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Portrait

Interview mit Prof. Dr. Ulrich Lenz

Weshalb Change Management nicht mehr ohne Coaching auskommt

Prof. Dr. Ulrich Lenz kann aus umfangreicher Führungserfahrung schöpfen. Mehr als 20 Jahre war der Münchner in den Bereichen HR und Change Management operativ tätig. Eine Zeit, die spürbaren Einfluss auf das gegenwärtige Wirken des Hochschullehrers, Kongressleiters und Coachs hat. So liegt ein Hauptaugenmerk weiterhin auf dem Umgang mit Veränderungsprozessen im Zeitalter der Digitalisierung. Diese seien heute, so Lenz, in stärkerem Maße von einer persönlichen Komponente geprägt. In der Konsequenz nehme die Bedeutung, die Coaching im Kontext von Change Management spielt, unweigerlich zu. 

20 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2020 am 26.02.2020

Ein Gespräch mit David Ebermann

2017 haben Sie die Leitung des Coaching-Kongresses der Hochschule für angewandtes Management mit Sitz in Ismaning übernommen. Was hat Sie an der Aufgabe gereizt?

An der Hochschule – zu diesem Zeitpunkt war ich noch Dekan der Fakultät Wirtschaftspsychologie – legen wir einen besonderen Schwerpunkt auf das Thema Coaching. Die Kongressleitung übernahm ich von meiner ehemaligen Kollegin, Prof. Dr. Jutta Heller. Sie hatte den Kongress 2014 gegründet. Besonders gereizt hat mich daran, dass ich aufgrund meines eigenen berufsbiografischen Hintergrunds und der Ausrichtung unserer Hochschule helfen wollte, fundierte Konzepte und Ideen zu entwickeln sowie eine größere Öffentlichkeit für das Thema Coaching zu gewinnen. Dafür ein Forum bereitzustellen, war das wesentliche Ziel, bei dem ich auf drei bereits durchgeführte Kongresse aufbauen konnte.

Welche Aspekte sind Ihnen bei der inhaltlichen Gestaltung des Kongresses wichtig? 

Wir legen besonderen Wert auf die wissenschaftliche Fundierung anwendungsorientierter Beiträge. Sowohl mit dem Kongress als auch mit unserem Studienschwerpunkt im Bereich Coaching, den wir anbieten, verfolgen wir die Vision, zur Professionalisierung von Coaching beizutragen. Deshalb ist es wichtig, dass auf dem Kongress nicht die neuesten Moden und Tools – nach dem Motto „ich habe da mal was ausprobiert“ – vorgestellt werden. Dies ist zwar aufgrund dessen, dass die Kongressbeiträge durchaus eine gewisse Bandbreite abdecken, nicht immer hundertprozentig auszuschließen. Aber die wesentliche Zielsetzung eines Beitrages besteht darin, ein Konzept, das auf einer gut fundierten Theoriegrundlage basiert, praxisnah zu präsentieren. Wenn die Menschen, die am Kongress teilnehmen, nach zwei Tagen abreisen, sollen sie etwas mitnehmen, aber nicht nur auf reiner Toolebene, sondern insbesondere auch Impulse auf konzeptionellem Gebiet.

Das Kongressthema 2018 lautete: „Lebensphasenorientiertes Coaching“. Worum ging es konkret?

Angesichts der intensiven Veränderungen, denen Menschen im beruflichen Kontext ausgesetzt sind, wollten wir Konzepte und Ideen anbieten, wie berufsbezogene Umbrüche gestaltet werden können. Eine wichtige Lebensphase, um die es beispielsweise ging, war der Eintritt ins Berufsleben: Was sind die Anforderungen der jungen Leute? Wie lässt sich für sie ein gutes Jobumfeld herstellen? Ein wesentlicher Schwerpunkt des Kongresses war das Thema der Unternehmensübergabe bzw. -nachfolge. Es handelt sich hierbei sowohl im Leben des abgebenden als auch des aufnehmenden Inhabers oder Inhaberkreises um einen weitreichenden Umbruch, der tief in den beruflichen und sehr intensiv auch in den privaten Lebensbereich hineinragt. Einerseits spielt das Thema des Loslassens hier eine große Rolle. Andererseits gehen Nachfolger ins Risiko, mit einer hohen Verantwortung für Mitarbeitende und Vermögensgegenstände im Unternehmen umgehen zu müssen. Neben diesem Spannungsfeld wurde auf dem Kongress beleuchtet, wie berufsbezogene Lebensumbrüche generell gemeistert werden und wie Coaches ihre Klienten hierbei wirkungsvoll begleiten können.

Sie selbst haben Erfahrung im Coaching von Klienten, die – z.B. aus der Rolle der angestellten Führungskraft kommend – eine Selbstständigkeit aufbauen möchten. Wie sieht ein solches Coaching aus?

Zunächst wird hinterfragt, wie es um die Ressourcen steht, die es für die Selbstständigkeit braucht. Klienten, die an eine Gründung denken, sind häufig noch auf der Suche und sagen eben nicht: „Okay, die Entscheidung steht und jetzt will ich wissen, wie ich mein Unternehmen aufbaue!“ Auf die Wünsche und Hoffnungen, die mit dem Vorhaben verbunden sind, zu schauen und dabei die Frage zu beleuchten, ob der gewünschte Eintritt in die Selbstständigkeit vielleicht auch eine Flucht sein könnte, ist wichtig. Es wird also hinterfragt, was genau der potenzielle Gründer hinter sich lassen möchte. Geht es dem Klienten z.B. darum, Frust im bisherigen Job oder Ärger mit dem „nervigen“ Chef loszuwerden? In Aspekte wie diesen wird hineingespürt, um aufseiten des Klienten die Sicherheit herzustellen, dass die Gründung aus eigenem Antrieb und damit aus einer starken Position heraus angegangen wird. Das ist mir wichtig und ich arbeite im Coaching grundsätzlich – gerade aber auch in diesem Kontext – mit Konzepten der Ressourcenorientierung und der Positiven Psychologie. Es gilt demnach, niemanden zu verunsichern, sondern eine klare Entscheidung zu ermöglichen – auch unter Berücksichtigung der Risiken und zu erwartenden Hürden. In der nächsten Phase geht es darum, dass der Klient oder die Klientin für sich erarbeitet: Was ist eigentlich meine Idee? Worin besteht meine Mission? Was will ich in die Welt bringen und wie kann ich das konkret angehen?

Wie viel Expertenberatung enthält ein Coaching im Kontext der Existenzgründung?

Die Herausforderung für den Coach besteht tatsächlich darin, weitestgehend auf der Prozessebene zu bleiben. Es ist wichtig, dem Klienten durch Fragen, Perspektivenwechsel etc. zu helfen, sein eigenes Konzept zu entwickeln. Mit Einwilligung des Klienten kann eine kurze Fachberatungssequenz eingeflochten werden. Vor allem dann, wenn – wie in meinem Fall (lacht) – die eine oder andere eigene relevante Erfahrung besteht, ist die Versuchung aber groß, stärker in eine beratende Expertenrolle hineinzurutschen. Dies wäre nicht im Sinne eines professionellen Coachings. Ich lege daher viel Wert darauf, mich selber gut zu kennen und die eigene Wirkung in einem Coaching-Prozess immer sehr genau zu reflektieren.

2019 widmeten Sie sich dem Kongressthema „Coaching in disruptiven Veränderungsprozessen“. Welche zentralen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Wir beleuchteten die Perspektiven der Gründer bzw. der Start-ups, die eine Disruption durch eine innovative Idee anstoßen, sowie die Perspektive der Menschen in Organisationen, die von einer Disruption überrollt werden. Eine Erkenntnis bestand darin, dass auch die Gründer nur mit Wasser kochen. Das Wachstum eines Start-ups muss sehr gut vom Gründer reflektiert werden, um zu verstehen, dass dadurch strukturelle Änderungen erforderlich werden können und dass sich auch der Gründer als Person in seinem Verhalten und Führungsstil weiterentwickeln muss, um das Wachstum der Organisation fortlaufend zu unterstützen. Aufseiten derer, die von Disruption bedroht sind, muss es ermöglicht werden, eine sinnvolle Balance zwischen Bewahren und Veränderung zu halten. Was ist in unserer Organisation und in meinem Wirken als Führungskraft – auch angesichts der Disruption – bewahrenswert? Worauf können wir aufbauen? Was müssen wir hingegen über Bord werfen und welche neuen, veränderten Prozesse müssen wir einführen? Diese Fragen sind nicht trivial und reichen stark in die intrapersonale Ebene hinein. Führungskräfte müssen sich z.B. damit auseinandersetzen, wie sie mit ihrem Wirken auf die Veränderungsprozesse Einfluss nehmen.

Prof. Dr. Ulrich Lenz

Foto: Patrick Schingnitz, IUN Innovation Center

Sie sagen, dass Transformationsprozesse heute oft von intensiveren persönlichen Veränderungen auf Klientenseite gekennzeichnet sind …

Als Coach arbeite ich im Wesentlichen mit Führungskräften, Projektleitern sowie mit Expertinnen und Experten zusammen. Wenn ich reflektiere, vor welchen Herausforderungen diese Menschen stehen, dann wird deutlich, dass sich die heutige industrielle Revolution bzw. das, was man als „4.0“ bezeichnet, fundamental von den vorangegangenen industriellen Revolutionen unterscheidet. Und zwar dahingehend, dass sich Arbeit und Leben jetzt viel stärker gegenseitig durchdringen. Und: Menschen stellen häufig fest, dass sie so, wie sie bisher geführt und gearbeitet haben, unter den VUCA-Bedingungen (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) nicht mehr weiterkommen. Dies geschieht zunächst auf rationaler Ebene, muss aber auch emotional verarbeitet werden. Konkret: Ich habe Führungskräfte im Coaching, deren Organisationen heute mehr auf Selbstorganisation der Mitarbeiter setzen. Auf der rationalen Ebene heißt es dann von Klientenseite: Das ist in Ordnung, wir müssen das machen und ich stehe hinter dieser Entscheidung. Dann folgt aber mitunter der Satz: Wo werde ich jetzt eigentlich noch gebraucht? Dieser innere Konflikt betrifft die Person selbst, was in Veränderungsprozessen noch nicht immer ausreichend berücksichtigt wird. Die Führungskraft hat vielleicht schon teamorientiert geführt, finale Entscheidungen aber alleine getroffen, war wichtig, wurde bei Fragen angesprochen, übte eine Steuerungswirkung aus und hatte einen Führungsstatus inne. Das machte ihr Selbstbild aus. Im Zuge der Selbstorganisation verliert dies aber potenziell an Bedeutung. Das muss die Führungskraft erst einmal vor sich selbst und auch vor ihrem privaten Umfeld verarbeiten können. Ich sehe darin einen wichtigen Punkt, weshalb ich auch dafür plädiere, das systemorientierte Vorgehen mit psychodynamischen Konzepten zu verbinden und dieses Zusammenwirken zu verstehen.

Lässt sich daraus folgern, dass Change Management heute kaum noch ohne Coaching auskommt?

Durchaus. Ich denke, dass sich Coaching angesichts der heutigen Komplexität von Veränderungsprozessen zu einem unverzichtbaren Instrument entwickeln wird, das wesentlich dazu beiträgt, es Menschen in verantwortlichen Positionen zu ermöglichen, diese Change-Prozesse überhaupt bewältigen zu können. Voraussetzung ist, dass sich Coaching weiter professionalisiert. Ich sehe diesbezüglich – z.B. im Ausbildungsbereich und auf Verbandsebene – sehr positive Entwicklungen und hoffe, dass es den vielen guten Coaches gelingt, sich von den Scharlatanen, die es leider immer noch gibt, weiter abzusetzen.

Welche Entwicklungsrichtungen sehen Sie für Coaching?

Zu bedenken geben möchte ich zunächst, dass wir Coaches uns heute manchmal relativ unreflektiert auf Trends einstellen und diese dann lautstark propagieren. Mein „Lieblingsbegriff“ in diesem Zusammenhang ist der des agilen Coachs, den ich mit wachsender Begeisterung hinterfrage (lacht). Coaches helfen von jeher ihren Klienten, Aspekte zu reflektieren, ihre Potentiale zu erweitern und sich neue Perspektiven zu eröffnen. Wir sollten nicht diejenigen sein, die der neuesten Mode hinterherrennen und versuchen, so ein paar Coaching-Stunden mehr zu verkaufen.

Eine wesentliche Entwicklungsrichtung sehe ich dennoch darin, dass wir lernen müssen, stärker mit Teams zusammenzuarbeiten. Team-Coaching ist wahrhaftig nichts Neues, aber die Voraussetzungen und die Gestaltung von Teamarbeit ändern sich in agilen Organisationen grundlegend. Es besteht ein höherer Selbstorganisationsgrad. Für etablierte Organisationen ist dies nicht selbstverständlich. Ich habe Situationen erlebt, in denen eine Geschäftsführung gesagt hat: Liebe Teams, wir wollen euch nun mehr Selbstorganisation geben. Die Teams sagten aber: Das wollen wir gar nicht! Wesentlich wird sein, dass Coaches solche Prozesse der Selbstorganisierung gut begleiten können.

Ein zweiter Punkt besteht darin, dass Coaching selber komplexer wird. Für mich steht zur Diskussion, ob ein Coach für einen Veränderungsprozess immer ausreicht oder Coaches lernen müssen, auch in Beraternetzwerken zusammenzuarbeiten. Angesichts der Komplexität heutiger Veränderungsprozesse kann es sinnvoll sein, unterschiedliche Coaches mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausrichtungen projektbezogen in einem wirkungsvollen und ganzheitlich arbeitenden Beratungssystem zu vereinen. Beispielsweise mag eine Kollegin oder ein Kollege im Team-Coaching besonders erfahren sein und übernimmt dieses, während ein anderer Coach im Bereich der Begleitung von Führungskräften in Umbruchsituationen über viel Erfahrung verfügt und sich diesbezüglich einbringt.

Als wichtig erachte ich zudem, dass Coaches über eine gewisse Methodenbandbreite verfügen. Wenn wir alle vier VUCA-Dimensionen mit nur einem Ansatz abdecken wollen, z.B. mit dem systemischen Arbeiten, stellt sich mir zumindest die Frage, ob das der Komplexität dieser Bedingungen angemessen ist. Deshalb versuchen wir auch im Rahmen unseres Studiengangs ein fundiertes Methodenspektrum anzubieten.

Müssen Coaches heute ein anderes Kompetenzprofil erfüllen?

Heute hört man Land auf Land ab, wir bräuchten einen Umbruch, alles müsste ganz anders angegangen werden. Davon halte ich nur begrenzt etwas. Aus dem Innovationsmanagement und der Innovationsforschung wissen wir, dass Neues in der Regel auf Vorhandenem aufbaut. Ich würde daher nicht behaupten, Coaches sollten jene Kompetenzen, die sie in der Vergangenheit erworben haben, über Bord werfen. Notwendig ist aber eine Fortentwicklung von Kompetenzen, die konsequent angegangen werden muss. In Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen merke ich, dass zwar viel in die eigene Weiterbildung investiert wird, aber häufig bleibt man dabei im eigenen Beritt. Beispielsweise vertieft der systemische Coach dann seine systemischen Fähigkeiten. Ich möchte dazu aufrufen, sich auch in andere Felder hineinzubewegen, um dann reflektiert zu schauen: Was nehme ich in meinen fortentwickelten Kompetenzbaukasten auf? Ein wichtiges Thema ist z.B. die Frage, inwieweit Coaches Möglichkeiten des technologischen Fortschritts in ihre Coaching-Prozesse integrieren wollen und welche zusätzlichen Kompetenzen hierfür benötigt werden.

Hier kommt das Thema Coaching-on-Demand ins Spiel.

Richtig. Gerade mit den immer besser werdenden digitalen Assistenz- und Kommunikationssystemen wird das Thema Coaching-on-Demand wichtiger. Und zwar auch deshalb, weil Klienten aufgrund der VUCA-Bedingungen hier und jetzt vor einer neuen Situation stehen können und schnelle Entscheidungen treffen müssen, die einer Reflexion mit einem Coach bedürfen.

Sie haben einen Klienten während einer Restrukturierungsphase begleitet. Das war, wie Sie berichten, ein „langjähriger“ Prozess. Muss der Grundsatz, ein Coaching sei immer zeitlich begrenzt, im Change-Kontext relativiert werden?

Ja, allerdings in einer sehr reflektierten Form. Coaching ist bekanntlich eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Dazu gehört das Selbstverständnis des Coachs, einen Auftrag jederzeit in Übereinstimmung mit dem Klienten beenden zu können. Ich schaue auf den Prozess und reflektiere mit den Klienten, was ihnen jetzt hilft. Und das kann auch die bewusste und zielorientierte Beendigung des Coachings sein. Coaching-Prozesse können wesentlich kürzer verlaufen, als ursprünglich vereinbart, weil das Anliegen des Klienten vorzeitig erfüllt ist. Ich hatte schon erfolgreiche Coachings, die strenggenommen gar nicht erst angefangen haben. Man hat ein Telefonat im Sinne einer Auftragsklärung geführt, das möglicherweise etwas intensiver war, und der Klient sagte: „Prima, Sie haben mir die Augen geöffnet.“

Hier geht es um die Haltung, Coaching niemals ausschließlich als Geschäft zu verstehen und möglichst viele Stunden verkaufen zu wollen. Wenn diese Haltung gegeben und die Beendigung eines Coachings immer eine Option ist, über die man offen sprechen kann, halte ich nicht viel davon, einen Coaching-Prozess per se zeitlich zu begrenzen. Es ist dann in Ordnung, wenn Coach und Klient gemeinsam beschließen, eine längerfristige Begleitung einzugehen. Dabei sind immer wieder Haltepunkte einzubauen, um reflektieren zu können, was in der gerade aktuellen Situation das Richtige ist.

Nach Ihrem Studium der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der Universität der Bundeswehr und der 1990 abgeschlossenen Promotion an der TU Berlin waren Sie zunächst rund drei Jahre lang als externer Berater tätig. Wie kam es dazu?

Während und nach meiner Zeit als Bundeswehroffizier überlegte ich, wie ich einen guten Einstieg in die Wirtschaft realisieren kann. Mein Glück war es, dass ich bereits während der Bundeswehrzeit eine große Projekteinführung geleitet hatte. Als Marineoffizier fuhr ich zur See, bin in den letzten Jahren meiner Bundeswehrzugehörigkeit aber damit beauftragt worden, die Einführung eines IT-Systems für die Personalrekrutierung der gesamten Bundeswehr zu leiten. Das gab es damals noch nicht. Diese Erfahrung eröffnete mir den Weg in die Unternehmensberatung, zunächst in die klassische Fachberatung. Erst später, als ich interimsweise in einem mittelständischen Maschinenbauunternehmen als Sanierungsmanager tätig war, kam ich mit psychologischen Thematiken in Berührung. Von jetzt auf gleich mussten viele Menschen entlassen werden, um das Unternehmen retten zu können. Von Coaching hatte ich damals noch keine Ahnung, aber ich merkte erstmals, dass man für Beratung mehr braucht als Excel-Tabellen. Diese „Erkenntnis“ sollte zwar selbstverständlich sein, war für mich damals aber tatsächlich Neuland.

Ab 1993 haben Sie verschiedene interne Positionen bekleidet – insbesondere im Change Management. Ein gezielter Schritt?

Ja, ich habe mich ganz klassisch beworben, wurde also nicht durch einen Kunden losgeeist. Es war an der Zeit, in eine interne, operative Verantwortung zu wechseln, nachdem mir die externe Beratertätigkeit einen guten Überblick verschafft hatte. Dass ich dann viele Jahre als angestellter Change Manager gearbeitet habe, verstehe ich hinsichtlich meiner heutigen Arbeit als Vorteil. Ich habe die Veränderungsprozesse in den Unternehmen aktiv verantwortet – einschließlich Budget, Führung und Realisierung der Ziele des Change-Programms. Zunächst ging es um Kostensenkungsprogramme. Der Vorstandsvorsitzende, mein damaliger Chef, sagte: „Lenz, dafür kriegen Sie keine Weihnachtskarten.“ Und ich habe auch keine bekommen. Das waren schwierige Prozesse, für die man ein dickes Fell benötigt. Die unmittelbare, operative Arbeit vor Ort gemacht zu haben, ist eine andere Erfahrung als eine Tätigkeit als Coach, Berater oder Personalentwickler, der andere befähigen soll, solche Aufgaben zu lösen. Ich bin überzeugt davon, aufgrund dieser Erfahrungen für meine Klienten und Klientinnen anschlussfähiger zu sein.

Prof. Dr. Ulrich Lenz

Foto: Prof. Dr. Peter Fischer, 4M Onlinemarketing GmbH

In Ihre Zeit als „Interner“ fiel auch Ihre erste Coaching-Ausbildung, die Sie von 2001 bis 2003 absolvierten. Wie ist das Thema in Ihren Fokus geraten?

Die Situation, die mich zum Coaching führte, habe ich heute noch sehr gut vor Augen. Ausschlaggebend war ein dramatisches Scheitern. Ich habe einen Veränderungsprozess auf rein kognitiver, konzeptioneller Seite mit weitgehender Bravour gestalten können. Anschließend waren Trainings mit den Personen durchzuführen, die nun in neuen Arbeitsbereichen tätig werden sollten. Ich hatte Bauchschmerzen damit, aber mein Chef sagte damals: „Ach komm, das bisschen Training kannst Du doch auch noch machen.“ Ich stolperte dann in das erste, auf zwei Tage angesetzte Training und musste es schon am Mittag des ersten Tages abbrechen, weil ich es dadurch, dass ich nur auf der rational-argumentativen Schiene unterwegs war, vergeigt hatte. Ich habe schlicht und einfach die Menschen verloren. Ich hätte mir dann einfach sagen können, dass das nicht mein Gebiet ist. Stattdessen wollte ich lernen, wie es besser geht, denn ich bin nun einmal ein Mensch, der von Interesse und Neugierde geprägt ist. Das war der Einstieg in eine mehrjährige Phase der Aus- und Weiterbildung.

Ist Ihr Blick auf das Thema internes Coaching und Vertraulichkeit durch Ihre internen Tätigkeiten beeinflusst?

Ja, auf jeden Fall. Mir ist vollkommen bewusst, dass internes Coaching vor gewissen Schwierigkeiten und Restriktionen steht. Ich hatte damals den Grundsatz, nie in der eigenen Konzerngesellschaft zu coachen. Es gab zwar viele Anfragen, aber die habe ich stets abgelehnt und mir gesagt: Wenn ich in Konzernteil A arbeite, biete ich nur Coachings in Konzernteil B an. Als interner Coach muss ich wissen, dass ich ansonsten ein Risiko eingehe, wenn ich in eine Führungshierarchie eingebunden bin. Vielleicht kommt meine Führungskraft zu mir und fragt nach Informationen über einen Klienten, weil sie gerade darüber nachdenkt, diese Person zu befördern oder zu kündigen etc. Es kann auch sein, dass dann Druck ausgeübt wird, nach dem Motto: Ich weiß ja, dass Sie nichts erzählen dürfen, aber mir können Sie doch vertrauen. Der Coach kann also in Double-Bind-Situationen hineingeraten. Die einzig richtige Haltung ist es dann, den Forderungen standzuhalten. Dass es keine Auskünfte gibt, muss im Coaching generell gelten, in der internen Rolle steht man aber unter erhöhtem Druck. 

Das zweite Risiko, in das sich ein interner Coach begibt, ist die Gefahr, vom Klienten als Botschafter des Unternehmens angesehen zu werden. Und wenn der Coach in der Vergangenheit der Geschäftsführung zugeordnet war, kann es sein, dass der Klient z.B. wissen will, was er machen muss, um befördert zu werden. Ich will nicht sagen, dass ich internes Coaching per se ablehne. Wenn man die Spielregeln ganz klar absteckt und eine Kultur schafft, in der es eine Führungskraft als selbstverständlich erachtet, dass der Coach keine Auskünfte gibt, kann internes Coaching funktionieren. Ich halte aber überhaupt nichts von der Diskussion, dass eine Führungskraft als „Coach“ ihrer Mitarbeiter agieren sollte.

Seit 2014 lehren Sie an der Hochschule für angewandtes Management. Weshalb haben Sie sich für den Sprung in die Hochschullehre entschieden?

Entscheidend war, dass ich in meiner persönlichen Lebensplanung an einem Punkt angekommen war, an dem ich mich fragte, was ich weitergeben und in die Welt bringen kann. Ich gelangte zu der Einsicht, dass ein guter Zeitpunkt gekommen war, die nächste Generation in ihren Lern- und Entwicklungsprozessen zu begleiten. Ich bringe viele Stärken mit. Sie können aber auch davon ausgehen, dass ich während meiner mehr als zwanzigjährigen Führungserfahrung so ziemlich jeden Fehler begangen habe, den man machen kann (lacht). Ich habe also einiges Weiterzugeben. Der Wechsel in diese für mich neue Welt war für mich sehr anspruchsvoll, ich habe ihn aber sehr bedacht vollzogen.  

An der Hochschule leiten Sie den Bereich Business-Coaching und Beratung, den Masterstudierende der Wirtschaftspsychologie wählen können. Wie ist dieser Schwerpunkt konzipiert?

In der Kompetenzentwicklung gehen wir von der Person aus, die in Coaching und Beratung arbeiten möchte. Ein ganz wichtiger Punkt besteht darin, dass man sich selbst als Mensch sehr gut kennenlernt, die eigenen Reaktionsmuster, Antreiber usw. versteht. Dann kann man sie so einsetzen, dass der Klient am Coaching wächst. Dementsprechend beginnen wir mit Methoden der Selbst- und Fremdwahrnehmung und laden die Studierenden ein, solche Feedbacks und Reflexionen einzuholen und durchzuarbeiten. Wir lehren dann im weiteren Verlauf verschiedene psychologische Konzepte im Coaching – ganz bewusst, um einen multimethodischen Ansatz zu stärken und den Studierenden die Möglichkeit zu geben, bewusst auszuwählen, in welche Richtung sie gehen möchten, und sich z.B. zu fragen: Arbeite ich lieber lösungsfokussiert oder doch eher systemisch etc.? Was spricht mich auch emotional am meisten an? Welche weiteren Ansätze kann ich später in meine Coachings integrieren? 

Zudem gilt es, schon während des Studiums Praxiserfahrung zu sammeln, konkrete Coachings durchzuführen und diese im Rahmen von Supervision in die Studiengruppe einzubringen. Hier reflektieren die Studierenden die eigenen Coaching-Prozesse und holen sich weiteren theoretischen Input. In ihrer Studienarbeit befassen sich die Teilnehmer dann nochmals mit der Reflexion des von ihnen durchgeführten Coaching-Prozesses. Darüber hinaus haben die Studierenden des Coaching-Schwerpunktes die Möglichkeit, das zusätzliche Wahlpflichtfach Karriere-Coaching zu wählen. Die Masterstudierenden führen in diesem Rahmen Coachings mit Bachelorstudierenden durch, die vor ihrer Berufswahl stehen.

Der Selbsterfahrung messen Sie demnach – auch im Hochschulrahmen – zentrale Bedeutung bei?

Ja, dieser Aspekt ist uns sehr wichtig, weil ein förderliches und effektives Coaching zwingend voraussetzt, dass sich der Coach als Person akzeptiert und gleichzeitig lernoffen ist für Übertragungen und Gegenübertragungen, die im Coaching durch den Klienten erfolgen. Coaches müssen dies reflektieren können. Der Philosoph Martin Buber sagte: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Dieses Zitat drückt gut aus, weshalb der Coach eine hohe Verantwortung trägt, sich selbst zu verstehen. Und zwar durch die Reflexion dessen, was er in Kommunikationsbeziehungen erlebt. Die Studierenden hierfür zu sensibilisieren, ist ein ganz wesentlicher Punkt, dem wir uns intensiv widmen. Für die professionelle Arbeit als Coach ist auch Supervision unabdingbar, was wir den Studierenden ebenfalls vermitteln.

Welche beruflichen Wege schlagen Ihre Absolventen ein?

Da besteht ein breites Spektrum. Diejenigen, die sich als Coach selbstständig machen wollen, sind in der Regel schon etwas ältere Absolventen. Ich berate sie auf Wunsch über das Studium hinaus, weil ich es für wichtig halte, dass dieser Schritt gut reflektiert und nicht aus der Euphorie eines erfolgreich absolvierten Studienschwerpunktes heraus gegangen wird. Den einen oder anderen Absolventen konnte ich auch bereits in eine sehr erfolgreiche Selbstständigkeit begleiten. Häufig gehen die Absolventen zunächst aber in angestellte Tätigkeiten, z.B. in die Personalentwicklung. Andere werden als Scrum-Master in agilen Projekten tätig oder leiten kleinere Veränderungsvorhaben in Unternehmen und nehmen in diesem Kontext Coaching-Rollen wahr. Teilweise treten sie auch in Prozessberatungsunternehmen ein und führen Coachings und Trainings durch.

Seit 2018 bieten Sie – parallel zur Hochschullehre – mit „Lenz Advisory Services“ eine Begleitung von Führungskräften an, die Sie als „ganzheitlich“ bezeichnen. Was meinen Sie damit?

Wenn ich in einer Auftragsklärung bin, kann ich aufgrund meiner Erfahrung und Entwicklung unterschiedliche Perspektiven anbieten, um mit dem Klienten genau zu erörtern, welches Vorgehen zu seinem Anliegen und Kontext passt. Es geht mir bei dem Begriff darum, über einen Werkzeugkasten zu verfügen, den man einsetzen kann. Dazu gehört es auch, auf die eigenen Grenzen zu achten und sich zu fragen: Wann brauche ich z.B. einen Kooperationspartner? Auch die Freiheit, einen Auftrag nicht annehmen zu müssen, habe ich mir immer bewahrt. Was dem Klienten tatsächlich hilft, steht für mich an erster Stelle. Das ist manchmal weder für den Coach noch für den Klienten ein einfacher Weg.

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