Führung
Narzissmus ist in den vergangenen Jahren – nicht nur im Coaching – zu einem fast schon inflationär verwendeten Begriff geworden. Dieser sollte jedoch mit Bedacht und größter Vorsicht gewählt werden. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen einen pathologischen Narzissmus lediglich bei 0,5–2,5 Prozent der Bevölkerung (Nuber, 2017). Die Dunkelziffer scheint dennoch höher zu sein, denn es gibt zahlreiche Personen mit einer starken Ausprägung an narzisstischen Anteilen, die sich in den Chefetagen und Führungspositionen von Unternehmen bewegen (Heidbrink et al., 2021; Schiemann & Jonas, 2020). In den vergangenen Jahren hat die „dunkle Triade“ sowohl medial als auch wissenschaftlich immer mehr Aufmerksamkeit erfahren. Die dunkle Triade vereint Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Alle drei haben einen antisozialen Kern mit einer niedrigen Verträglichkeit, äußern sich jedoch unterschiedlich (Küfner et al., 2014, S. 3). Narzissmus zeigt sich demnach durch ein „grandioses Selbst und konsequentes Eigeninteresse“, Psychopathie durch „Empathielosigkeit“ und Machiavellismus durch „manipulatives Ausnutzen“.
Der Fokus dieses Beitrags liegt auf dem Narzissten, der zu Dominanz, Selbstüberschätzung und Überempfindlichkeit gegenüber Kritik neigt. Narzissten sind oft charismatisch, ehrgeizig, wirken interessant und attraktiv. Wenn man sie etwas länger kennt, treten immer mehr negative Eigenschaften zu Tage wie bspw. Egozentrismus oder die Tendenz, andere auszubeuten (Kratzer, 2021). Es ist außerdem anzumerken, dass es in diesem Artikel im Unterschied zur klinischen Psychologie um Eigenschaften im subklinischen Bereich geht. Der Unterschied besteht darin, dass das Ausmaß und die Häufigkeit des Verhaltens im Fokus stehen und nicht, wie es im Bereich der Persönlichkeitsstörungen in der klinischen Psychologie der Fall ist, die Art des Verhaltens (LeBreton et al., 2006). Wenn also im nachfolgenden – anonymisiert dargestellten – Fallbeispiel von Narzissmus die Rede ist, sind stets die subklinischen Ausprägungen gemeint und keine diagnostischen Feststellungen.
Narzissten und ihr destruktives Führungsverhalten sorgen dafür, dass die individuelle Belastung für Mitarbeiter unerträglich werden kann und die Unternehmenskultur zunehmend toxischer wird. Mitarbeiter haben in der Folge oft keine andere Wahl, als das Unternehmen auf lange Sicht zu verlassen. Kurzfristig leidet die Stimmung, die Betroffenen üben sich in einer Art Überanpassung, sind emotional ausgelaugt und fühlen sich hilflos (Volmer et al., 2017). Da sich immer mehr Führungskräfte mit einer starken narzisstischen Ausprägung in den oberen Chefetagen von Unternehmen bewegen, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass ein Business-Coach im Rahmen seiner Coaching-Tätigkeit auf eine derartige Führungskraft trifft (Haller, 2019).
Doch warum sucht eine Führungskraft mit starken narzisstischen Ausprägungen überhaupt ein Coaching auf? Ist dies nicht bereits ein Widerspruch in sich? Die Wissenschaft bestätigt an dieser Stelle, was in der Praxis geschieht. Meist sind es Schwierigkeiten im Führungsverhalten, in der Kommunikation oder zwischenmenschliche Probleme, mit denen die narzisstische Führungskraft einen Coach aufsucht (Diller, 2021).
Im vorliegenden Praxisfall sucht ein Geschäftsführer eines Dienstleistungsunternehmens einen Coach auf, der die Organisation durch einen Veränderungsprozess begleiten soll. Den Anlass geben diverse schlechte Zufriedenheitsbefragungen der Belegschaft und die Tatsache, dass bereits einige Mitarbeiter das Unternehmen verlassen haben. Die Not ist bereits groß, als der Klient Kontakt zum Coach aufnimmt, um diesen für das Projekt zu engagieren. Der Geschäftsführer mit offensichtlich starken narzisstischen Ausprägungen beschwert sich bereits in der Auftragsklärung und zu Beginn der Zusammenarbeit darüber, das Opfer zu sein und sucht die Schuld bei allen anderen. Zunächst zeigt er sich veränderungsbereit, empathisch und im Sinne seiner Mitarbeiter handelnd. Dieses Bild verändert sich jedoch sehr schnell.
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