Führung

Vom Reden zum emotionalen Erleben

Achtsamkeit als Schlüssel zur Veränderung

Viele Vorgehensweisen im Coaching entfalten mehr Intensität und Tiefe und somit eine höhere Wirkung, wenn der Klient in einem achtsamen Bewusstseinszustand ist. Mit Achtsamkeit und einem forschenden Zugang zur eigenen Innenwelt eröffnen sich für Klienten oft erstaunlich leicht und mühelos neue Handlungsoptionen. Besonders mental ausgerichtete Menschen entdecken auf diese Weise selbst, was sie steuert und wie es anders gehen könnte.

12 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2008 am 13.10.2008

Achtsamkeit ist ein Begriff, der immer populärer wird und zunehmend Interesse weckt. Kurz gesagt geht es dabei um eine bewusste, aufmerksame, akzeptierende Grundhaltung gegenüber allen Bewusstseinsinhalten im gegenwärtigen Moment. Die ungeteilte Aufmerksamkeit ist auf den jetzigen Augenblick ausgerichtet – auf das, was innerlich gerade geschieht. Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen und Impulse werden mit einer nicht-wertenden, annehmenden Haltung beobachtet, mit der Absicht, sie genauer wahrzunehmen, ohne sie sofort verändern zu wollen. So entsteht in Bruchteilen von Sekunden eine „Entscheidungslücke“ zwischen der unmittelbaren Erfahrung und der meist automatischen, handlungsorientierten Verarbeitung. Diese „Entscheidungslücke“ kann man konstruktiv nutzen.

Achtsamkeit ist mehr nur als neues Tool im Werkzeugkasten eines Coachs. Achtsamkeit ist in erster Linie eine Haltung, die ein Coach authentisch vorleben muss. Wenn ein Klient die Wirkung dieser neugierigen, offenen Präsenz des Coachs in der Beziehung erlebt, wird er sich auf den Prozess der Selbsterforschung zunehmend einlassen und viele Coaching-Methoden werden damit besser „greifen“.

Aus der Wirkungsforschung der Psychotherapie ist bekannt, dass unspezifische allgemeine Faktoren für den Erfolg einer Psychotherapie wichtiger sind als die jeweils angewandte Methode. Dies dürfte für die Coaching-Arbeit in ähnlicher Form gelten. Zu diesen Einflüssen zählt vor allem die Art der Beziehung. Dabei sind vor allem Komponenten bedeutsam, die durch Achtsamkeit gefördert werden: z.B. Empathie, Wärme, Akzeptanz, Kongruenz und Präsenz.

Auch methodisch nutzen Psychotherapien zunehmend Achtsamkeit, um Abläufe, die im Alltagsbewusstsein oft weitgehend unterschwellig und automatisch ablaufen, besser beobachten und erforschen zu können. Die Qualität der Aufmerksamkeit wird verändert – weg von „suchen nach“ hin zu „kommen lassen“.

Das Herstellen eines achtsamen Bewusstseinszustandes hat folgenden Nutzen:

  • Bei Klienten, die schwer Zugang zu ihren Emotionen finden, kann die Selbstwahrnehmung stärker auf innere Vorgänge gelenkt werden.
  • Durch das Verweilen bei Körperempfindungen, Gedanken und Gefühlen wird deren Bedeutung für die Klienten verständlicher.
  • Körpersignale können ein wesentliches Frühwarnsystem werden, um automatische Reaktionen früher zu bemerken und besser zu steuern.
  • Ein angestrebter Zielzustand kann in Zeitlupe mit allen Sinnen umfassender, differenzierter und intensiver gegenwärtig erlebt werden. Insbesondere für bessere Selbstführung ist dieses präzise Beobachten sehr wirksam.

Auch unter neurophysiologischer und lerntheoretischer Perspektive ist Achtsamkeit sinnvoll: Neue synaptische Verknüpfungen im Gehirn entstehen erst durch die emotionale Beteiligung bei einer Erfahrung. Da in Achtsamkeit innere Abläufe gleichzeitig differenzierter gefühlt, bewusster wahrgenommen und von innen heraus wie evident wissend erkannt werden, können neue Bahnungen im Gehirn induziert und angemessenere Verarbeitungsmuster als die „alten Reflexe“ entwickelt werden. Der Vorteil ist, dass das Erleben einerseits intensiv ist – und andererseits durch die Position des inneren Beobachters emotionale Zustände deutlicher spürbar sind, ohne von ihnen vereinnahmt zu werden.Genau diese Verbindung ist der Faktor, der bei persönlichen Veränderungsprozessen ein auf die Innenwelt ausgerichtetes Coaching so wirksam macht.

Achtsamkeit – ein altes, hoch aktuelles Konzept

Achtsamkeit ist eine grundlegende und jedem Menschen zugängliche Fähigkeit und Haltung, die sich durch Übung entfalten lässt. Seit Jahrtausenden ist sie das Herzstück der buddhistischen Lehre und findet sich wiederholt in den Schriften als wesentlicher Teil des Weges zur Aufhebung von Leiden. Als zum Beispiel in den 70er Jahren die in USA entwickelte Hakomi-Methode begann, Achtsamkeit in der Psychotherapie explizit zu nutzen, wurde im Deutschen das Wort Achtsamkeit meist als nach außen gerichtete Aufmerksamkeit oder Sorgfalt verstanden. Aber das, worum es dabei geht, ist eine innere Achtsamkeit, die innerpsychische Vorgänge beobachtet, ohne in sie hineingezogen zu werden.

Seit 1979 werden die gesundheitsfördernden Wirkungen von Achtsamkeit in der von Jon Kabat-Zinn gegründeten Stress Reduction Clinic erforscht. Das von ihm entwickelte Training ist inzwischen auch in Deutschland weit verbreitet. Die Ergebnisse sind so überzeugend, dass inzwischen auch verhaltenstherapeutische Verfahren, die sich viele Jahrzehnte kaum mit der Innenwelt befassten, begonnen haben, Achtsamkeit zur Linderung psychischer Leiden intensiv zu beforschen und zu nutzen.

Hintergründe und Materialien

Der Innsbrucker Facharzt Dr. Michael E. Harrer hat umfangreiche Informationen zur Wirkung von Achtsamkeit zusammengetragen: www.achtsamleben.at.

Das Fachbuch „Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik“, das von Ulrike Anderssen-Reuster herausgegeben wurde, dokumentiert die Beiträge einer Expertentagung in 2006 und gibt vertieften Einblick in das professionelle Feld – ISBN: 978-3-7945-2552-2.

Wen die erfahrungsorientierte Körperpsychotherapie Hakomi® interessiert, wird beim Hakomi® Institute of Europe fündig: www.hakomi.de.

Informationen rund um Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) bietet der MBSR-Verband an: www.mbsr-verband.de.

Ein Coaching-Tool, von Hakomi® entwickelt, ist „Accessing“. Es wird von uns im von Christopher Rauen herausgegebenen Buch „Coaching-Tools 2“ vorgestellt – ISBN: 978-3936075656.

Wie lässt sich Achtsamkeit im Coaching nutzen?

Denkt oder spricht man im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein, dann ist die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf Inhalte gerichtet. Aber gerade im Beratungskontext kann es förderlich sein, wenn der Coach bereits frühzeitig die Wahrnehmung mehr auf das innere Erleben lenkt. Wenn Klienten von Schwierigkeiten oder Herausforderungen berichten, sind sie in der Regel stark inhaltlich und nach außen orientiert. Sie reden mehr über Eigenschaften und Verhaltensweise anderer, über Details und Ereignisse als darüber, was sie innerlich erleben. Wenn man nach dem Befinden fragt, kommt – wenn überhaupt – nur eine kurze Antwort, mit einer längeren sachlichen Begründung. Bereits beim Klären des Anliegens kann der Coach den Klienten ermuntern, für einen Moment innezuhalten und sich stärker auf das achtsame Erforschen innerer Zusammenhänge auszurichten: „Würde es Sie interessieren, hier zu verweilen, das näher zu untersuchen?“ Oder: „ Wie wäre es, da einmal anzuhalten und genauer nachzufühlen, was innerlich passiert? Sind Sie neugierig, das besser zu verstehen?“ Oder: „Wenn Sie möchten, kann ich Sie dabei unterstützen, diese Situation gefühlsmässig in die Gegenwart herzuholen und besser wahrzunehmen, was emotional noch alles mitschwingt.“

Allerdings geben Klienten die „Kontrolle“ an so ein eher ungewöhnliches Vorgehen nicht so leicht ab. Erstens haben sie nur wenige Stunden Zeit, ihr Ziel zu erreichen, zweitens ist ihnen die Welt der Gefühle meist fremd und drittens ist es für viele erfolgreiche Manager recht ungewohnt, sich mit ihrer Innenwelt anderen anzuvertrauen. Menschen lassen sich leichter auf Achtsamkeit ein, wenn sie den Nutzen mit ihren Zielen verknüpfen können. Wenn sie verstehen, dass Langsamkeit und Körperorientierung einen besseren Zugang zu Hintergründen von automatischen Verhaltensmustern schaffen und auch für wirksamere Selbstregulierung hilfreich sind, sind sie eher bereit, nach innen zu gehen. Sobald sie das Vorgehen und dessen Sinn nachvollziehen, entsteht eine gewisse Neugier, die eigenen Reaktionen, Gefühle oder inneren Widerstände näher zu erforschen.

Eine einfache Art, die Wahrnehmung auf das gegenwärtige Erleben zu lenken, besteht darin, dieses empathisch anzusprechen und weniger auf die Inhalte einzugehen. Wenn ein Klient von einem Ereignis aus der Vergangenheit erzählt, gibt es immer auch eine gegenwärtige emotional gefärbte Erfahrung während des Erzählens, die mindestens so relevant ist, wie der Vorfall, von dem berichtet wird. Durch empathische Aussagen wendet der Klient sich automatisch mehr seinen jetzigen Gefühlen und Empfindungen zu. Die Selbstwahrnehmung wird dadurch erhöht, dass die Person genauer nachspürt: Fühle ich mich wirklich so? Oder anders? Schon dieses kurze Hineinhorchen bewirkt mehr Achtsamkeit.

Viele Klienten verlieren relativ schnell wieder den Kontakt zu ihren Gefühlen und versuchen stattdessen, diese einzuordnen oder zu begründen. Der Coach kann den Klienten in solchen Momenten ermutigen, bei der jetzigen Erfahrung zu verweilen und sie – statt darüber zu reden – wie in Zeitlupe noch genauer zu erforschen. Es geht bei der Arbeit in Achtsamkeit weniger um die Anwendung einer spezifischen Technik oder Intervention. Vielmehr steuert Achtsamkeit den Bewusstseinszustand des Klienten und die Tiefe des Prozesses. Sie zieht sich von der Auftragsklärung bis zum Transfer wie ein roter Faden durch verschiedene Vorgehensweisen.

Accessing – mit Körperwahrnehmung arbeiten

Körperwahrnehmung ist ein Schlüssel beim Herstellen eines achtsamen Zustandes. Über das Erforschen von Körperempfindungen mit Accessing-Fragen (aus der Hakomi Psychotherapie) wird der Prozess verlangsamt. Wenn beispielsweise eine bestimmte Situation wiederholt beim Klienten hohen Stress auslöst, ihm seine Reaktionen keinen Sinn machen, er sie aber auch nicht „in den Griff bekommt“, könnte der Coach den Klienten auffordern, eine typische Stress auslösende Situation innerlich herzuholen und diese wie unter Zeitlupe ablaufen zu lassen. Accessing-Fragen laden nun zur genaueren Erforschung der Phänomene ein. „Wo im Körper können Sie den Druck besonders deutlich wahrnehmen? Wie wirkt sich der Druck innerlich aus? Wieviel Raum nimmt diese Spannung ein? Was schwingt da noch mit?“

Fragen, die die Körperempfindungen explorieren, führen oft zu tiefer liegenden Gefühlen: „Wenn Sie bei diesem Gefühl verweilen, was taucht noch auf? Was für eine Art von Unsicherheit ist das? Wie oder wo im Körper spüren Sie diese unterlegene Unsicherheit? Was passiert, wenn Sie da für einen Moment verweilen?“ Über das Verweilen bei den Gefühlen vertieft sich der Prozess und es können sich Gedanken (auch von Teilen der Persönlichkeit) melden, die mehr mit den unbewussten Hintergründen der Reaktionen zu tun haben. „Wenn Sie diesen Gedanken auf sich wirken lassen, was nehmen Sie noch wahr? Wie hört sich diese innere Stimme an, welche Qualität geht mit einher? Von wo kommt diese kritische Stimme, die Sie so abwertet und Druck macht? Was passiert innerlich, wenn Sie das hören? Wollen Sie mal hinspüren warum dieser Teil in Ihnen so kritisch ist oder was er befürchtet?“

Accessing-Fragen können und sollen nicht rational beantwortet werden. Sie haben primär den Zweck, Klienten im gegenwärtigen Erleben zu halten und innere Vorgänge noch differenzierter zu untersuchen. Oft erschließt sich für Klienten auf diesem Weg erstaunlich leicht die Bedeutung von bislang unverständlichen Reaktionen. Innere Zusammenhänge, prägende Anschauungen oder Grundüberzeugungen werden ins Bewusstsein geholt, emotional erlebt und verstanden. Der Klient fühlt sich diesen weniger ausgeliefert und es besteht die Möglichkeit, daran im Coaching systematisch und zielorientiert weiter zu arbeiten. Bedeutsam für die Nachhaltigkeit ist, dass die nun deutlicher erkennbaren Signale bei zukünftigen Auslösern automatischer Reaktionen als Frühwarnsystem genutzt werden können. Das achtsame Wahrnehmen beispielweise des Zusammenziehens im Bauch, des Drucks in der Brust, der flacheren Atmung, der kritischen inneren Stimme und so weiter können rechtzeitig den Hinweis geben, dass Innehalten und bewusste Selbstregulierung angesagt ist.

Zusammengefasst lenkt der Coach die Aufmerksamkeit des Klienten

  • vom Reden in die gefühlte Erfahrung;
  • vom Tun ins Erleben;
  • von der Vergangenheit in die Gegenwart;
  • vom Alltagsbewusstsein in die achtsame Selbsterforschung. 

Die Bedeutung der Beziehung

Es zeigt sich immer wieder, dass für den Erfolg eines Coachings (wie bei einer Psychotherapie) das Vertrauen entscheidend ist, das der Klient in den Coach und in den Prozess hat. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Methoden, die der Coach wählt, beliebig wären. Aber es lässt sich nicht ignorieren, dass die Fähigkeit des Coachs, eine sichere und vertrauensvolle Beziehung und Situation zu gestalten, von hoher Bedeutung ist. Diese Sicherheit wird in erster Linie von der inneren Haltung des Coachs geprägt.

Die Erkenntnis ist einfach, doch die Umsetzung bleibt herausfordernd. Denn es gibt unzählige Eigenschaften, Sichtweisen, Werte, Verhaltensweisen oder auch innere Widerstände, auf die ein Coach beim Klienten innerlich – und damit immer auch nach außen fühlbar – reagieren kann. Und umgekehrt kann ein Coach auf einen Klienten zu nüchtern, eindringlich, emotional, mental oder zurückhaltend wirken und für dessen Empfinden zu viele Fragen stellen, zu viele Erklärungen oder Assoziationen aussprechen und so weiter. Diese – manchmal sehr subtilen – Wechselwirkungen können eine achtsame Exploration deutlich behindern. Wenn der Coach entspannt und geduldig ist, nicht gegen die inneren Kräfte arbeitet und gut an die gegenwärtige Erfahrung angedockt ist, werden Klienten in der Regel bereits etwas achtsamer. Der Coach ist also vor allem gefordert, selbst in einem achtsamen Zustand zu sein.

Achtsamkeit als Haltung

Das achtsame Wahrnehmen der Innenwelt – ohne die Intention, etwas zu kontrollieren oder zu beeinflussen – klingt simpel, ist aber nicht einfach. Jeder, der beginnt, Achtsamkeit zu üben, ist schnell in Gedankenketten abgedriftet. Den Geist zu schulen, wirklich im Hier und Jetzt zu sein, will kultiviert und trainiert werden. Ohne ein klares Objekt der Konzentration neigt der Geist dazu, sich den nächstbesten Reizen zuzuwenden – seien es Gedanken und innere Bilder oder äußere Störungen und Ablenkungen. Sowohl in klassischen Meditationen wie auch in modernen Achtsamkeitstrainings wird deshalb oft empfohlen, während der Achtsamkeit immer wieder konzentriert auf den Atem zu achten und bei Ablenkungen zum Atem zurückzukehren. Das ist auch deshalb sinnvoll, weil der Atem sehr eng mit inneren Zuständen wie Emotionen, Verhaltensroutinen oder Reaktionen verknüpft ist und so den Zugang zu inneren Automatismen deutlich erleichtert. Achtsamkeit, als geistige Fähigkeit, entfaltet ihre segensreichen Wirkungen mit regelmäßiger Praxis.

Achtsamkeit lässt sich weiter entwickeln mit:

  • Anfängergeist – die Fähigkeit, sich jeder Situation und Begegnung, auch Routinen, mit unvoreingenommenem Geist zu öffnen.
  • Sich beim Handeln beobachten – die eigenen Impulse, Gefühle und Reaktionen früher und genauer wahrzunehmen.
  • Innerer Abstand – weniger identifiziert sein mit dem, was innerlich und/oder im Außen geschieht.
  • Achtsamkeit als Vorbereitung – ein paar Minuten Achtsamkeit vor wichtigen Situationen, z.B. auch vor jedem Coaching, hat eine zentrierende Wirkung und erhöht die Konzentration.

Letztlich ist es diese achtsame Präsenz und warmherzige Zugewandtheit des Coachs, die einem Coaching emotionale Tiefe, Intensität und Lebendigkeit gibt, die beim Klienten das Interesse sich selbst gegenüber erhöht und ihn neugierig werden lässt.

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