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Methoden

Topografisches Coaching

Ein topografischer Orientierungsrahmen im Coaching-Prozess

9 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 10 | 2017

Menschen stehen vor Problemen und meistern diese. Hierbei vollziehen sie Entwicklungen, deren Verläufe in stufenweise erreichte, „typische“ Stationen unterteilt werden können. Das topografische Coaching liefert ein Raummodell, um diesen Lösungsweg zu beschreiben, und bietet damit einen Orientierungsrahmen für Coaches. Erstmalig wurde dieses Modell der Veränderung von dem Arzt und Psychotherapeuten Christian Mayer (2016) beschrieben. Seinen Beobachtungen zufolge durchlaufen Patienten in weitgehend regelmäßiger Abfolge Stationen, die (fallübergreifend) vergleichbare Entwicklungsschritte kennzeichnen, bis sie im Rahmen der Therapie und im Leben zu Lösungen ihrer Probleme kommen. Mayer stellte außerdem fest, dass Menschen häufig räumliche Bilder verwenden, um Probleme oder psychische Zustände zu beschreiben: Sie fühlen sich eingesperrt, sind gefangen im luftleeren Raum oder goldenen Käfig, verlieren ihre Orientierung etc. Der Entwicklungsprozess einer Problemlösung lässt sich also als „eine Art Reise“ auf einer imaginären Landkarte beschreiben, bei der bestimmte Stationen angelaufen werden.

Medial vermittelte Geschichten und Lösungsverläufe im Coaching

Welchen Nutzen können beispielsweise Romane und Filme mit Blick auf Entwicklungsprozesse und Problemlösungen im Coaching haben? „Every complete story is really an analogy for the human mind´s problem solving process“, schreibt der Drehbuchautor Jim Hull (2010): Filme, Märchen, Romane und Erzählungen aller Art sind eine unerschöpfliche Quelle dafür, wie Menschen Probleme lösen (oder auch nicht). Vermutlich ist es genau das, was uns an Geschichten so fasziniert: Wir lernen, welche Probleme uns im Leben begegnen können und wie sie am besten zu lösen sind. Beim Mitfühlen und -leiden mit Film- und Buchprotagonisten erweitern wir das Repertoire an eigenen Lösungsstrategien für unterschiedliche Problemsituationen und besuchen mit dem Helden alle Stationen, die wir selbst ständig durchlaufen.

Aufgrund der so entstehenden Vertrautheit bzw. Nachvollziehbarkeit ist es naheliegend und sinnvoll, die Stationen und Räume, die in medial vermittelten Geschichten durchlaufen werden, auf Verläufe und Lösungsprozesse im Coaching zu übertragen. Universell anwendbar wird dieses Raummodell der Entwicklung durch den Einbezug von Räumen im übertragenen Sinne. Im topografischen Coaching wird etwa auch eine Beförderung oder eine Reorganisation mit daraus resultierendem neuen Verantwortungsbereich oder veränderten Teamstrukturen als Raumwechsel verstanden. Diese metaphorischen Räume kann man sich in ihrer Gesamtheit als Landkarte vorstellen und sich entsprechend daran orientieren.

Die Entwicklungsreise im topografischen Coaching

Welche sind nun die verschiedenen Stationen oder metaphorischen Räume? Das sogenannte Dorado stellt die von idealen Bedingungen gekennzeichnete Ausgangsstation dar. Hier herrschen Ordnung, Harmonie und optimale Realitätsanpassung. Die zweite Station, die Rätselzone, wird vom Klienten hingegen als fremd, chaotisch und ungeordnet erlebt. In Geschichten, Filmen und Märchen wird dieser topografische Raum häufig als Wald oder gar Dschungel dargestellt (Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Es war so dunkel und auch so bitterkalt.). Zum ersten Mal betritt der Klient die Rätselzone unmittelbar nach dem – gewollten oder ungewollten – Verlassen des Dorados, also nach einer einschneidenden, einen Coaching-Anlass bildenden Veränderung wie etwa einer Umstrukturierung im Unternehmen, in dem der Klient tätig ist, oder einem Karriereknick. Anfangs machen sich überwiegend die Gefahren der Rätselzone sowie Verwirrung oder gar Angst angesichts der fremden neuen Situation in den Empfindungen des Klienten bemerkbar. Die Desorientierung des Klienten kann gleichermaßen seine Selbstwahrnehmung betreffen als auch die Außenwelt, in der Gesetzmäßigkeiten und Strukturen plötzlich verändert sind.

„Ich will einfach nur noch meine Ruhe!“, ist ein klassisches Statement des Klienten beim Eintritt in die Rätselphase. Damit steuert er unbewusst schon den nächsten Entwicklungsschritt, das Refugium, an. Doch davor liegt, vor allem bei besonders leistungsstarken Menschen, oft noch ein Durchgangsstadium, das Provisorium. Das Provisorium ist durch ein besonders hervorstechendes Merkmal charakterisiert: Anstrengung. Der in dieser Phase häufig unverhältnismäßige Kraftaufwand der Klienten rührt daher, dass diese oft gegen Widerstände und gegen alle Regeln der Vernunft denken und handeln. Die Gründe dafür sind Angst vor Veränderung und Chaos, also der Rätselzone, oder Angst vor der Selbstdemontage im Falle des Scheiterns.

Mit Eintritt in das Refugium geht der Klient auf Distanz zu seinen Problemen. Ausschließlich in diesem Stadium kann der Klient eine persönliche Entwicklung vollziehen. Zahlreiche Märchen, Mythen und Geschichten greifen das Motiv eines metaphorischen Rückzugsortes auf, als Schutzhöhle, Versteck, Turm, Burg oder Insel, umgeben von einer unberechenbaren und gefährlichen See. Ein archetypisches Bild hierfür ist Odysseus auf der Insel der Nymphe Kalypso. Hier erholt sich der Held von dem zuvor Erlebten – aber er will und muss weiterziehen. Auch das Refugium ist also nur ein Durchgangsstadium.

Bei erfolgreichem Coaching-Verlauf erreicht der Klient einen Zustand, der mit dem ursprünglich als ideal empfundenen Ausgangsraum, dem Dorado, verglichen werden kann. Eine Variante dieses Raumes und damit eine Alternative zur Variante des Dorados 2.0, das vom Klienten nur anhand einer Änderung seiner Person zu besetzen ist, ist der sogenannte Resonanzraum. Hier findet der Klient einen Platz, der seinen eigenen Fähigkeiten und Bedürfnissen bestmöglich entspricht, ohne wesentliche Änderungen seiner Person vollzogen zu haben. So kann z.B. durch eine berufliche Neuorientierung ein Arbeitsplatz gefunden werden, der perfekt zu den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Klienten passt.

Coaching-Fokus in den einzelnen Phasen

Im topografischen Coaching sind im Prinzip alle bekannten Coaching-Tools anwendbar. Der Mehrwert des Modells besteht für den Coach darin, genau abschätzen zu können, wann welche Intervention angezeigt ist. Was in der einen Phase richtig und hilfreich ist, kann die falsche Intervention sein, wenn der Klient sich an einer anderen Station des Raummodells befindet: Mit einem Klienten, der gerade in die Rätselzone katapultiert wurde, Ziele für seine weitere Karriere zu definieren, wäre eine Überforderung. Er ist jetzt noch zu erschöpft und verwirrt dafür. Hatte er jedoch bereits einige Zeit, sich in einem Refugium zu erholen und das Geschehene zu reflektieren, kann der Coach ihn durchaus einladen, Ziele zu definieren und diese mit geeigneten Methoden wasserdicht zu machen. Um die jeweils richtige Intervention und Haltung zu finden, wird der Coach auf Affekte und Bedürfnisse des Klienten achten, die sich auf der Reise durch das Raummodell immer wieder ändern und leicht zu erkennen sind, wenn der Blick dafür einmal geschärft ist.

Der Coach im Dorado: Unterstützung beim TÜV fürs Dorado

Befindet sich der Klient noch im Dorado, ist in der Regel weder ein besonderer Veränderungs- noch Leidensdruck zu spüren. Der Coach mag sich fragen: Was will der Klient eigentlich im Coaching? Es läuft doch alles bestens! Das Klienten-Bedürfnis ist hier oft eine Art „TÜV“ nach dem Motto: Wehret den Anfängen! Die gute Position und der Kontakt zur Realität sollen erhalten bleiben. Die zentrale Aufgabe des Coachs ist die eines Sparringpartners, ein hilfreiches Tool kann z.B. ein 360°-Feedback (Ist mein Team wirklich noch so zufrieden, wie ich glaube?) sein.

Der Coach als Begleiter durch die Rätselzone

Ein Klient, der gerade einen Umbruch und Wandel erlebt, ist oft erkennbar verwirrt, ratlos und schwer in der Lage, klare Entscheidungen zu treffen. Der Coach tut gut daran, hier mit Geduld, Ruhe und Einfühlsamkeit zu reagieren und eigenen Impulsen zu schnellem Fortschritt im Coaching zu widerstehen. Alle bewährten achtsamkeitsbasierten Coaching-Methoden und die Suche nach Ressourcen sind dagegen hilfreich. Entlastung und Orientierung bringt auch, dem Klienten das topografische Modell optisch zu zeigen und zu erklären. Häufig stellt sich dabei Erleichterung ein, sobald der Klient versteht, dass es sich bei seiner gegenwärtigen Situation um einen ganz und gar nicht ungewöhnlichen Anpassungsprozess an die Realität handelt.

Mut machen, das Provisorium zu verlassen

Nicht selten wird ein Klient, der im Provisorium steckt, von seinem Vorgesetzten mit dem Coaching „zwangsbeglückt“, weil er offenbar am Rande seiner Kapazität angelangt ist. Er hört oft nicht mehr richtig hin, ist emotional instabil und scheint beratungsresistent. Das hervorstechendste Merkmal ist eine übergroße Anstrengung bei scheinbarer Unentrinnbarkeit der Situation. Auch der Coach scheitert, wenn er die Wand aus Eigensinn und krampfhaftem Aufrechterhalten eines unhaltbaren Zustandes durch Konfrontation durchbrechen will („Delegation? Sie sind gut! An wen denn?“). Hilfreich ist es dagegen, genau hinzuhören, wo der Klient sich selbst sein Rückzugs- und Erholungsbedürfnis eingesteht, und ihn hier konsequent zu stärken und zu unterstützen.

Der Coach als Sparringpartner im Refugium

Im Refugium findet die eigentliche Entwicklung statt. Der Coach wird umso hilfreicher erlebt, als er das Bedürfnis des Klienten nach Rückzug erkennt und Störungen oder weitere Forderungen zunächst meidet. Mit zunehmendem Abstand reift der Wunsch nach Erkenntnis, der Coach wird als Sparringpartner erlebt und gebraucht. Alle Tools, die zu Erkenntnis verhelfen, sind jetzt hilfreich, z.B. Selbstreflexionsinstrumente, systemische Fragen und vor allem ehrliches, konstruktives Feedback. Mit der Zeit wird der Klient optimistischer, tatkräftiger und entschlossener. Und es eröffnen sich manchmal neue Perspektiven, indem der Klient erkennt, dass er bislang „auf der falschen Party“ war und den Mut findet, seinen persönlichen Resonanzraum aufzusuchen: Eine Führungskraft erkennt dann z.B. dass die Führungsrolle gar nicht zu ihr passt und sie viel glücklicher in der Forschungsabteilung ist.

Der Coach als Lotse beim Neustart

Kurz vor dem Verlassen des Refugiums spürt der Coach bereits die Aufbruchstimmung: Der Klient wirkt optimistisch und tatkräftig. Er trifft Entscheidungen. Ziele („Da will ich hin!“) und klare Absagen an suboptimale Handlungsmuster dienen als Kompass. Die Rolle des Coachs gleicht nun der eines Hilfslotsen beim Probehandeln. Einzelne konkrete Situationen (z.B. das Bewerbungsgespräch) können geübt werden. Das Ende des Coachings ist gekommen, wenn der Klient sein Ziel, das modifizierte Dorado 2.0 oder den Resonanzraum, erreicht hat und seine Bedürfnisse und Fähigkeiten mit den Gegebenheiten und Anforderungen der Umwelt in Resonanz sind.

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