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Konzepte

Eine Frage der Zeit

Coaching-Interventionen und ihre zeitlichen Dimensionen

Die Zeit spielt im Leben des Menschen eine wichtige Rolle. Die wiederkehrende Frage, wie und wofür man die eigene Lebenszeit nutzen will, dürfte nahezu jede und jeden beschäftigen. Dabei richtet sich der Blick oft in die Zukunft – auf Ziele, die erreicht werden sollen. Im Coaching gilt es hingegen, auch die Gegenwart und die Vergangenheit einzubeziehen und vor allem hinderliche Zeitvorstellungen selbst zu hinterfragen sowie scheinbar selbstverständliche Ziele zu validieren. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass viele Coaching-Interventionen eine zeitliche Dimension beinhalten.

15 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2021 am 24.02.2021

Hinderliche Zeitvorstellungen und Zeitmuster verändern – in vielen Coachings ist das zentral. Es gilt, dem Gehetzten Ruhe, dem Erschöpften einen gesunden Rhythmus von Anstrengung und Entspannung, dem Kurzsichtigen eine längerfristige Perspektive und dem Rückwärtsgewandten einen neuen Blick in die Zukunft zu vermitteln; dem Zerstreuten wieder Konzentration und dem Unachtsamen Achtsamkeit für den unwiederholbaren Moment zu ermöglichen. Auch die Themen Ziele, Achtsamkeit, Glück, Angst, Schuld, Kommunikation und Veränderung haben immer eine – manchmal verdeckte, manchmal offene – zeitliche Dimension. Sie in den Fokus zu nehmen, ist oft ein Schritt in Richtung Veränderung.

Wie Zeitvorstellungen uns prägen

Manche Muster sind destruktiv: Der Klient und der Coach sind gleichermaßen von Zeitkonzepten und -modellen, -vorstellungen und -strukturen erfasst und durchdrungen. Der Coach sollte darüber nachgedacht haben, damit er nicht – unbewusst und ohne es zu wollen – bestimmte zerstörerische oder selbstzerstörerische Zeitmuster bei sich selbst und dem Klienten verstärkt.

„Ich habe keine Zeit“: Unsere Kultur ist beherrscht von der Vorstellung, Zeit sei „knapp“ und man könne sie „sparen“. Tatsächlich ist die Zeit immer da und es lohnt sich, über sie in einer anderen Weise nachzudenken: Also nicht zu fragen, woher man die Zeit nehmen soll, sondern, was man in der Zeit tun will. Zeit ist nicht Geld, sondern Leben. Von daher kann es auch heilsam sein, über die Zeit wie über das Leben zu sprechen und folgende Sätze auf sich wirken zu lassen: „Ich habe kein Leben. Ich habe Lebensprobleme. Ich leide unter Lebensknappheit. Das Leben läuft mir davon.“ Redewendungen, die einem die Augen öffnen könnten. Erst veränderte Wahrnehmung ermöglicht ein verändertes Verhalten (Klein, 2009).

Wir leben in der Zeit: Viele heute populäre Vorstellungen gehen davon aus, dass die Zeit etwas sei, was außerhalb des Menschen und der menschlichen Existenz als ein Ding oder ein Prozess vorhanden ist. Daraus speist sich die irrige Vorstellung, man könne mit der Zeit selbst irgendetwas tun, sie haben, besitzen, verlieren, gewinnen, vertrödeln, sparen oder sogar managen. Das alles lässt sich mit der Zeit nicht machen. Tatsächlich können wir höchstens uns selbst managen, trödeln oder hetzen, Dinge in Eile oder mit Konzentration und Muße tun. Als Menschen leben wir in der Zeit und durch die Zeit. Wir sind ein Teil der Zeit, weil wir selbst zeitliche Wesen sind, was man spätestens dann bemerkt, wenn es ans Sterben geht (Borges, 1981).

Hinter Zeitnot steckt die Angst vor der Endlichkeit: Das Problem der Zeitnot hängt mit der Moderne und mit dem Verlust der Ewigkeit zusammen. Nachdem die Vorstellung des individuellen ewigen Lebens im abendländischen Denken nicht mehr kulturprägend ist, ist die Zeit für den Einzelnen knapp geworden. Mit der unbewussten Vorstellung von der Grenzenlosigkeit der Zeit ließ es sich offensichtlich entspannter leben als mit der Vorstellung, dass mit 80 oder 90 Jahren alles vorbei sein wird. Heute soll in einem endlichen Zeitraum schier unendlich viel erlebt oder geleistet werden (Gronemeyer, 1996). Zu diesem Wettlauf gegen die Zeit anzutreten, ist allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt. Glücklicher lebt in der Regel, wer ganz bewusst vom Ende des menschlichen Lebens her auf das Gelingen und die Erfüllung des eigenen Lebens schaut, wie das schon in der griechisch-römischen Antike üblich war.

Zeit vergeht nicht, sie entsteht: Auch die unreflektierte und weitverbreitete Vorstellung von dem „Vergehen“ der Zeit ist mangelorientiert und nicht dazu angetan, Zeitsouveränität zu fördern und zu erreichen. Wer als Coach auch in Bezug auf die Zeit ressourcenorientiert denken und handeln möchte, sollte den Fokus bei seinen Klienten und bei sich selbst eher darauf lenken, wie die Zeit immer wieder neu in, vor und für uns entsteht. Ganz ohne unser Zutun (Klein, 2009).

In der Gegenwart leben: Da die Vergangenheit vergangen und die Zukunft noch nicht da ist, ist es besonders fatal, wenn man genau in der Gegenwart, im Moment, mental und emotional abwesend ist. Entweder weil man noch in der Vergangenheit verweilt – die Minuten oder Jahre zurückliegen kann – oder weil man von der Zukunft träumt oder sich vor ihr ängstigt – egal ob sie noch Stunden oder Jahre entfernt ist. Zum Glück ist unser Körper immer da, wo er gerade ist, und damit ständig in der Gegenwart. Deshalb beginnt jede Achtsamkeitsübung klugerweise mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers und des eigenen Seins im Augenblick. Insofern ist auch jede Konzentrationsübung im Coaching eine mehr oder weniger bewusste Zeitintervention (Kabat-Zinn, 2011).

Helfende Zeitphänomene im Coaching-Prozess

Fast alle Interventionen im Coaching haben eine zeitliche Dimension. Es gilt, sie bewusst in den Blick zu nehmen.

Konzentration schafft Zeitlosigkeit

Die erste und wichtigste Intervention des Coachs ist die absolute Konzentration auf den Klienten und auf die Gegenwart. Selbst wenn der Klient über Vergangenes oder Zukünftiges spricht, tut er das hier und heute, genau in dieser Sekunde. Die Konzentration des Coachs kann und sollte sich auf den Klienten übertragen. Das setzt voraus, dass der Coach nicht selbst durch andere Themen abgelenkt und mit inneren oder äußeren Problemen belastet ist. Nichts sollte ihn davon abhalten, von der ersten bis zur letzten Sekunde seine absolute Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Diese Konzentration schafft eine bestimmte Art von Zeitlosigkeit, einen Flow, in dem das Vergehen der gemessenen Zeit keine Rolle mehr spielt, eine Zeitlosigkeit, die nicht mit unendlicher Ausdehnung zu verwechseln ist, sondern eher mit einer Tiefendimension von Zeit und Erleben zu tun hat (Csikszentmihalyi, 1992).

Tiefe Veränderungen in kurzer Zeit 

Dem Klienten wird also unabhängig von seinem konkreten Thema eine Zeit- und Selbsterfahrung ermöglicht, die an sich schon besonders ist und die er in seinem normalen Alltag selten macht. Nicht auf oberflächliche Informationen und Übungen kommt es an, sondern auf die Erfahrung der Tiefe. Natürlich ist diese Tiefendimension des Lebens auch beim Betrachten eines Bildes, in einem Konzert oder in der Meditation möglich. Aber sie sollte gerade auch in einem konzentrierten Gespräch im Coaching erfahrbar sein. Achtsamkeit, Konzentration und Tiefe bedingen sich gegenseitig. Immer wieder kann man dann im Coaching beobachten, dass eine bestimmte Intervention bei dem Klienten sehr tief geht, ohne dass die Intervention selbst eine lange zeitliche Ausdehnung hatte. Die Zeit verliert in solchen Momenten etwas von ihrer Allgegenwart und vor allem ihrer Linearität.

Zeitlupe ermöglicht Erkenntnis

Die nach der Uhr getaktete Zeit, die den Alltag der Menschen bestimmt, wird im Coaching noch auf eine andere Art und Weise außer Kraft gesetzt. Dabei macht sich der Coach eine Technik aus dem Film zunutze und lässt die Zeit einfach langsamer „ablaufen“, quasi in Zeitlupe. Eine entscheidende soziale oder kommunikative Episode aus dem Leben des Klienten, die vielleicht nur ein paar Sekunden gedauert hat, wird in der Sitzung noch einmal ganz ausführlich, vielleicht über eine ganze Stunde in ihren verschiedenen Dimensionen untersucht, um durch das Verlangsamen zu neuen Einsichten zu kommen: z.B. über unbewusste Muster und die eigene Körpersprache, über die selektive Wahrnehmung und über den eigenen Beitrag zu dem Konflikt, über Resonanz und wie man sie beeinflussen kann. So wird diese Situation, die im Alltag in Sekunden unbewusst und oberflächlich abläuft, in ihrer Vieldeutigkeit und ihrer Tiefendimension erfahrbar. Die Situation kann immer noch einmal durchgespielt und nachgestellt werden. Und das in mehreren Durchläufen. So kann der Coach zusammen mit dem Klienten die Zeit in der Sitzung beliebig oft vorwärts und rückwärts laufen lassen. 

Zeitraffer macht Essenz sichtbar

Auch das Gegenteil wird im Coaching praktiziert: dass Episoden aus dem Leben des Klienten wie im Zeitraffer erfragt und erzählt werden. Auch da entstehen neue Erkenntnisse genau dadurch, dass eben der „normale, lineare und gleichmäßige“ Verlauf der Zeit verändert wird. „Das Problem fing eigentlich schon in der Schule an, dann tauchte es im Studium auf und jetzt wieder, als ich befördert wurde …“ Da werden dann 20 Jahre Zeit und Leben – von allem Nebensächlichen entkleidet – in einer Minute zusammengefasst und das Wesentliche, die Essenz, wird sichtbar. Auch damit geht oft ein ungewöhnlicher Erkenntnisgewinn einher.    

Pausen bieten Raum für Selbsterfahrung

Während in unserer Kultur die Vorstellung vorherrscht, dass die Zeit immer „genutzt“ werden sollte und Pausen nur Leerlauf seien, provoziert ein Coach eher Pausen. Denn genau sie können den Wechsel von der Oberfläche zur Tiefendimension der Zeit befördern. Wenn der Klient schweigt und der Coach die Pause aushält, weil er zeitsensibel ist, kann er die Beobachtung machen, dass gerade in diesen Pausen das Neue und Überraschende passiert. In diesem Moment spult der Klient keine vorgedachten und antrainierten Sätze mehr ab, sondern geht in eine innere Suchbewegung.

Direkte zeitliche Interventionen im Coaching

Neben diesen Interventionen, denen eine zeitliche Dimension implizit innewohnt, können Coaches auch wesentliche Impulse setzen, indem sie direkt zeitliche Perspektiven verändern.

Niemand kann die Vergangenheit ändern

Man sollte meinen, dass niemand ernsthaft versucht, in der Vergangenheit zu arbeiten. Aber als Coach erkennt man häufig sprachliche Konstruktionen, mit denen ein Klient genau das versucht: „Hätte ich damals …“, „Könnte ich doch noch einmal …“ Hilfreich ist dann der diskrete Hinweis, dass nicht nur der Klient, sondern niemand sinnvoll in der Vergangenheit arbeiten kann. Veränderung ist nur in der Gegenwart möglich, die morgen schon wieder Vergangenheit ist, und in der Zukunft, die dann zur neuen Gegenwart wird. Es gilt also, den Klienten immer wieder sanft aus der Vergangenheit in die Gegenwart und die Zukunft zu holen – eine Zeitintervention, die häufig gar nicht als eine solche erkannt wird.

Die Vergangenheit wird in der Gegenwart erinnert

Gerade bei schwierigen oder traumatischen Erlebnissen, die der Klient in der Vergangenheit erlebt hat, ist es essentiell, sicherzustellen, dass er nicht nur körperlich, sondern auch geistig und emotional in der Gegenwart verankert ist und sich in der Sitzung sicher, geborgen und geschützt fühlt. Von diesem Standpunkt aus kann er auf Vergangenes schauen, ohne von einem früheren Erleben überflutet zu werden. Zwar kann die Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden. Sehr wohl aber ist es möglich und vor allem sehr hilfreich, in der Gegenwart an der Interpretation und den Schlussfolgerungen des Erlebten zu arbeiten. Denn nicht das vergangene Ereignis an sich, sondern seine Interpretation und Einordnung wirken in der Gegenwart und in der Zukunft des Klienten weiter.

Alte, fremde oder eigene selbstbestimmte Ziele

Coaches arbeiten mit Klienten gerne an Zielen – aber leicht werden dabei zwei wesentliche Zeitdimensionen übersehen. Erstens gilt es nämlich zu fragen, ob die Ziele, die der Klient erreichen möchte, überhaupt seine eigenen sind oder ob er sie in der Vergangenheit ungeprüft übernommen hat – z.B. von Eltern, Erziehern, Lehrern oder Medien. Insofern müsste der Coach, bevor er beginnt, mit dem Klienten an der Erfüllung „seiner“ Ziele zu arbeiten, zuerst mit ihm darüber reflektieren, inwieweit es sich um alte, vergangene – und daher fremde – oder wirklich um reflektierte, selbstgesetzte und gegenwärtige Ziele handelt.

Qualitative Ziele liegen in der Gegenwart

Zweitens wird häufig ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Ziele eines Klienten immer in der Zukunft liegen. Manche liegen aber durchaus in der Vergangenheit – etwa, wenn der Klient etwas „verloren“ hat, das er gerne zurückgewinnen würde: die Unbeschwertheit und Kreativität früherer Jahre vielleicht. Dann gilt es, sich zu erinnern und diese Ziele wieder hervortreten zu lassen und sich mit ihnen in der Gegenwart zu verbinden.

Auch andere, vor allem qualitative Ziele, liegen in der Regel nicht in der Zukunft. Ein erfülltes Leben zu führen, ausgeglichen, konzentriert und entspannt bei der Arbeit zu sein, in Balance zwischen Ruhe und Anspannung sowie achtsam im Moment zu bleiben – das trifft entweder jetzt, hier und heute, von Sekunde zu Sekunde neu zu oder nie.

Nicht selten haben Klienten aber die Vorstellung, sie würden zwar jetzt noch eine Weile durch ihr Leben hetzen oder unglücklich sein, aber wenn sie erst den Zeitpunkt X erreicht haben, würde sich alles ändern. Eine nicht sehr sinnvolle Hoffnung. Unter Umständen tritt diese ersehnte Zukunft nämlich nie ein und erst auf dem Sterbebett wird deutlich, was man und wie man nicht gelebt hat. Die Fixierung auf quantitative Ziele im Coaching, die oft in der Zukunft liegen – mehr verdienen, eine bessere Position erlangen, den Beruf wechseln – kann unter Umständen von den qualitativen Zielen in der Gegenwart wegführen (Klein, 2009).

Glaubenssätze kommen aus der Vergangenheit und von außen

Wenn Klienten hinderliche Glaubenssätze haben, kann es eine hilfreiche Intervention sein, zu zeigen, dass diese Sätze, die in der Gegenwart anscheinend von innen kommen und als die eigenen wahrgenommen werden, früher einmal von außen kamen. Oft haben Eltern oder andere Bezugspersonen sie dem Kind zugeschrieben, bis das Kind sie übernommen hat. Wobei dieser Akt der Übernahme in der Regel nicht mehr erinnert wird. Die Erkenntnis, dass die Glaubenssätze zeitlich betrachtet gar nicht die eigenen sind, sondern fremde, macht es Klienten oft viel leichter, sie loszulassen und sie durch gegenwärtige, unterstützende zu ersetzen.

Immer unterwegs oder angekommen sein

Nicht nur im Coaching, auch im Alltag werden vor allem Ziele als besonders realitätshaltig angesehen: Dort will man wirklich ankommen. Was in der Regel aber dazu führt, dass der Weg und die Zeit bis dahin nur als ein Unterwegssein, ein Hindernis oder ein Mangelzustand wahrgenommen werden. Die Wüste muss durchschritten, die Entbehrung auf sich genommen werden, um ein großartiges Ziel zu erreichen. Dieses Unterwegssein, ohne jemals anzukommen, ist auch auf der Mikroebene im Alltag von Klienten zu erkennen. Von der Arbeit nach Hause, von einer Veranstaltung zur nächsten: Es ist ein ständiges Unterwegssein, das mit Stress und Anspannung einhergeht und vielen zur zweiten Natur geworden ist. Erst auf dem Gipfel eines Berges, beim Blick auf das Meer oder in einer Meditation können sie sich erinnern oder spüren, was mit Angekommensein überhaupt gemeint sein könnte.

Um ein solches Angekommensein im Alltag überhaupt erleben zu können, ist es nötig, sich die fünf Dimensionen zu vergegenwärtigen, die dabei zusammenspielen: die mentale, emotionale, körperliche, zeitliche und räumliche Ebene. Mental muss man dem Angekommensein überhaupt erstmal einen Wert beimessen und frei sein von Zweifeln, Zwiespalt, Sorgen und Bedenken. Zur emotionalen Dimension gehört das Loslassen und Entspannen im und beim Tun selbst. Bei der körperlichen Dimension gilt es, den eigenen Körper, Atem, Muskeln, Boden oder Sitz im Raum wahrzunehmen. Die zeitliche Dimension beinhaltet, wirklich im Moment zu sein. Und schließlich ist da noch die räumliche Dimension, die nämlich Ort, Raum und Umgebung aufmerksam wahrnimmt (Klein, 2009). In all diesen Dimensionen kann man sich ständig als unterwegs oder als angekommen definieren: zu Hause, im Büro, aber auch im Zug, im Auto, vor einer roten Ampel. Es ist eine Frage der inneren Haltung. Erst wenn dieses diktatorische Weiter, Weiter, Weiter in den Hintergrund getreten ist, kann das Angekommensein genauso selbstverständlich werden wie zuvor das ständige Unterwegssein.

Wohlfühlgeschwindigkeit statt Gewohnheitsgeschwindigkeit

Jeder Mensch hat eine Gewohnheitsgeschwindigkeit, mit der er normalerweise ganz unbewusst unterwegs ist. Diese Gewohnheitsgeschwindigkeit ist aber leider oft überhaupt nicht die eigene Wohlfühlgeschwindigkeit (Klein, 2009). Ein Klient kann schon von Kindheit an immer angetrieben worden sein und sich in der Folge selbst hetzen – auch wenn er allein ist – und das als völlig normal ansehen. Oder er kann immer ausgebremst worden sein und von daher gar nicht in seine Kraft und Geschwindigkeit kommen. In beiden Fällen hat er jeweils eine Grundgeschwindigkeit antrainiert bekommen, ohne dass er die eigene Wohlfühlgeschwindigkeit überhaupt kennt. Das ist tragisch und kann Burn-outs Vorschub leisten. Es gilt also, den Klienten mit seiner eigenen Grundgeschwindigkeit ganz bewusst experimentieren zu lassen. Indem er das eigene Tun mal bewusst deutlich beschleunigt, dann wieder abbremst und so nach und nach seine Wohlfühlgeschwindigkeit erspürt und kennenlernt.

Multitemporalität und Wohlfühlgeschwindigkeit

Wer die eigene Wohlfühlgeschwindigkeit kennt, ist aber noch nicht aus dem Schneider. Denn wer durch äußere Vorgaben ständig beschleunigen muss, gerät trotzdem unter Stress, ebenso wer ständig ausgebremst wird. Die äußeren Zeit- und Geschwindigkeitsvorgaben unterdrücken insofern immer einen Teil der eigenen Individualität. Statt sich aber dagegen zu sträuben und dadurch viel Energie zu verlieren, ist es besser, sich mit dem Konzept der Multitemporalität vertraut zu machen (Levine, 1999). Diese Intervention zielt darauf ab, nicht länger permanent in seiner Wohlfühlgeschwindigkeit zu bleiben, sondern in bestimmten Situationen bewusst sehr viel schneller und in anderen sehr viel langsamer zu sein. Diese bewusste Abwechslung gilt es, zu genießen und zu zelebrieren, um dann aber über einen bestimmten Zeitraum hinweg die Beschleunigung und Verlangsamung auszugleichen. Ziel ist es, die eigene Wohlfühlgeschwindigkeit – wenn man sie einmal gefunden hat – also nicht absolut zu setzen, sondern bewusst um sie zu pendeln und dann wieder zu ihr zurückzukehren.

Fazit

Zeitliche Dimensionen, das Spiel mit der Zeit, die Freiheit der Zeit gegenüber sowie die Zusammenhänge von Zeit und Leben sind für den Coaching-Prozess von zentraler Bedeutung und müssten auch in der Coaching-Literatur viel häufiger wahrgenommen und besprochen werden. Die Zeit taucht bisher fast immer nur indirekt auf, kaum explizit. Dabei sind psychologische und philosophische Zeitvorstellungen und Zeitkonzepte evident wichtig. Sie beherrschen die Hirne und Herzen der meisten Menschen innerhalb einer Kultur auf eine dramatische und zumeist unbewusste Weise. Das Coaching hat hier neben der individuellen Unterstützung des Klienten auch eine kulturkritische und aufklärerische Arbeit zu leisten.

Literatur

  • Borges, J. L. (1981). Gesammelte Werke 5/II, Essays. München: Carl Hanser.
  • Csikszentmihalyi, M. (1992). Flow – Das Geheimnis des Glücks. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Gronemeyer, M. (1996). Das Leben als letzte Gelegenheit. Darmstadt: Primus.
  • Klein, O. G. (2009). Zeit als Lebenskunst. Berlin: Wagenbach.
  • Levine, R. (1999). Eine Landkarte der Zeit. München: Piper.
  • Kabat-Zinn, J. (2011). Gesund durch Meditation. München: O.W. Barth.

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