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Beruf Coach

Coaching im Digitalen Wandel. Teil 2

Welche Potenziale birgt Virtual Reality?

8 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2017 am 17.05.2017

Die große Mehrheit der Coaches in Deutschland setzt, wie im ersten Teil dieses Beitrages dargestellt, auch im Zuge der voranschreitenden Digitalen Transformation weiterhin auf das klassische Face-to-Face-Coaching. Die persönliche Begegnung als Grundlage für den Aufbau einer guten Coach-Klient-Beziehung ist aus Sicht vieler Praktiker nach wie vor unverzichtbare Grundlage eines jeden Coachings. Vor dem Hintergrund folgender These erscheint dies auch unter Gesichtspunkten des Marktes sinnvoll: Rein toolbasiertes Coaching, das zwar unter Anleitung eines Coachs stattfindet, Wirkung aber nicht auf Beziehungsqualität aufbauend, sondern vor allem methodisch zu erzielen versucht, werde vollständig digitalisiert (siehe Teil 1).  

Eine Antwort auf eine möglicherweise steigende Nachfrage nach digitalen Elementen im Coaching, die etwa vom Deutschen Verband für Coaching und Training e.V. (dvct) gesehen wird (siehe Teil 1), ist mit dem bloßen Beharren auf dem Vier-Augen-Gespräch allerdings nicht gegeben. Der Einsatz vorwiegend mit Distanz-Coaching assoziierter Medien (Video-Chats, E-Mails, Instant Messages etc.) erfolgt – wenn überhaupt – maximal ergänzend. Dies belegen die Ergebnisse gleich mehrerer Umfragen des vergangenen Jahres. 

Welche technischen Innovationen können eine andere, stärker von digitalem Fortschritt geprägte Entwicklung des Medieneinsatzes im Coaching anstoßen? Große Aufmerksamkeit wird derzeit der Virtual Reality (VR, im Fachdiskurs je nach Ausprägung gelegentlich auch als Artificial oder Augmented Reality bezeichnet) geschenkt. Im Fokus stehen hierbei vor allem Technologien, mittels derer (multi-)sensorisch wirkende und daher als sehr realitätsnah erlebte (Immersion) virtuelle Umgebungen computersimuliert werden, die die Interaktion des Benutzers mit den erlebten Welten ermöglichen. Wahrnehmung und Interaktion erfolgen unter Nutzung von VR-Brillen (Head-Mounted-Displays) und können beispielsweise durch taktile Datenhandschuhe oder andere sensorisch wirkende Elemente erweitert werden.

Enormes Marktpotenzial

Gegen Ende vergangenen Jahres gaben sechs VR-Headset-Hersteller – darunter mit Google, HTC VIVE, Sony Interactive Entertainment (PlayStation VR) und Oculus VR einige der wichtigsten Vertreter der Szene – die Gründung der Global Virtual Reality Association (GVRA) bekannt. Ziel der Non-Profit-Organisation sei es, das Wachstum der Branche unter anderem durch die Entwicklung von Best-Practice-Standards voranzubringen. „VR besitzt das Potenzial dafür, die kommende große Plattform der Computertechnologie zu werden und für Verbesserungen in verschiedenen Bereichen, von der Bildung bis zum Gesundheitswesen, zu sorgen und damit einen bedeutenden Beitrag zur globalen Wirtschaft zu leisten“, heißt es in einer Mitteilung des Verbands. Alles nur PR? Mitnichten! Welches Marktpotenzial in der Technologie tatsächlich gesehen wird, sollte spätestens seit März 2014 klar sein. Damals ließ sich Facebook die Übernahme des VR-Brillen-Herstellers Oculus VR, der 2012 mit einem via Crowdfunding aufgebauten Budget von gut 2,4 Millionen US-Dollar in die Produktion der Oculus Rift gestartet war, die stolze Summe von bis zu 2,3 Milliarden (300 Millionen erfolgsabhängig) US-Dollar kosten. 

Eine im August 2016 vorgestellte Trendstudie des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (Bitkom) und der Beratungsgesellschaft Deloitte sagt der VR-Branche für die kommenden Jahre ein rasantes Wachstum voraus. Für das Jahr 2020 sei demnach allein im deutschen Markt mit einem Umsatz von einer Milliarde Euro zu rechnen. Für 2016 wurde ein Umsatzergebnis von 153 Millionen Euro prognostiziert. „Wir sehen sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten für Virtual Reality unter anderem in der Unterhaltung, in der Medienbranche oder in der Touristik. Vor allem aber die Gaming-Branche wird die Umsatzentwicklung beschleunigen“, blickt Bitkom-Experte Timm Lutter in die Zukunft.

Was kann VR im Coaching leisten?

Auch im Bereich des Coachings wird der Einsatz von VR-Anwendungen mittlerweile umfassender diskutiert. Um einen Eindruck davon zu gewinnen, was die Technologie hier leisten könnte, lohnt sich der exemplarische Blick auf einige bisher gewonnene Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung sowie auf praktische Erfahrungen in angrenzenden Feldern.

VR unterstützt Perspektivwechsel und Empathie

Während die im Rahmen der letztjährigen Coaching-Studien befragten Coaches im Hinblick auf den Einsatz digitaler Medien wie Video-Chats, E-Mails etc. beispielsweise eingeschränkte Interventionsmöglichkeiten und erschwertes Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse der Klienten bemängeln (siehe Teil 1), sehen Experten gerade in diesen Aspekten die Vorteile der VR. Mittels der Technologie könnten „nahezu perfekte“ virtuelle Entwicklungsräume gestaltet und „hochindividualisiert“ auf die Bedürfnisse der Klienten zugeschnitten werden, ist Christopher Rauen (2017), 1. Vorsitzender des Vorstands des Deutschen Bundesverbands Coaching e.V. (DBVC) und Herausgeber des Coaching-Magazins, überzeugt. Als optimale Lernumgebungen gestaltete VR-Räume könnten als Rahmen eines Coachings positiv zur Selbst- und Situationsreflexion der Klienten beitragen, erläutert der Business-Coach. 

Tatsächlich legen Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung nahe, dass der Einsatz von VR hinsichtlich eines angestrebten Perspektivwechsels besonders eindrücklich wirken kann. Im Rahmen einer an der Stanford University durchgeführten Studie (Ahn et al., 2013) reagierten Probanden, die mit Rot-Grün-Blindheit verbundene Beeinträchtigungen mittels VR-Simulationen am eigenen Leib erfuhren, im Anschluss an diese Erfahrung deutlich empathischer und hilfsbereiter auf Betroffene, als es die Teilnehmer einer Kontrollgruppe taten. Der Kontrollgruppe wurden die Probleme Farbblinder lediglich mitgeteilt, bevor sich die Probanden einer zwar ebenfalls simulierten, aber nicht an die Herausforderungen einer Rot-Grün-Schwäche angepassten Umgebung aussetzten. Sie sollten sich während der Anwendung gedanklich in die Lebensumstände betroffener Personen hineinversetzen. Eine Situation realitätsnah zu erleben und dadurch emotional zu begreifen, ermöglicht eine wirkungsvollere Reflexion als die bloße kognitive Auseinandersetzung mit einer Thematik. VR-Anwendungen können hierbei hilfreich sein, so die Schlüsse, die aus den Ergebnissen gezogen werden können (siehe auch Albrand, 2015).

VR schafft sichere Umgebungen

Nicht nur aufgrund dessen, dass viele Coaching-Methoden bekanntermaßen aus therapeutischen Feldern entlehnt sind, ist der Blick in ebendiese sinnvoll. Auch ist der Einsatz von VR-Technologie bereits seit einigen Jahren Gegenstand therapeutischer Forschung – insbesondere im Bereich der Verhaltenstherapie, die unter Anwendung von Konfrontationstechniken erfolgt. Bereits 1995 publizierte ein Forscherteam (Rothbaum et al.) Ergebnisse einer in den USA durchgeführten Studie und beschrieb eine positive therapeutische Wirkung des Einsatzes von VR-Anwendungen. Im Verlauf der über acht Wochen angelegten Untersuchung wurden zehn an Höhenangst leidende Studenten mit computersimulierten Umgebungen konfrontiert – darunter Brücken, Balkone und verglaste Aufzüge. Die Intensität der angstauslösenden Reize wurde dabei nach und nach erhöht. Im Ergebnis konnten die Erkenntnisse einer von den Forschern zuvor in vergleichbarer Weise vorgenommenen Einzelfallstudie bestätigt werden. Es wurde eine signifikante Linderung der Angstsymptome festgestellt, während eine Kontrollgruppe diesbezüglich keine Veränderungen aufwies. 

Aber wo liegen die Vorteile einer VR-gestützten gegenüber einer klassischen Konfrontationstherapie, die an realen Orten stattfindet? Die Studienautoren sehen diese vor allem in einer weniger umständlichen und von der Öffentlichkeit abschirmbaren Umsetzung sowie in dem sicherheitsfördernden Umstand, dass die eingesetzten Stimuli genauer kontrolliert werden können. Was hier abstrakt klingen mag, bringt Psychotherapeutin Prof. Dr. Christiane Eichenberg, Leiterin des Instituts für Psychosomatik der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, in einem 2006 veröffentlichten Beitrag anschaulich auf den Punkt:

„Zum einen sind reale Orte (…) oft nur aufwendig zu erreichen, und Passanten könnten die Intervention stören. Zum anderen ermöglichen virtuelle Realitäten die richtige Dosierung des Reizes und das Aufsuchen der angstauslösenden Situationen in einer sicheren Umgebung, die individuell nachmodelliert werden kann.“ 

Es liegt auf der Hand, dass diese Aspekte auch in Bezug auf die Durchführung von Coachings, die einen erlebnisbezogenen Ansatz verfolgen und auf – beispielsweise reflexionsanregende – Umgebungsreize setzen, relevant sind. Denkbar ist ebenfalls, dass der Einsatz simulierter Umgebungen, die das physische Aufsuchen realer Orte bzw. Situationen obsolet werden lassen, kostenreduzierend wirken kann. Insbesondere dann, wenn Coaching-Settings aufgrund der vorgesehenen umgebungsbezogenen Rahmenbedingungen besonders aufwandsintensiv realisierbar sind. Ein erhoffter Effekt, den bereits Rothbaum et al. (1995) im Kontext der therapeutischen Arbeit im Bereich des Möglichen sahen. 

VR bereitet auf reale Bedingungen vor

Torsten Fell, Experte für neue Lerntechnologien, weist in einem Ende letzten Jahres veröffentlichten Beitrag darauf hin, dass VR-Anwendungen (insbesondere 360-Grad-Videos) bereits in einigen großen Unternehmen – darunter etwa Bayer und EnBW – in verschiedenen Zweigen der Human Resources eingesetzt würden: in der Rekrutierung neuer Mitarbeiter, im darauffolgenden Onboarding-Prozess und im Rahmen von Trainingsmaßnahmen. Stets geht es hierbei um die wirklichkeitsnahe Vorbereitung auf reale Arbeitsbedingungen, -situationen und -umgebungen, wie Fell am Beispiel der Einarbeitung neuer Mitarbeiter beschreibt: „Sie lernen ihren Arbeitsplatz kennen und erhalten Hinweise auf Arbeitsabläufe und mögliche Gefahrenstellen.“ So könne der VR-Einsatz Arbeitssicherheitsprozesse, den Verkauf oder auch Service-Abläufe unterstützen. 

Zwar dürfte bei den genannten Maßnahmen das Einüben fester Inhalte im Vordergrund stehen, dennoch können auch hier Analogien gezogen werden, die einen möglichen Nutzen VR-gestützter Coachings illustrieren. Im Rahmen von Coachings, in denen die Vorbereitung von Managern, Politikern oder anderen Personen auf öffentliche Auftritte, wichtige Gespräche etc. vorgesehen ist, könnte die Simulation realer Bedingungen beispielsweise den Einsatz von Rollenspielen oder Video-Analysen unterstützen.

Ein Ausblick

VR ist, wenngleich hier der Hauptwachstumstreiber der Branche gesehen wird, alles andere als eine reine Gaming-Lösung. Die Felder, in denen die Technologie zum Einsatz kommen kann, sind geradezu vielfältig. Auch im Coaching sind – neben Risiken wie der sogenannten Motion Sickness – (hier nur exemplarisch dargestellte) Potenziale gegeben. Vereinzelt bereits unternommene Gehversuche dürften daher mit der Zeit zunehmen. Wie VR-gestützte Coachings konkret aussehen werden und ob sie sich dauerhaft am Markt und in einer in Teilen offenbar weniger technikaffinen Branche werden durchsetzen können, bleibt hingegen abzuwarten.

Literatur

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