten Blick nichts mit Coaching gemein haben. Z.B. kann die Auseinandersetzung mit Kunst oder Literatur Perspektivwechsel erleichtern, der Einbezug von Sport die Coaching-Sitzung auflockern u.ä.
Die Folge der Interessenverarmung ist nach Fengler eine „gedankliche Dürre“. Die Person verliert die Fähigkeit des flexiblen Denkens in verschiedene Richtungen. So wird allerdings eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Handeln im Grunde unmöglich – Selbstreflexion, die definitiv eine gedankliche Flexibilität abverlangt, wird unterdrückt. Für den Coach sind eine solche Interessenarmut, das Erstarren der eigenen Gedanken und die Blindheit für anderes außerhalb seines Konzepts schlicht fatal. Welche Auswirkungen eine derartige Fixierung haben kann, wurde von Bartlakowski (2016) ausführlich beschrieben: Während gleich zwei Coaches sich in ihren Tools und Konzepten verirrten und so nicht mal ansatzweise auf das Coaching-Anliegen schwenken konnten, blieb die Klientin allein, stumm und letztlich sogar vergessen zurück.
Oft ist der Beruf mit dem Auge erkennbar, sozusagen auf den Körper „geschrieben“, sei es durch Uniformen – worunter letztlich auch der Business-Anzug des Coachs fällt – oder durch die Haltung der Person (ein altgedienter Bundeswehroffizier bewegt sich und vor allem steht anders als die breite Masse). Im sprachlichen Ausdruck kommen oft tiefsitzende Floskeln ans Tageslicht, die stets gekonnt zu bestimmten Situationen vorgetragen werden (schließlich haben sie früher funktioniert, werden es also auch jetzt tun). Gleiches gilt für den Ausdruck von Gefühlen, die passend zur Situation aufgesetzt werden können.
Diese „Automatismen“, meist geäußert durch „starre Reaktionen und Reflexe, Attitüden und Posen“, fallen besonders im privaten, intensiven Kontakt auf (Fengler, 2008; S. 131). Ein Vier-Augen-Coaching ist definitiv ein solcher Kontakt, sodass der Klient durchaus erkennen kann, ob der Coach mit Bezug auf das Gesagte und die Situation reagiert oder ob er etwas vermeintlich Bewährtes vorträgt.
Eine starke déformation professionelle mag für das Umfeld des Coachs, der einfach nicht vom Coachen lassen kann, ärgerlich oder im besten Falle amüsant sein. Doch kann sie letztlich auch negativ auf seinen Beruf einwirken – ironischerweise also gerade darauf, was ihn Tag und Nacht zu beschäftigen scheint.
Die naheliegende Antwort für den Coach ist, sich regelmäßig in die Supervision zu begeben oder auch selbst ein Coaching aufzusuchen. Feedback kann hier äußerst hilfreich sein. Auch sind Freunde und Familie gute Signal- und Feedbackgeber (und wenn Fremde den eigenen Beruf nach kurzem Gespräch erraten, sollte man zumindest ein bisschen Selbstreflexion betreiben). Allerdings liegt hier wie so oft die wahre Leistung in der Umsetzung der Veränderung. Das effektivste präventive Mittel gegen eine stark ausgeprägte déformation professionelle ist vermutlich die Notwendigkeit, sich Pausen zu gönnen und offen zu bleiben: Offen für die Dinge außerhalb des Coachings, offen für Neues und Abseitiges, offen für Menschen, die nicht in erster Linie (potentielle) Klienten sind.
Zuletzt muss aber gesagt werden, dass ein bisschen déformation letztlich unumgänglich ist, wenn man für seinen Beruf brennt. Denn nur jene befällt keine déformation, die „ihrem Beruf vollkommen leidenschaftslos nachgehen. Oder solche, die ihren Job jährlich wechseln – Persönlichkeiten, die nach dem Studium erst mal Animateur auf Teneriffa sind, danach Praktikant in einer Werbeagentur, dann Schafhirte in Neuseeland werden und schließlich als Gitarrist in einer unterdurchschnittlichen Cover-Band enden“ (Bönisch, 2010).