Portrait

Interview mit Karen Neumann

Worauf es im Konflikt-Coaching ankommt

Konfliktthemen sind im Coaching auf dem Vormarsch. Woran das liegt und worauf es im Coaching ankommt, wenn Führungskräfte einen konstruktiven Umgang mit Konflikten anstreben, weiß Psychologin und Coach Karen Neumann. Ein wichtiger Aspekt: Klientinnen und Klienten sollten bereit sein, sich mit eigenen Mustern zu befassen, die Konflikte nähren. Darüber hinaus unterstützt das Board-Member des Germany-Chapters der International Coaching Federation (ICF) Menschen in Krisen – sowohl im Coaching als auch im Rahmen eines Supervisionsprogramms für vom Krieg betroffene ukrainische Coaches.

19 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2024 am 21.02.2024

Ein Gespräch mit David Ebermann

Sie bieten sowohl Business- als auch Life-Coaching an. Wo ziehen Sie hier die Grenze?

Es geht um die Frage, aus welchem Lebensbereich der Anlass stammt, einen Coach zu engagieren. Grenzen definieren sich durch den Auftrag, sind aber oft fließend. Ein unternehmensveranlasstes Coaching kann – soweit dies dem Erkenntnisgewinn dient – durchaus Ausflüge in das Privatleben beinhalten. Insbesondere privat veranlasste Aufträge können den Life- und den Businessbereich gleichermaßen betreffen – beispielsweise dann, wenn eine Klientin sich fragt, ob sie die angebotene Stelle einer internationalen Geschäftsführerin annehmen oder stattdessen einen langgehegten Kinderwunsch realisieren will. Im Endeffekt geht es aber immer um denselben Menschen mit seiner Persönlichkeit, seinen Prägungen, Mustern, Emotionen, Glaubenssätzen und Zielen.  

Im Businessbereich bieten Sie Konflikt-Coaching an. Konfliktthemen sind in den vergangenen Jahren im Coaching präsenter geworden, wie aus der Coaching-Marktanalyse hervorgeht. Woran liegt dies Ihrer Einschätzung nach?

Zum einen ist die Welt unruhiger geworden. Es gibt viele – teils ineinandergreifende – Krisen. Man denke z.B. an die Pandemie, Kriege, Lieferkettenengpässe oder an den Klimawandel. Man spricht von einer Polykrise. Natürlich hat dies direkte Auswirkungen auf die Unternehmen, woraus Druck, die Notwendigkeit schneller Entscheidungen und viel Ungewissheit resultieren. Was gestern noch stabil schien, wird heute infrage gestellt und morgen verändert. Die Krisen gehen, wie wir aus den Statistiken der Krankenkassen wissen, auch nicht spurlos an den Menschen in den Unternehmen vorbei.

Gefordert ist daher sowohl organisationale als auch individuelle Resilienz und dazu gehört wiederum eine gute Konfliktkompetenz, die es ermöglicht, mit Konflikten konstruktiv umzugehen. Zum anderen beobachte ich, dass Unternehmen vermehrt die Anforderung an ihre Führungskräfte stellen, sich sicher in Konflikten zu bewegen. In einem deutschen Großkonzern coache ich Führungskräfte, die sich auf dem Sprung ins mittlere Management befinden. Vorgeschaltet ist ein Assessment-Center und in den letzten zwei bis drei Jahren ist mir aufgefallen, dass in den Entwicklungsfeldern vermehrt das Thema Konfliktverhalten genannt wird.

Das hat natürlich damit zu tun, dass sich in den Unternehmen Konflikte häufen. Es hat aber auch damit zu tun, dass folgender Aspekt stärker ins Bewusstsein der Verantwortlichen vorgedrungen ist: Beim Wechsel der Führungsebenen, insbesondere von der unteren auf die mittlere Ebene, ist ein Konflikt-Skillset elementar wichtig. Rückmeldungen aus den Assessment-Centern lauten z.B., dass die Führungskräfte lernen sollen, im Konflikt mehr Kante zu zeigen, ihre Verhaltensvarianz in Konfliktsituationen zu erweitern oder empathischer zu handeln. Das Thema ist stärker in den Fokus gerückt.

Ihre Coachings zielen dementsprechend auch darauf ab, dass Klientinnen und Klienten ihre Konflikt-Skills erweitern. Was bedeutet das konkret?

Es geht vor allem um Soft-Skills – kommunikative, soziale und personale Kompetenzen. Je nachdem, wie gut eine Führungskraft in diesen Bereichen aufgestellt ist, desto besser gelingt es ihr, sich in Konflikten sicher zu bewegen. Im Coaching können einzelne Skills nachentwickelt werden. Im Coaching von Menschen, die sehr strategisch und analytisch ausgerichtet sind – um ein Beispiel zu nennen –, geht es nicht selten um eine empathischere Kommunikation. Neben den bekannten Soft-Skills sind noch Fähigkeiten wie strategisches Denken, das Einnehmen der Metaebene oder die Antizipation von Dynamiken in Konflikten wichtig.

Wie gehen Sie im Coaching vor, wenn eine Führungskraft besser mit Konflikten umgehen möchte?

Einerseits geht es darum, das eigene Mitwirken im Konflikt zu verstehen. Dazu gehört die Frage: Welche typischen Verhaltensmuster zeige ich? Wir wissen, dass viele Menschen ihr Verhalten im Konflikt ändern. Oftmals sind es kindlichere, unflexiblere oder auch drastischere Verhaltensmuster, die dann zutage treten. Die Folge ist nicht selten ein Verstricken in dysfunktionale Kommunikationsmuster.

Hilfreich kann die Arbeit mit transaktionsanalytischen Elementen sein – also mit dem Eltern-, dem Erwachsenen- und dem Kind-Ich. Ebenso setze ich Introvision ein, wenn es darum geht, das eigene Mitwirken am Konflikt durch reflexhaftes Verhalten zu durchdringen und zu verändern. Andererseits ist es natürlich auch notwendig, die Gegenseite zu verstehen. Wie nimmt die andere Partei mein Verhalten wahr? Welche Werte kollidieren? Hier arbeite ich gerne mit der Wechselwirkungs-Acht aus der Hakomi-Methode, mit der Leere-Stuhl-Methode und besonders gerne mit den Hogan Assessments, mit denen das Verhalten in Stress-, Druck- und Triggersituationen, die Konflikte oft darstellen, gemessen werden kann. Dies ermöglicht, die Wirkung des eigenen Verhaltens auf andere zu beschreiben und die Reaktionen zu verstehen.

Ein dritter Punkt besteht darin, den Gegenstand des Konflikts selbst zu beleuchten. Wer hat von welcher Entwicklung des Konflikts welche Vorteile? Liegen Missverständnisse, Enttäuschungen oder Kränkungen vor? Handelt es sich um einen verlagerten Konflikt, der eigentlich auf einer höheren Hierarchieebene auszutragen wäre? Im Coaching kommen dabei sowohl Methoden der Selbstreflexion als auch systemisches Handwerkszeug zur Anwendung.

Spielt hier auch die Reflexion eigener Werte und der Abgleich dieser mit jenen des Unternehmens eine Rolle?

Ja, definitiv. Ich lasse mir in Coachings gerne entsprechendes Material der Unternehmen geben und frage nach Führungsleitbildern, um besser zu verstehen, wie das jeweilige Unternehmen tickt. Die Arbeit mit Klientinnen und Klienten wiederum umfasst das Herausarbeiten und Definieren eigener Werte. Der Abgleich kann sehr aufschlussreich sein.  

Sie nannten Methoden, die biografische Anleihen haben: Inwieweit arbeiten Sie zwecks Mustererkennung mit Biografien?

Ich bette biografische Aspekte in den Coaching-Prozess ein. Wenn die Klientinnen und Klienten von sich erzählen, werden oft Pfade und Themen erkennbar, die ihnen nicht wirklich bewusst sind. Insbesondere reflexhafte Reaktionen, die sich in Konflikten zeigen, haben häufig mit der Biografie zu tun.

Ein Beispiel: Eine Klientin hatte seit wenigen Monaten eine Bereichsleitung in einem Konzern inne und es waren große Erwartungen hinsichtlich Modernisierung und Digitalisierung an sie gerichtet. Konkrete Ziele, die sie zu verwirklichen hatte, bestanden darin, eine benachbarte Abteilung zu integrieren und Prozesse zu standardisieren. Bei einer Mitarbeiterbefragung schnitt sie sehr schlecht ab, weshalb es zu dem Coaching kam. In diesem schilderte die Klientin, dass sie sich gelähmt fühlte.

Normalerweise konnte sie sich, wie sie berichtete, auf ihre analytische und strategische Kompetenz verlassen, aber jetzt versank sie in Grübeleien. Sie verschob Entscheidungen und verließ kaum noch ihr Büro, obwohl sie Kommunikation eigentlich zu ihren Stärken zählte. Eine systemische Umfeld- und Situationsanalyse ergab, dass sie das Gefühl verspürte, alleine gegen alle anderen kämpfen zu müssen. Es wurde ersichtlich, dass sie Konflikten mit ihren Bereichsleiterkollegen – insbesondere ein Kollege zeigte passiven Widerstand – aufgrund einer sehr starken Konsensorientierung aus dem Weg ging. Sie hielt reflexhaft an Konsens fest, wodurch sie selbst dazu beitrug, Veränderungen auszubremsen.

Der Konflikt nistete sich so unter der Oberfläche ein, um hier und da immer wieder aufzubrechen. Für den Kollegen, der – vermutlich aufgrund seines durch die Veränderungen verkleinerten Einflussbereichs und in der Hoffnung, doch noch alle Abteilungen unter sich vereinen zu können – passiven Widerstand leistete, sprich zu den Veränderungen ja sagte, aber nein meinte, war dies eine vorteilhafte Lage. Es handelte sich um einen klassischen Machtkonflikt. Dies waren zunächst wichtige Erkenntnisse für die Klientin.

Im weiteren Coaching stellte sich dann heraus, dass sie in einem Elternhaus aufgewachsen war, in dem eine hochexplosive und aggressive Atmosphäre herrschte. In diesem Umfeld war es eine erfolgreiche Strategie, möglichst konsensorientiert vorzugehen und nicht anzuecken. So entstand etwas, was man in der Introvisionssprache als limitierenden inneren Imperativ bezeichnet.

Die Klientin verfolgte unbewusst den Leitsatz, es dürfe auf gar keinen Fall passieren, dass ein Konflikt durch sie angeheizt wird, um die negativen Konsequenzen zu vermeiden. In der aktuellen Situation im Unternehmen war die Strategie allerdings kontraproduktiv. Nachdem diese innere Limitation aufgearbeitet und bewusst gemacht worden war, konnte sie im Coaching mittels Introvision aufgelöst werden, indem die damit verbundenen Ängste entkräftet wurden. Darüber hinaus haben wir Gesprächssparrings mit intensiven Feedbackschleifen durchgeführt, um konfrontativere Gesprächstechniken zu üben.

Im Endeffekt konnte sie ihren Standpunkt gegenüber den anderen Bereichsleitern besser vertreten und sich vom Vorstand Rückendeckung holen. Wir haben zudem daran gearbeitet, dass sie – auch gegenüber den frustrierten Mitarbeitern – mehr Präsenz zeigen konnte, sich stärker vernetzte und den Austausch suchte. Dies tat ihr gut, da sie eher extravertiert und nun besser eingebunden war. Grundlegend wichtig war natürlich die Akzeptanz dafür, dass Konflikte existieren, zur Arbeit gehören, Veränderungschancen darstellen und in der Regel auch nicht zu umschiffen sind.

Karen Neumann im Coaching-Gespräch

Als Sparringspartnerin begleiten Sie Führungskräfte und deren Karrieren teils über viele Jahre hinweg. Wie sieht das aus?

Die Karriere-Begleitung unterscheide ich von einem Karriere-Coaching. Im Karriere-Coaching gibt es ein konkretes Anliegen und einen klar formulierten Auftrag, der in einer bestimmten Anzahl an Sitzungen bearbeitet wird. Der Prozess ist zeitlich begrenzt und ein guter Coach macht sich mit der Zeit selbst überflüssig. Meine Karriere-Begleitung bedient sich verschiedener Elemente – sowohl aus dem Coaching als auch aus der Supervision. Fachwissen wird ebenfalls vermittelt.

In dem Format geht es darum, einen Safe Space zu schaffen, in dem stark beanspruchte Führungskräfte mit einer neutralen Sparringspartnerin in die Reflexion gehen und Gedanken unzensiert aussprechen und betrachten können. Das Format wird vor allem von Klientinnen und Klienten in Anspruch genommen, die in ihren Karrieren sehr schnell gewachsen sind oder Jobs mit sehr hoher Verantwortungslast haben. Diese Personen hegen oft den Wunsch, eine Sparringspartnerin im Netzwerk zu haben, die sie und ihre Themen kennt, sodass sie in größeren zeitlichen Abständen in die Selbstreflexion gehen können, ohne immer wieder von vorne beginnen zu müssen. Themen sind z.B. der Erhalt der eigenen Leistungsfähigkeit, der Umgang mit permanentem Druck, der Einfluss der Karriere auf das Privatleben oder ethische Dilemmata.

Führungskräfte, die in hochgradig dynamischen, komplexen und krisenerschütterten Unternehmen tätig sind, nehmen diese Möglichkeit als wertvoll wahr, zumal es umso mehr an offenem Feedback mangelt, je weiter jemand die Karriereleiter hinaufsteigt, was die Gefahr des Scheiterns erhöhen kann. Ich gestalte jede Sitzung als in sich abgeschlossen, vereinbare auch keine Folgetermine, schlage keine Zeitabstände vor, sondern lege dies in die Hände meiner Klientinnen und Klienten. In der Regel finden die Gespräche ein- bis zweimal im Jahr statt, es kann aber auch mal mehrjährige Pausen geben.

Stellen die zeitlichen Abstände sicher, dass keine Abhängigkeiten entstehen?

Ja, die großen zeitlichen Abstände sind diesbezüglich wichtig. Außerdem sorgt der Umstand, dass jede Sitzung klar abgeschlossen und dies auch entsprechend kommuniziert wird, es also keine losen Enden gibt, mit denen die Führungskräfte aus dem Gespräch gehen, dafür, dass es nicht zu Abhängigkeiten kommt.  

Sie bieten auch Krisen-Coaching an. Welchen Krisen sind Klientinnen und Klienten, die an Sie herantreten, ausgesetzt?

Eingangs hatten wir die großen Krisen schon angeschnitten. Im Krisen-Coaching geht es oft um persönliche Krisen wie z.B. den Verlust des Arbeitsplatzes, berufliches Scheitern, Herausforderungen, die sich aus drastischen Veränderungsprozessen in Unternehmen ergeben. Es kann sich auch um Erschütterungen im Privatleben handeln – Trennungen, andere Verlustthemen oder Krankheiten. Auch Mobbingfolgen und damit oftmals verbundene Selbstwertkrisen sind nicht selten Thema in den Coachings.

Wie sieht Ihre Unterstützung im Falle eines Krisen-Coachings aus?

Jede Krise verläuft individuell. Und dennoch kommen in fast allen Krisen folgende Phasen vor – teils überlappend, teils wiederholend oder auch durcheinander: der Schock, verbunden mit einem Nicht-wahrhaben-Wollen; die Reaktion, die oft ein Wechselbad der Emotionen darstellt; die Bearbeitung, welche Akzeptanz voraussetzt und der Suche nach Lösungen dient; und die Neuorientierung, in der die Betroffenen einen neuen Bezug zu sich selbst und ihrer Umwelt finden. Je nachdem, in welcher Phase sich die Person befindet, setze ich im Coaching an.

Ich coachte beispielsweise einen stark karriereorientierten Ex-Personalmanager, Mitte 50, dem nahegelegt worden war, das Unternehmen zu verlassen. Ersetzt wurde er durch eine deutlich jüngere Kollegin. In unserem ersten Gespräch stand er neben sich. Er wirkte abwesend. Der Schock und das Nicht-wahrhaben-Wollen, das dem Selbstschutz dient, waren spürbar. Gemeinsam blickten wir zunächst nur auf das für ihn Unfassbare, denn weniger ist in solchen Situationen mehr. Das gemeinsame „Aushalten“ setzte schon etwas in Bewegung.

Im zweiten Gespräch war eine erste Veränderung spürbar. Der Klient war im Wechselbad der Gefühle und nahm sich als Spielball unterschiedlichster Emotionen wahr. Er schilderte Wut auf das Unternehmen sowie seine Nachfolgerin, Angst vor Kontrollverlust, Verzweiflung ob der verlorenen Zugehörigkeit, Scham und Schuldgefühle, weil er die Situation nicht kommen gesehen hatte. Wir arbeiteten daran, die Emotionen nicht zu verdrängen, sondern zulassen zu können, ohne von dem gefürchteten schwarzen Loch verschlungen zu werden. Hierzu nutzte ich die Techniken des achtsamen Wahrnehmens und des Benennens der Emotionen und übte diese mit dem Klienten ein, sodass er sie auch zwischen unseren Sitzungen praktizieren konnte. Dieses Vorgehen hilft dabei, besser mit Emotionen umzugehen und nicht von ihnen überflutet zu werden.

Im nächsten Schritt arbeiteten wir daran – angelehnt an Frankls Logotherapie –, Warum-Fragen, die quälend sein und zu negativen Gedankenspiralen führen können, umzuwandeln in Fragen wie: Welche Antworten kann ich jetzt, in diesem Moment, auf die Situation geben?

Hier geht es erst einmal um kleine Antworten und nicht darum, was die Situation im Großen für das eigene Leben bedeutet. Im weiteren Verlauf ging der Prozess in die Bearbeitungsphase über. Als ich erste Anzeichen von Akzeptanz erkannte, spiegelte ich das, weil dies die Erkenntnis reifen lässt, dass es ein Morgen nach der schwarzen Nacht gibt. Wir arbeiteten zudem daran, das Gute im Schlechten zu erkennen, und reflektierten, inwiefern es gelingen konnte, durch sukzessive Verantwortungsübernahme, einen Ausweg aus der Krisenlage zu finden.

All dies animiert nach und nach zum Aufbruch. Krisen haben es aufgrund ihrer erschütternden Wirkung an sich, dass eine Neubewertung des bisherigen Lebens und der zukünftigen Ziele stattfindet. Dies geht mit einem hohen Bedarf an Aufarbeitung des zurückliegenden Lebensweges und getroffener Entscheidungen einher, so auch im genannten Fall. Der Klient hatte zugunsten seiner Karriere das Scheitern seiner Ehe und den Verlust der Beziehung zu seinen Kindern hingenommen. Dies wurde aufgearbeitet, um unter Einbezug von Wertearbeit eine neue Ausrichtung zu finden und auf dieser Basis langsam damit zu beginnen, die Zukunft zu planen.

Man sagt gerne, Menschen wachsen an Krisen, aber das ist keine Selbstverständlichkeit …

Das ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. Je brüchiger der psychische Boden eines Menschen vorher schon war, je mehr unverarbeitete Themen er mit sich trägt, desto schwieriger ist es natürlich, gestärkt aus Krisen hervorzugehen und desto höher ist die Gefahr, in den ersten Phasen einer Krise steckenzubleiben. Krisen haben das Potenzial, uns in unseren Grundfesten zu erschüttern. Wenn wir auf einem stabilem psychischen Boden stehen, geben sie uns aber gerade deshalb die Möglichkeit, Dinge neu zu bewerten, unser Selbstbewusstsein zu stärken oder auch ein tieferes Verständnis der eigenen Person zu erlangen.

Als Krisen-Coach ist es hilfreich, über psychologisches Wissen zu verfügen, denn es ist nicht immer einfach, einzuordnen, wann die Grenze zu einer psychischen Erkrankung – z.B. einer depressiven Episode – überschritten ist. Als Coach wird man nicht therapeutisch tätig, sollte aber Situationen erkennen, in denen eine Therapie notwendig sein könnte. Entsprechendes Grundwissen und ein Netzwerk, um Betroffene weiterverweisen zu können, sollten daher vorhanden sein.

2023 wurden Sie und zwei Ihrer Kolleginnen mit dem „ICF Ukraine Partnership Award“ ausgezeichnet. Gegenstand der Ehrung ist ein Pro-bono-Supervisionsprogramm, das Sie im April 2022 online starteten, um ukrainische Coaches zu unterstützen. Wie kam es zu dem Programm?

Relativ schnell nach Beginn des russischen Angriffskrieges nahm die ICF Ukraine Kontakt zu anderen Landesverbänden – darunter die ICF Germany – auf und fragte, wie ukrainische Coaches unterstützt werden könnten. Noch im März 2022 haben wir uns formiert – Anne Schweppenhäußer, die genau wie ich ausgebildete Psychologin, Supervisorin und als MCC (Master Certified Coach) in der ICF organisiert ist, Oxana Wewers, die als PCC (Professional Certified Coach) über sehr große Coaching-Erfahrung verfügt, ebenfalls Supervisorin ist und zudem die russische Sprache beherrscht, die viele Menschen in der Ukraine sprechen, und ich. Wir entwickelten ein Framework, mit dem wir in die Supervisionen starteten und das sich – in der Praxis flexibel angewandt – stetig weiterentwickelt. Den Award haben wir mit Freude und Dankbarkeit entgegengenommen.

Welche Themen bringen die ukrainischen Coaches in die Supervisionen ein?

Gerade in den ersten Wochen des Krieges standen die Coaches vor riesigen Herausforderungen, teilweise befanden sie sich noch in akuten Kriegsgebieten und in quälender Sorge um ihre Angehörigen. Aufgrund ihres Berufsethos, zwischenmenschlicher Motivationen oder existenzieller Notwendigkeiten – zumeist war es eine Mischung aus allen Aspekten – haben sie sich aber dennoch als Coaches verpflichtet gefühlt, für andere da zu sein und ihre Landsleute zu unterstützen, die vor denselben Herausforderungen standen wie sie selbst. Manchmal haben sich die Online-Sitzungen für uns wie eine Live-Schalte in den Krieg angefühlt.

Ich erinnere mich noch an eine Sitzung, in der plötzlich die Verbindung abbrach und wir am Ende sehr erleichtert darüber waren, dass es „nur“ ein flächendeckender Stromausfall war. Themen kreisten und kreisen oft um die Frage, wie die Coaches es schaffen, ihre Coaching-Haltung aufrechtzuerhalten – beispielsweise hinsichtlich der Abgrenzung des eigenen Angebots zur Psychotherapie bei gleichzeitig gegebenem Therapiebedarf ihrer Klientinnen und Klienten. Die eigene Psychohygiene, der Erhalt der eigenen Leistungsfähigkeit und – nicht zu unterschätzen – existenzielle Fragen, werden ebenfalls thematisiert. Es sind ja ganze Kundenstämme weggebrochen und ins Ausland geflüchtete Coaches mussten sich praktisch ein neues Leben aufbauen.

Wie schaffen es Coaches, die selbst Betroffene sind, in ihrer professionellen Rolle zu bleiben und sich beispielsweise nicht zu stark mit ihren Coaching-Fällen emotional zu identifizieren?

Selbst wir als Unbetroffene merkten schnell, wie schwer das ist – trotz Psychologiestudium, vieler Jahre der Arbeit mit Menschen und der erlernten Fähigkeit, eine professionelle Distanz einzuhalten. Daher nahmen wir ebenfalls Supervision in Anspruch. Die ukrainischen Coaches haben es natürlich noch wesentlich schwerer.

Ein Grundsatz im Coaching lautet, dass man als Coach nur Themen bearbeiten sollte, die für einen selbst nicht ungelöst sind. Ansonsten kann die Qualität des Coachings beeinträchtigt sein. Konsequent weitergedacht hieße dies, dass die ukrainischen Coaches ihre Arbeit vorerst einstellen müssten, was aber aufgrund des hohen Unterstützungsbedarfs der Klientinnen und Klienten keinen Sinn ergeben hätte.

Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, arbeiten die Coaches sehr gewissenhaft an der Aufrechterhaltung ihres Coaching-Mindsets, wovor ich großen Respekt habe. Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang das Thema Resilienz – wissenschaftlich nachgewiesene Resilienzfaktoren sind u.a. eine optimistische Denkweise, Selbstvertrauen und ein unterstützendes soziales Umfeld. An diesen Aspekten wird in den Supervisionen regelmäßig gearbeitet, denn wer sie für sich kultiviert, hat eine größere Chance, eigene Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Menschlich und fachlich sind die Coaches in der zurückliegenden Zeit enorm gewachsen, indem sie beispielsweise gelernt haben, sich von den Ereignissen nicht lähmen zu lassen und den Blick nach vorne zu richten, anstatt auf das zu fokussieren, was nicht geht. Das zeigt sowohl die Notwendigkeit als auch die Potenziale der Resilienzarbeit.

Es handelt sich um eine Gruppensupervision. Bietet sich das Gruppenformat in Krisenzeiten besonders an?

Ja, tatsächlich. Unter solch herausfordernden Bedingungen potenzieren sich die Vorteile der Gruppensupervision meiner Beobachtung nach. Als soziales Wesen benötigt der Mensch – insbesondere in der Krise – soziale Bindungen. Das gemeinsame Lernen, das Teilen von Emotionen mit anderen Betroffenen, der Austausch von Wissen und Erfahrungen, die uneingeschränkte wohlwollende Unterstützung und das Spüren gemeinsamer beruflicher Werte in der Gruppe hat sich als großer und wohltuender Vorteil herausgestellt. Interessanterweise wirkt sich der Umstand, dass wir ständig wechselnde Gruppen haben, nicht negativ aus. Es entsteht immer sehr schnell eine vertraute und von Verbundenheit geprägte Atmosphäre. Zugleich fließen stets neue Impulse ein.

Ihr Engagement in der ICF Germany geht über das Supervisionsprogramm hinaus. 2023 wurden Sie in das Board aufgenommen. Welche Funktion übernehmen Sie?

Ich verantworte den Bereich Coaching in Organisationen. Wir sind ein Team aus mehreren erfahrenen Coaches – die meisten mit HR-Erfahrung – und arbeiten daran, Organisationen mit Informationen zu Coaching-relevanten Themen zu versorgen. Dazu zählen u.a. die Entwicklung einer Coaching-Kultur in Unternehmen, Kriterien für den Aufbau interner oder externer Coaching-Pools oder der Einsatz Künstlicher Intelligenz im Coaching. Wir stehen mit Personaler- und Unternehmerverbänden in Kontakt, führen offene Brownbags durch und werden wieder zunehmend mehr Artikel veröffentlichen.

Aufgrund der Internationalität der ICF und des Bestehens einer eigenen globalen Einheit, die sich mit Organisationen befasst, haben wir die Möglichkeit, hierfür auf einen Fundus von Studienergebnissen und Informationen zurückzugreifen. Ich verstehe dieses Engagement als Beitrag zur Professionalisierung des Coachings, denn es geht letztlich darum, dass es den Verantwortlichen in den Unternehmen ermöglicht wird, zwischen hochwertigem und weniger qualifiziertem Coaching zu differenzieren, damit sie Coaching oder Coaching-Elemente effektiv in ihren Unternehmen einsetzen können.

Sie coachen seit 2006. Zuvor waren Sie als Diplom-Psychologin im HR-Bereich tätig. Wie kam es dazu, dass Sie den Schritt ins Coaching und die Selbstständigkeit gegangen sind?

Während meiner zwölf Jahre im HR-Bereich habe ich, da ich Teil des Systems war, viel darüber gelernt, wie Organisationen funktionieren, was Führung bedeutet, wie Change-Prozesse vonstattengehen und so weiter. Gleichzeitig verspürte ich immer stärker den Wunsch, meiner ursprünglichen Profession als Psychologin wieder näher zu rücken. Als ich den Schritt in die Selbstständigkeit gegangen bin, war ich mir noch uneins, welchen Fokus ich setzen will. Tatsächlich lautete mein Türschild zunächst „Therapie und Coaching“.

Zwar verfügte ich sowohl über die Erlaubnis zur Ausübung der Psychotherapie als auch über eine abgeschlossene Coaching-Ausbildung, jedoch wurde mir schnell klar, dass beide Angebote einer klaren Trennung bedürfen und dass ich der Unternehmensseite treu bleiben wollte. Im Coaching konnte ich meine Unternehmenserfahrung und mein Psychologiewissen optimal vereinen. Das war für mich der entscheidende Grund, mich dem Coaching zu verschreiben und mich in diesem Bereich immer weiter zu professionalisieren.

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