Der Begriff Yoga ist in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Jedoch liegen hierzulande die Vorstellungen, was Yoga genau ist, weit auseinander und reichen von „Verbiegen auf der Matte“ über „das ist doch nur was für Frauen“ bis „das hat was mit Achtsamkeit und Entspannung zu tun“. Wenn Leute sagen, sie „gehen“ zum Yoga, dann ist damit in der Regel auch genau das gemeint: Sie gehen zu einem Kurs, haben bequeme Yoga-Kleidung an, die Yoga-Matte aus recyceltem Plastik unter dem Arm und werden sich die nächsten 60 bis 90 Minuten zusammen mit andern in einem spirituell angehauchtem Raum – oder alternativ im Fitnessstudio – „verbiegen“.
Doch Yoga ist viel mehr als Lifestyle und Körperertüchtigung. Es wird geschätzt, dass Yoga über 5000 Jahre alt ist. Das Wort „Yoga“ stammt aus dem Sanskrit und bedeutet „Einheit“ oder „Verbindung“. Es leitet sich von der Wurzel „yuj“ ab, die „verbinden“, „anspannen“ oder „vereinen“ bedeutet. Es wird auch gesagt, dass Yoga das Geschenk Indiens an die westliche Welt sei. Zu früherer Zeit wurde Yoga lediglich im kleinen Kreis oder von einem Lehrer zum Schüler weitergegeben. Dafür lebte der Schüler mehrere Jahre mit dem Lehrer und diente diesem während dieser Zeit. Der Lehrer übermittelte dem Schüler all sein Wissen. (Yoga-Wiki, 2025) Heute würde man diesen Prozess ein langjähriges Mentoring nennen.
Das bedeutendste Grundlagenwerk des Yogas ist das Yoga-Sutra von Patañali (Desikachar, 1991). Es besteht aus 195 Sanskrit-Versen in vier Kapiteln, in denen die Essenz des Yoga-Weges gebündelt ist. Das erste Kapitel handelt von der vollkommenen Einheitserfahrung und wie die (Eigen-)Wahrnehmung davon ablenken kann, diese zu erreichen. Das zweite Kapitel widmet sich der systematischen Praxis, um dieses Ziel zu erreichen. Über die dafür notwendigen Fertigkeiten und die Umsetzungsstärke sowie die damit verbundenen (Zwischen-)Ergebnisse berichtet das dritte Kapitel. Denn Veränderung geschieht nur durch Handeln. Das Yoga-Sutra schließt mit dem vierten Kapitel und der darin beschriebenen Veränderung der Wahrnehmung ab. Es betont die eigene Transformation und die Wechselwirkung von Person und Umwelt. (Steiner, 2022)
Damit ist Yoga viel mehr als das Ausrollen und Turnen auf der Matte. Es ist eine ganzheitliche Philosophie, die Körper, Geist und Seele in Einklang bringen soll. Dabei umfasst Yoga sowohl mentale Ansätze der Achtsamkeit, des Fokussierens und Meditierens als auch körperliche Übungen, wie Atemtechniken, Singen, Rituale sowie die Yoga-Stellungen („Asanas“).
Um über die Parallelen von Yoga und Führung sprechen zu können, wird im Folgenden mit der Führungsdefinition von Jürgen Weibler gearbeitet: „Führung heißt, andere durch eigenes, sozial akzeptiertes Verhalten so zu beeinflussen, dass dies bei den Beeinflussten mittelbar oder unmittelbar ein intendiertes Verhalten bewirkt.“ (Weibler, 2016, S. 22) Damit wird Führung als bewusster und zielgerichteter Prozess begriffen, der eine Interaktion zwischen der Führungskraft und einem oder mehreren Geführten voraussetzt und durch Akzeptanz sowie das soziale System bedingt wird.
Aus den vorgestellten Grundlagen aus Yoga und Führung können unter anderem folgende Parallelen abgeleitet werden:
Eine Führungsrolle zu übernehmen, ist für viele der nächste logische Schritt. Denn eine Führungsfunktion einzunehmen, bringt mehr Geld, Ansehen und Macht. Ein mindestens genauso großes Hochgefühl, wie der länger als eine Minute gehaltene Kopfstand im Yoga. Doch wenn man Mitarbeiter fragt, was sie unter Führung verstehen, dann ist das oft ähnlich vorurteilsbehaftet, wie die schicke Yogini mit ihrer Matte unter dem Arm. Denn Führung ist in der Praxis oft weniger glamourös, als viele sich den Job vorstellen.
Da wären zum einen die administrativen Führungsaufgaben: das Freigeben von Urlauben, das Kontrollieren der Anwesenheit, das Freizeichnen von Dokumenten, das Protokollieren von Meetings etc. Dazu kommt das überschätzte Thema Freiheit: Die allermeisten Führungskräfte haben selbst einen Vorgesetzten. Sie sind damit auch weisungsgebunden und selten wirklich frei, in dem was sie tun. Und zuletzt bedeutet zu führen auch, nicht mehr das zu tun, mit dem man sich die letzten Jahre beweisen konnte. Fachliche Aufgaben müssen als Führungskraft delegiert werden. In Coachings äußern Klienten immer wieder, wie schade sie es finden, dass sie nicht mehr so viel operativ arbeiten können. Das, was sie eben gut können.
Wie das Kapitel 1 des Yoga-Sutras (vollkommene Einheitserfahrung) ist auch beim Thema Führung die (Eigen-)Wahrnehmung die Basis für zielführendes Handeln. Der Schlüssel liegt in einer Ausgewogenheit zwischen Enthusiasmus und Gelassenheit. Die Wichtigkeit dieser Balance zeigt sich insbesondere dann, wenn sich Hindernisse auftun. Dann, wenn es mal nicht so läuft wie geplant. Denn nur mit einem wachen Geist können die sich auftuenden Hindernisse rechtzeitig erkannt, Strategien entwickelt und überwunden werden.
Im Yoga entsteht ein klarer Geist durch vier Qualitäten: Freundlichkeit, Mitgefühl, Mitfreude und Nachsicht. Diese Qualitäten sind auch bei der Selbstführung einer Führungskraft wichtig. Wenn man freundlich mit sich umgeht, sich seine Bedürfnisse und Wünsche eingesteht (auf einer kognitiven und emotionalen Ebene) und sich mit Mitgefühl begegnet, kann man sich auf das, was kommt, auch freuen. Man übt Nachsicht mit sich, wenn es mal nicht so funktioniert wie geplant. Ist man in der Lage, gut für sich selbst zu sorgen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dies auch gegenüber den Mitarbeitern gelingt und man als Vorbild wirkt. Und das Beste: Durch diese Qualitäten schafft man positive Lernerfahrungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit steigender Kreativität, höherer Problemlösungskompetenz sowie ganzheitlichem Denken stehen.
Führung ist komplex. Das liegt daran, das Führung immer primär mit Menschen und nur sekundär mit Inhalten zu tun hat. Menschen sind nicht berechenbar und verhalten sich nicht immer logisch entlang einer bestimmten kausalen Wenn-Dann-Verknüpfung. Dennoch ist Führung und der daraus resultierende Erfolg kein Zufallsprinzip. Der Zielerreichungsgrad ist sowohl auf der Beziehungs- als auch auf der Sachebene Spiegelbild eines klaren und konsequenten Verhaltens.
Hier kommt das zweite Kapitel des Yoga-Sutras ins Spiel. Es gilt: Ohne Fleiß kein Preis! Systematisches Handeln ist das Rezept zum Erfolg. Und wie für ein Kochrezept braucht es auch hier Regeln. Im Yoga basieren diese auf den „yamas“ und „niyamas“. Den Führungsalltag regeln die Führungsrichtlinien, Kommunikationsgrundsätze und Verhaltensvorschriften. Diese zu beherzigen, ist nicht immer einfach. Insbesondere, wenn ein verärgerter Kunde anruft und Druck macht. Als Führungskraft dann nicht zu den Mitarbeitern zu stürmen und den Druck weiterzugeben, sondern gelassen zu bleiben, ist das angestrebte zielförderliche Verhalten. Das Yoga schlägt hier eine „Energiepraxis“ vor. Übertragen auf die Führung ist dies der bewusste Umgang mit und der Einsatz von vorhandenen Ressourcen und das Management der Stressoren.
Führung ist ein Prozess. Gemessen wird Führung jedoch immer am Zielerreichungsgrad. Rosenstiel (2001, S. 322) unterscheidet bei der Erfolgsmessung von Führung die Sach- von der Beziehungsebene. Er macht damit Erfolg an „Geführtenverhalten“ im Sinne der Arbeitszufriedenheit, Engagement etc. sowie der „Effizienz“, gemessen an Wachstum, Produktivität und weiteren Unternehmenskennzahlen, fest.
Jeder, der schon einmal eine Führungsfunktion innehatte, weiß, dass Führungserfolg nicht über Nacht passiert. Genauso werde ich nach einer Yoga-Stunde nicht fähig sein, die kompletten Ashtanga-Serien zu praktizieren. Sondern es gilt, immer wieder dazuzulernen, die Muskeln zu stärken, Kompetenzen zu trainieren, umzusetzen, zu lernen, erfolgreich zu sein, zu scheitern, zu verändern und weiter zu üben. Und dabei die Klarheit darüber zu behalten, was das Ziel ist. So wie es das dritte Kapitel des Yoga-Sutras von Patañali beschreibt. Nur dann wird sich Führung in einem iterativen-inkrementellen Lernprozess verbessern, in dem immer wieder Rahmenbedingungen, Geführtenverhalten und meine eigene Person mit einbezogen werden und aus dem Zusammenspiel die nächsten Schritte zur Zielerreichung abgeleitet und vor allem auch umgesetzt werden. Denn nur durch das Tun entsteht Neues. Nur aus anderen Bewegungsabläufen, Kommunikationsmustern oder Verhaltensweisen kann Veränderung und Wachstum entstehen.
Dem Arzt und Yoga-Lehrer Jigar Gor wird das Zitat zugeschrieben: „Yoga is not about touching your toes, it is what you learn on the way down.“ Im vierten Kapitel des Yoga-Sutras geht es um diese Fähigkeit der Selbstreflexion, die eine fortwährende Aufgabe ist, da veränderte Rahmenbedingungen Auswirkungen auf jeden Menschen haben. Und umgekehrt haben die Veränderungen von Menschen auch Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen. Dieses Gespür für das Zusammenspiel ist sowohl die Essenz von Yoga als auch von Führung. Es beginnt und endet mit der Aufgabe der Selbstführung.
Wenn man weiß, dass man einen guten Hüftbeuger hat oder gut in bilateralen Gesprächen mit den Mitarbeitern ist, kann man dies einsetzen. Wenn die ischiocrurale Muskulatur verkürzt ist oder man große Teammeetings nicht mag, kann man das ein Stück weit ausgleichen. Doch ab einem gewissen Punkt muss man sich die Frage stellen, ob die eigenen Kompetenzen ausreichen, um mit den Fingerspitzen den Boden zu berühren oder man den nächsten Schritt von der Team- zur Abteilungsleitung gehen kann. Oder vielleicht sogar durch die eigene Weiterentwicklung die Hände ganz auf den Boden legen kann und eine Position auf C-Ebene genau das richtige ist.
Dafür ist es wichtig, die subjektiven Wahrnehmungen von der objektiven Realität zu trennen. Hat man die ganze Zeit die Knie gebeugt und belügt sich selbst, ist es einfach, die Hände auf den Boden zu bringen. Zum anderen ist es genauso wichtig, die Früchte des Handelns zu identifizieren und sich selbst auch die Anerkennung und das Lob für Gelungenes zuzugestehen.
Yoga ist der Weg, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen. Führung ist der Dreiklang aus gelungener Selbstführung, Mitarbeiterführung und der Führung des Unternehmens. Dabei stehen diese drei Bereiche nicht wie Säulen nebeneinander, sondern ergänzen und beeinflussen sich synergetisch. Wenn der Geist lacht und singt, dann tanzt und bewegt sich der Körper ausgelassen und der Seele geht es gut. Wenn in einer gesunden Selbstführung durch Nutzung der Ressourcen für einen guten Energiehaushalt gesorgt ist, dann kann die Führungskraft ihre Mitarbeiter auch gut in ihren Anliegen unterstützen und schafft es durch eine gelungene Mitarbeiterführung, strategisch das Unternehmen nach vorne zu bringen.
Es geht hier also nicht darum, wie man die Zeit möglichst gut verteilt, sondern vielmehr darum, durch selbstreflektiertes Handeln die richtigen Dinge zu tun. Ausgerichtet, Haltung zeigend und nachsichtig mit sich selbst und anderen.
Viele der genannten Aspekte können durch Coaching unterstützt werden. Zusammenfassend sind insbesondere die Themen Reflexion, Zielklarheit, Verhaltensänderung, Selbstannahme, Dankbarkeit, Perspektivwechsel sowie Emotionsregulation relevant.
Die Umsetzung ist z.B. im Rahmen eines Business- und Gesundheits-Coachings möglich. Gesundheits-Coaching umfasst analog der Definition von Gesundheit einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ (Weltgesundheitsorganisation, 1948) Entsprechend sollten beim Business- und Gesundheits-Coaching im Sinne eines ganzheitlichen Vorgehens sowohl die direkten und indirekten Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden als auch das soziale Gefüge der Klienten beleuchtet bzw. in den begleiteten Transformationsprozessen in den Unternehmen adressiert werden.
Damit ein ganzheitliches Vorgehen beim Klienten auf allen Ebenen spürbar ist, bedarf es eines entsprechenden Hintergrunds beim Coach, um körperliche, psychische als auch soziale Aspekte zu integrieren. Viele Methoden können zwei oder alle drei Ebenen ansprechen. Beispielsweise kann eine Gruppenmeditation das soziale Gefüge stärken, zu mentaler Klarheit und gleichzeitig zur Entspannung von Muskelgruppen mit zu hohem Tonus führen. Der Blick im Coaching wird bei der Führungskraft ganzheitlich auf Person und Umwelt und die damit verbundenen Ressourcen sowie Stressoren gelenkt. Der Klient wird daher z.B. gefragt: Was ist schon da? Was kann für das festgelegte Ziel genutzt werden? Welche Aufgaben werden an die Seite gestellt, die gerade nicht im Fokus sind? So werden vorhandene Potenziale entfaltet, Ressourcen aktiviert und Entwicklungsbedarfe anerkannt.
So erging es auch Peter. Vor 18 Monaten trug er noch den Blaumann. Dann besuchte er die Meisterschule und legte den Schraubenzieher weg. Stattdessen trägt er jetzt Krawatte. So schnell wie sich sein Äußeres und seine Position mit entsprechendem Titel verändert haben, konnte er sich jedoch nicht als Person verändern. Immer wieder erwischt sich Peter dabei, wenn er sich gerade die Hände mit der Handwaschpaste reinigt, dass er schon wieder selbst in der Anlage mitgeholfen hat, anstatt seine Mitarbeiter zu befähigen. Im Coaching ist daher der erste Schritt Zielklarheit: Was für eine Führungskraft möchte Peter sein? Welche Ressourcen und Kompetenzen besitzt er schon dafür? Welche Entwicklungspotenziale gibt es noch? Dann wird priorisiert. Peter möchte alles morgen umsetzen. Es braucht Klarheit. Über Embodiment-Techniken, wie Veränderung der Körperhaltung und Atemübungen, gelangt diese allmählich vom Geist in den Körper. Denn es gilt nun, diese umzusetzen. Gespräche mit dem Chef stehen an. Sowohl Entspannungstechniken als auch Gesprächsstrategien formen sich zu einem Vorgehen. Es werden soziale Verbündete gesucht, um Strukturen so zu verändern, dass der Mehrwert von Peter auf das ganze Unternehmen übertragen werden kann.
Die Idee der Kombination von Yoga und Führungsprinzipien ist entstanden, um Arbeitswelten zu gestalten, in denen Menschen und Organisationen ganzheitlich und nachhaltig wachsen können. Im Ergebnis soll so eine Führungskultur geschaffen werden, die sowohl leistungsfähig als auch menschlich ist. Die Erfahrung zeigt, dass Leistung und Wohlbefinden sich nicht ausschließen, sondern eine langfristige Leistung Wohlbefinden voraussetzt, um sowohl den Führungserfolg als auch den Erfolg des gesamten Unternehmens zu sichern.
Grenzen finden sich insbesondere in der Offenheit des Klienten gegenüber den jeweiligen Ansätzen. Wenn Klienten die Yoga-Begriffe wie bspw. Aktivierung der Bandhas oder auch Meditation und Atemübungen hören, dann verschließen sich manche vor dem Prozess. Hier kann es hilfreich sein, die Methode vorsichtig einzusetzen oder schrittweise vorzugehen. Auch Erfahrungsberichte von berühmten Sportlern, Unternehmern, Musikern oder Schauspielern bauen oft innere Hürden ab. Ganz praktisch unterstützt oft ein Ortswechsel, z.B. nach draußen in die Natur, oder das Schließen der Augen, um die Barrieren abzubauen. Übungen, die angeleitet werden, dürfen auch mitgemacht werden. Also: Schuhe aus, Scheu überwinden und gemeinsam in das gesunde Abenteuer stürzen.