HR

Outplacement-Beratung im Coaching

Ein Modell für potenzial- und ressourcenorientierte Personalentwicklung

Seit Jahren führen Wirtschaft und Politik den Fachkräftemangel im Mund. Wer heute gut ausgebildet ist, den hält nichts in Stellen, in denen das eigene Potenzial nur bedingt gefragt ist. Ungeachtet dessen werden die meisten Ausschreibungen und Einstellungen vorrangig noch immer danach gestaltet, was ein Unternehmen braucht – nicht danach, was eine Bewerberin oder ein Bewerber an Potenzialen mitbringt. Hier regt der Outplacement-Ansatz zu einem Paradigmenwechsel an und inspiriert für eine Personalberatung, die sich an Potenzialen und Ressourcen der (potenziellen) Mitarbeiter orientiert.

16 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2022 am 07.09.2022

Seit geraumer Zeit findet sich die Bezeichnung der „Passung“ in der Coaching- und Beratungsliteratur (Burow, 2018). Dieser Ansatz, „Passungsdialoge“ anzuzielen, ist im Kontext dieses Artikels insofern innovativ, als dass er beide Seiten gleichermaßen berücksichtigt: die Erwartungen und Ziele, die ein Unternehmen hat und die sich in Stellenausschreibungen widerspiegeln, sowie die Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten derer, die sich für eine bestimmte Aufgabe interessieren. Bereits dieser Begriff ist bezeichnend, denn eine Aufgabenbeschreibung ist sprachlich – und dann meist auch in der Haltung der Verantwortlichen – im herkömmlichen Verständnis verhaftet: Der Bewerber oder die Bewerberin soll bestmöglich auf die ausgeschriebene Stelle passen. Vor diesem Ziel wird nicht nur die Ausschreibung formuliert, sondern auch das Verfahren geplant, durchgeführt und schließlich dessen Ergebnis bewertet. Dass ein solches Unterfangen nicht nachhaltig sein muss, zeigen Zahlen und Untersuchungen wie diese: Einer jüngeren Umfrage unter 2.000 Arbeitnehmern sowie 500 Personalverantwortlichen zufolge sind die häufigsten Gründe – mit 89 Prozent der Nennungen – für freigewählte Stellenwechsel aus Sicht der Mitarbeitenden ausbleibende Aufstiegsmöglichkeiten, mangelnde Wertschätzung und eine unbefriedigende Work-Life-Balance (Osterholt & Reintjes, 2021). So ansprechend die Metapher der Passung also ist, lassen sich Arbeitnehmer der heutigen „VUCA-Welt“ offensichtlich nicht bis zum Letzten in Erwartungen von Arbeitgebern und Unternehmen „hineinpassen“, die nicht mit den eigenen Potenzialen, Werten und Lebenszielen korrelieren. Warum also nicht gleich an dieser Ebene ansetzen?

Einheit von Sein, Können und Wollen

Der Psychologe und Coach Claas Triebel bringt diese Erkenntnis im Titel seines aktuellen Buches treffend auf den Punkt: „Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich?“ (Triebel, 2022). Ihm zu Grunde liegen viele Jahre in der Begleitung persönlicher Laufbahnübergänge. Insbesondere diese Situationen hätten nicht nur mit der Frage nach dem Fortbestand eines auch weiterhin gesicherten Einkommens zu tun. Hinter diesen Grundbedürfnissen stecke eine tiefere Ebene, insbesondere dann, wenn die Veränderung nicht so wie gewünscht erfolgt: „Kritische Laufbahnübergänge berühren die Integrität der eigenen Identität.“ (ebd., S. 13) Diese Erfahrung kann jeder Coach teilen, der Menschen auf dem Weg aus einer Stelle in eine noch unbekannte, neu zu findende Position unterstützt. Je stärker unfreiwillig der – äußere und innere – Change-Prozess dabei ist, umso stärker können die Fragen nach der eigenen Identität auch mit (Selbst-)Zweifeln verbunden sein. Letztlich wird hier deutlich, dass nicht der Blick auf eine möglichst passgenaue Stellenbeschreibung zielführend ist, sondern die Erfahrung, sich – ganzheitlich – mit der eigenen Genese, Biografie und Sozialisation auseinanderzusetzen: im Ansatz von Triebel mit dem „Lebensprofil“ des Klienten.

Fallbeispiel

Christian (Name geändert), Ende 40, kam mit dem Anliegen ins Coaching, seine langjährigen Erfahrungen, die er als Kulturjournalist und Redaktionsleiter gewonnen hatte, nach einer mit der Pandemie erfolgten Kündigung bei einem anderen Fachmagazin gut zu platzieren. Erst nach einigen Sitzungen im Bewerbungs-Coaching und ersten Verfahren, die sich zeitlich hingezogen und dann auch durchweg Absagen eingebracht hatten, veränderte sich der Coaching-Prozess: Auch durch den nun zu verarbeitenden Trauerprozess öffnete sich der Klient für seine Emotionen und rückte so von der vordergründigen Zielsetzung ab.

Dadurch entstand Freiraum für ein Biografie-Coaching, bei dem nun Themen angesprochen wurden, die nur am Rande – bis gar nicht – ihren Platz in den letzten Aufgaben und Berufsjahren gefunden hatten. Über assoziatives Schreiben, das an einer Kernkompetenz des Journalisten anknüpfte, und Imaginationsübungen, die positive Erinnerungen an beglückende Erlebnisse in Kindheit und Jugend des Klienten somatisch wieder erfahrbar machten, gelangte der Prozess über Leitfragen zu den persönlichen Kernkompetenzen des Klienten. Dieser erkannte neuartig, dass ihn vor allem seine freie, unbeschwerte und vorurteilsfreie Art, auf Menschen zuzugehen, und seine präsente Wirkung auf diese ausmachen. Allein dies als Coach zu spiegeln, bestärkte den Klienten im eigenen – buchstäblichen – Selbstbewusstsein.

Im Karriere-Coaching fixierte sich Christian fortan nicht mehr (ausschließlich) auf seine beruflichen Kompetenzen, die er in den letzten Jahren im Journalismus erlangt und ausgebaut hatte, sondern nahm auch Berufsbilder in den Blick, an die er „zuvor nie gedacht hätte“ (O-Ton). Nach kurzer Zeit bekam der Klient das Angebot einer unbefristeten Stelle für die Leitung der Öffentlichkeitsarbeit einer Stiftung. An dieser verantwortlichen Position kann er nun nicht nur sein sozial-kommunikatives Kernpotenzial einbringen, sondern er profitiert zusätzlich von seinem alten Netzwerk aus dem Journalismus. Vor allem aber ist er einem seiner „in den letzten Jahren warum auch immer verschütt gegangenen“ (O-Ton) vordergründigen Lebensthemen nähergekommen: „Es geht darum, alle Generationen zusammenzubringen und gegenseitig voneinander lernen zu lassen, denn das Leben mit all seiner Weisheit verdient es, an die jüngere Generation weitergegeben zu werden.“ (O-Ton)  

Das Pathos, mit dem Christian diese Erkenntnis ausdrückte, macht die Innerlichkeit dieses Themas deutlich – und damit auch, wie authentisch, echt, glaubwürdig und – im besten Sinne des Wortes – wertig dieses Lebensthema ist. Der Klient war auf einem Bauernhof mit mehreren Geschwistern, seinen Eltern und den Großeltern aufgewachsen und bis heute war jeder der Genannten bis zu seinem Tod vor Ort gepflegt worden. Hätte sich die Stiftung für ihre Zwecksetzung einen besseren Mitarbeiter wünschen können? Das Potenzial und die Ressourcen, die Christian mitbrachte, hätte die beste Aufgabenbeschreibung aber nicht formulieren können.

Outplacement als Blaupause

Was der Klient im beschriebenen Fallbeispiel beim Abschlussgespräch nach einem halben Jahr sagte, ist exemplarisch für Begleitungen, die potenzial- und ressourcenorientiert ansetzen: „Ich mache jetzt das, was ich eigentlich schon immer wollte. Nur, dass ich dafür sogar noch Geld bekomme. Ich habe meine Position nicht nur verbessert, ich bin auch mehr bei mir angekommen.“

Eine Vielzahl ähnlich gelagerter Outplacements lassen den – zugespitzten – Schluss zu: „Such Dir den richtigen Job und Du brauchst nie wieder arbeiten!“ (Schönheit, 2021) Denn es ist nicht weniger als die Stimmigkeit zwischen den persönlichen Lebensthemen, Prioritäten und Werten des Klienten und seiner beruflichen Lebenszufriedenheit. Dabei stehen die eigenen Kernkompetenzen des Klienten und dessen ureigene Handlungsmuster im Fokus des Begleitungsprozesses, welcher z.B. als „SPARK“ strukturiert werden kann: Von der Problemsituation (SP), über die darin vorgenommene Aktion (A) und das Resultat dieser Handlung (R) führt der Coaching-Prozess zu den Kompetenzen (K) des Klienten. Es ist erfahrungsgemäß nicht selten, dass sich Klienten in Laufbahnübergängen oder auch damit verbundenen beruflichen Krisen zum ersten Mal mit ihren Mustern auseinandersetzen.

Gelingt dies aber erfolgreich, geben die neuartig erkannten Themen, Werte und Potenziale in aller Regel den Blick für neue Perspektiven frei und statten die Klienten zusätzlich mit den notwendigen Ressourcen aus – bzw. machen diese im suchenden Tunnelblick „vernebelten“ Kräfte wieder ganz spürbar. So ist es auch erklärbar, dass viele Klienten durch die Krise eine höherwertige berufliche Aufgabe finden und/oder sich ihre Berufszufriedenheit deutlich steigert.

Im traditionellen Outplacement ging – und geht es oft bis heute noch – indes darum, das Profil des Klienten in eine marktübliche und marktgängige Form zu bringen, damit Entscheidungsträger auf den ersten Blick sehen können, ob die Anforderungen für eine freie Stelle erfüllt sind. Die marktgängigen, ggf. beim Klienten schwächer vorhandenen Fähigkeiten sind dabei hervorzuheben, während wirklich stark ausgeprägte Potenziale, die keine offensichtliche Marktrelevanz besitzen, zu kaschieren sind. Die dahinterstehende Logik ist jedoch nicht mehr zeitgemäß: Ihr zufolge waren die Arbeitsplätze der knappe Faktor, Arbeitskräfte indes gab es im Überfluss. Diese Entwicklung hat sich ins Gegenteil verkehrt. Mit der Folge, dass der Fachkräftemangel den Arbeitsmarkt (in weiten Teilen) von einem Anbieter- zu einem Nachfragemarkt werden ließ.  

Der Ort muss passen

Um eine lernende Organisation auf den Paradigmenwechsel hin zu einem ressourcenorientierten Outplacement vorzubereiten, hilft eine einfache und für jeden nachvollziehbare Visualisierung: Jede und jeder im Arbeitsteam kennt das Phänomen des wackeligen Tisches. Und jedes Teammitglied hat spontan Antworten parat, wie dieses vermeintliche „Problem“ gelöst werden kann, vom Unterlegen mit Bierdeckeln bis hin zum Überprüfen der Beinlängen und vielleicht gar dem Ansägen des „zu langen“ Beines. Oder es wird gar vorgeschlagen, einen neuen „stimmigen“ Tisch zu kaufen. Übertragen auf Outplacement-Beratung sind genau diese „Lösungsversuche“ Teile des traditionellen Ansatzes. Schließlich muss der Tisch an den geplanten Ort passen, folglich wird er „passend gemacht“. Übertragen auf die Arbeit mit Menschen wird leicht einsichtig, wie defizitorientiert diese Herangehensweise ist.

In Abgrenzung dazu setzt ein zeitgemäßer kompetenz- und ressourcenorientierter Ansatz auf einen stark biografischen Zugang zu bewährten Handlungskompetenzen der Klienten. Auffallend ist, dass in den meisten Begleitungen auf die Frage nach den eigenen Kernkompetenzen zunächst Fähigkeiten genannt werden, die mit Anstrengung verbunden sind – das bisherige Arbeitsleben mit Fixierung auf Leistung und Erfolg hat zumeist seine Spuren hinterlassen. Förderliche Umgebungsparameter und stimmiges Focusing lassen die tieferliegenden eigenen Ressourcen und Potenziale erkennen, welche sich bei einem ganzheitlichen Coaching zumeist auch nonverbal zu erkennen geben. Um diese nun auf einen neuen Kontext übertragen zu können, bedarf es einer vertieften Arbeit, sich selbst bewusst zu werden. Am Ende dieses Prozesses kann der Klient zumeist sehr fokussiert den stiftbaren Nutzen benennen, den er nun auch für andere Kontexte authentisch und losgelöst von der alten beruflichen Stelle anbieten kann.

Anstatt den „wackeligen Tisch“ also handwerklich zurechtzuzimmern, besteht die neuartige Aufgabe der Outplacement-Beratung und eines entsprechend ausgerichteten Coachings in der Begleitung dieses Suchprozesses nach dem passgenauen Ort für exakt diesen „Tisch“. Die heutige Arbeitswelt käme mit Einheitstischen nicht sehr weit. Für die Komplexität ihrer Ansprüche, nahezu in jeder Branche, benötigt sie – in dieser Metapher bleibend – vor allem eines: Unikate.

Outplacement ist in Deutschland seit 40 Jahren auf dem Markt vertreten (Riechers, 2021). Und die allermeisten heutigen Varianten eint eine Gemeinsamkeit: die konsequente und im Coaching-Prozess stringente Fokussierung auf die personalen Kompetenzen des Klienten. So drängt sich Outplacement als Blaupause für eine potenzial- und ressourcenorientierte Personalentwicklung geradezu auf.

Fallbeispiel

Dieter (Name geändert), Mitte 40, ist einerseits ein begeisterter Jäger und wahrer Naturbursche, andererseits Ingenieur mit umfangreichen feinmechanischen Erfahrungen und ballistischen Kenntnissen. So hat er nach erfolgreichem Studium sein Hobby zum Beruf gemacht und ist bei einem namhaften Hersteller von Jagdwaffen in der Entwicklungsabteilung gestartet. Sein Hang zum Perfektionismus sowie seine freundliche und zuverlässige Art im Umgang mit anderen oder auch sein Blick und Gespür für Menschen, Situationen und Verbesserbares waren die Ursache einer steilen Karriere. Zu seinem 40. Geburtstag wurde er zum Abteilungsleiter Entwicklung befördert, mit einem nennenswerten Budget ausgestattet. Sein Auftrag war es, das solide aber nicht mehr zeitgemäße Sortiment zu renovieren bzw. zu revolutionieren.

Ab diesem Zeitpunkt wurden ihm jedoch seine besonderen Fähigkeiten zum Verhängnis: Der Perfektionismus verhinderte Entscheidungen, Konflikten ging er aus dem Weg und seine Mitarbeiter wussten sich durch geschickte Rückdelegation von ihren Aufgaben zu befreien. Der Weg in den Burn-out war vorgezeichnet.

In dieser Situation unterstützte ihn sein Chef mit einem ressourcenorientierten Coaching, das arbeitsbegleitend auf ein Jahr angelegt war. Dass für ihn der übliche Karriereweg in der Hierarchie nach oben nicht der passende war, lag auf der Hand. Überraschend war die Karrierewende, die das Coaching einleitete. Durch Neukonfiguration seiner besonderen Stärken – Fachkenntnisse, Kommunikationsstärke, Empathie, gesellschaftlicher Schliff, Zielorientierung und Begeisterung für die Natur – wurde aus dem gescheiterten Entwicklungsingenieur der erfolgreichste Verkäufer und Spezialist für jagdbegeisterte, vermögende Privatkunden in einem bundesweit aktiven Vertriebsteam. Sein Gespür für Menschen und Situationen, sein „Auge“ für die Physiognomie eines Kunden und seine wertschätzende Kommunikation eröffnen seinem Arbeitgeber Marktchancen, die bis dato den Wettbewerbern vorbehalten waren.

Der „Tisch“ hatte seinen Ort gefunden – und er stand stabiler denn je. Solche Erfolge stellen sich im Coaching dann ein, wenn der Klient – gedanklich, emotional und somatisch – seinen bisherigen Frame verlassen kann. In dieser Fähigkeit unterscheiden sich nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmenskulturen und Milieus. Insofern gehört zu einem Blick für die personalen Kompetenzen des Klienten auch eine hinreichende Milieukompetenz zum erfolgreichen Outplacement hinzu.

Vorsicht: Selbstreferenzialität!

Der Pädagoge Rolf Arnold spricht – mit Blick auf eingeschränkt bis nicht lernfähige Systeme – von der „ärgerlichen Tatsache der systemischen Geschlossenheit“ (Arnold, 2012, S. 33). Sein systemisch- konstruktivistischer Ansatz lässt sich aus der Perspektive ressourcenorientierten Coachings leicht auf Organisationspsychologie und Unternehmenskommunikation übertragen. Denn überall dort, wo diese Haltung, Antworten im eigenen System zu suchen, anstatt dem – noch – anderen eine Chance zu geben, systemisch festsitzt, wird das Andere als das „Fremde“ bewertet und damit – unbewusst, aber damit nicht weniger stark wirksam – abgewehrt. Ebenso kann überall dort, wo Lösungen nicht mehr allein in den üblichen – vermeintlichen – Weisheiten des Systems (mit Standardformulierungen wie: „Das haben wir schon immer so gemacht. Sowas gab es bei uns ja noch nie.  Ihr Vorgänger hätte das nie so gemacht.“) erwartet werden, sondern außerhalb gewohnter Denkmuster, der eigene Referenzrahmen – des Systems sowie der Menschen in diesem – jedoch erfolgreich geweitet werden.

Wie schleppend sich dies gestalten kann, zeigt ein Blick auf die weltweit älteste Organisation, die (katholische) Kirche, und ihren seit über einem Jahrzehnt anhaltenden Krisenzustand. Arnold belegt vielfach, dass das Lernen – auch und insbesondere als System – nur als „Lernen vom anderen her“ geschehen kann. Die Weitergabe von Inhalten – in der Sprache der Kirche die Tradition – ist nur das eine. Sie ist aber schlichtweg nicht (mehr) möglich, wenn heutige Menschen diesen Inhalten keine Relevanz mehr beimessen können. Zumal, wenn die Glaubwürdigkeit derer, welche die Leitung der Kirche verantworten, von Jahr zu Jahr mehr gelitten hat und nunmehr gegen Null geht, und die so persiflierten Inhalte und Rituale an der Identität der Menschen vorbeigehen. Gleichzeitig eine nicht mehr selbst gelebte Moral hochzuhalten und durch das eigene systematische Unterlaufen eine Kultur der Doppelmoral und der Angst zu befördern (Hanstein et al., 2022), führt neben den persönlichen Krisen und seelischen Inkongruenzen der kirchlichen Mitarbeitenden zu einer sehr großen Unattraktivität solcher Arbeitgeber. Aktuelle Zahlen in theologischen Bildungseinrichtungen belegen das bezüglich dieses Beispiels, während kirchliche Verantwortliche die verringerten Zahlen lediglich als mangelndes Interesse werten und Geld für neue Werbemaßnahmen freigeben. Einen Zusammenhang zwischen dem eigenen Führungsversagen und der verminderten Attraktivität der kirchlichen Berufe will man indes nicht einsehen.

Dass die aktuelle Führungskultur dieser Organisation nicht nur Jahrzehnte hinter gewohnten und in der freien Wirtschaft üblichen Standards zurückgeblieben, sondern vielmehr aus der Welt gefallen ist, zeigt eine Reihe von Begleitungen kirchlicher Mitarbeitender. In einem Coaching schilderte eine pastorale Mitarbeiterin, die mit viel Engagement eine Zusatzausbildung absolviert hatte und diese nun in ihre Arbeit einbringen wollte, ihr Entsetzen auf die Reaktion ihres Dekans. Dieser habe sie mit dem Satz abgewiesen: „Wo Ihr Platz in den nächsten Jahren sein wird, das entscheide ich. Ich weiß am besten um Ihre Charismen. Vertrauen Sie mir mal lieber!“ (weitere Fallbeispiele in Hanstein et al., 2022)

Das kirchliche Verständnis von Leadership ist insofern ein „gutes“ Beispiel für alle Unternehmen, die nach wie vor nicht auf Egalität und persönliche Potenzialentfaltung ihres größten „Kapitals“ setzen, sondern die steil hierarchisch aufgebaut sind und sich durch eine – zudem sehr oft intransparente –

Top-down-Kommunikation zu erkennen geben. Vertreter der Generationen Y und Z, die sich nicht nur für die – relativ geschlossene – Arbeitswelt der Kirche qualifiziert haben, werden sich auch bei noch so großer persönlicher Identifikation mit dem kirchlichen Wertekern unter diesen Bedingungen nur schwer auf ein Recruiting einlassen. Andererseits glücken bei denen, die – auch als Volltheologen – den Blick über den kirchlichen Tellerrand und hinein in ihre ureigenen, vorgelagerten persönlichen Kernkompetenzen im Outplacement-Coaching wagen, oft bemerkenswerte neue berufliche Wege – und auch hier nach dem oben beschriebenen Erfahrungswert einer zumeist optimierten Position.

Fazit

Nicht nur der Beruf und der Ort müssen „passen“, sondern letztlich das Leben (Largo, 2017). Insofern sollte auch und insbesondere im Karriere-Coaching der „ganze“ Mensch das Gegenüber sein. Auch berufliche Verlusterfahrungen, Enttäuschungen und notwendig gewordene Veränderungen können Klienten in die Problemtrance und den Schockzustand versetzen (Hanstein, 2021a). Sie da herauszuführen bzw. ressourcenorientiert zu begleiten, bedarf ebenfalls des ganzen Menschen in all seiner biografischen Komplexität und als ganzheitliches Leib-Geist-Seele-Wesen. Diese „innere Arbeit am eigenen Selbst“ (Hanstein, 2020) ist immer vielfältiger als der reine Blick auf berufsbezogene Kompetenzen. Jedoch verstärkt sich ab dieser Muster- und Perspektivenänderung auch die Kompetenz zum eigenen, auch berufsübergreifenden Selbstmanagement, was mit geeigneten Tools im Coaching unterstützt werden kann (Hanstein, 2021b).

Eine Personalentwicklung, die nach dem Modell kompetenzorientierten Outplacements ebenfalls an den Potenzialen und Ressourcen der Mitarbeitenden ansetzt, schafft es, die eigene, wenn auch verständliche, Selbstreferenzialität zu verlassen und sich auf das einzulassen, was nicht planbar von „außen“ kommt – und was bei einer entsprechenden Haltung als Benefit ins „Innen“ gelangen kann. Bei der Dynamik, in der sich die Arbeitswelt verändert, und den neuartigen Möglichkeiten, die gut ausgebildete und gesuchte Fachkräfte haben, kann es sich auf kurz oder lang kein Unternehmen in Deutschland mehr leisten, die eigenen Anforderungen an eine Stelle höher zu bewerten als das, was Bewerberinnen und Bewerber an eigenen überfachlichen Kompetenzen mitbringen – und was sie bereit sind, der Organisation zur Verfügung zu stellen, sofern diese ihre Potenziale wertschätzt. Hier stehen viele Unternehmen noch am Anfang. Führungskräfte mit einem finanzierten Outplacement wertschätzend gehen zu lassen, ist das eine, ihre Personalentwicklung zu einer modernen Form der Potenzialentfaltung zu verändern, das andere. Beides benötigen heutige Unternehmen – wollen sie nicht ihr größtes Kapital an sich vorbeiziehen lassen: den Faktor Mensch. Doch beides ist erlernbar, kann begleitet werden – und setzt vor allem an einem an: der Haltung und Unternehmenskultur.  
 

Im September 2022 erscheint das Buch der Autoren : „Heillose Macht! Von der Kultur der Angst im kirchlichen Dienst“. Darin entwickeln die Herausgeber anhand von ca. 50 Fallbeispielen Wege aus einem defizitorientierten Leadership. Der Hintergrund sind ihre Outplacements und Perspektiven-Coachings mit kirchlichen Mitarbeitenden in den letzten zehn Jahren.

Mehr Infos zum Buch

Literatur

  • Arnold, R. (2012). Ich lerne, also bin ich. Heidelberg: Carl-Auer.
  • Burow, O.-A. (2018). Führen mit Wertschätzung. Weinheim: Beltz.
  • Hanstein, Th. (2021a). Kollaps-Coaching. Coaching-Magazin, 14(2), S. 27–31.
  • Hanstein, Th. (2021b). Selbstmanagement mit Coachingtools. 2. Auflage. Baden-Baden: Tectum.
  • Hanstein, Th. (2020). Innere Arbeit am eigenen Selbst. Coaching-Magazin, 13(4), S. 54–58.
  • Hanstein, Th.; Schönheit, H. & Schönheit, P. (Hrsg.) (2022). Heillose Macht! Freiburg: Herder.
  • Largo, R. H. (2017). Das passende Leben. Frankfurt/Main: S. Fischer.
  • Osterholt, S. & Reintjes, D. (2021). Neuorientierung. Jobwechsel mitten in der Pandemie? Nur zu! WirtschaftsWoche. Abgerufen am 12.05.2022: https://bit.ly/3a7coMg
  • Riechers, C. (2021). OUTPLACEMENTintern. Leipzig: Winterwork.
  • Schönheit, P. (2021). „Such Dir den richtigen Job und Du brauchst nie wieder arbeiten!“ RebellenTalk#33. Abgerufen am 12.05.2022: https://bit.ly/38QYg9X
  • Triebel, C. (2022). Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Stuttgart: Klett-Cotta.

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