Unter Shadowing versteht man im Coaching die strukturierte Begleitung eines Klienten im beruflichen Alltag durch seinen Coach – meist in der Rolle eines stillen Beobachters. Ziel ist es, ein authentisches Bild vom Verhalten, von den Interaktionen und der Wirkung des Klienten in seinem natürlichen Arbeitskontext zu erhalten. Die Beobachtungen fließen anschließend in den Coaching-Prozess ein und dienen dort als Grundlage für vertiefte Reflexionen.
Der Begriff Shadowing stammt aus dem angelsächsischen Raum, wo er überwiegend in der beruflichen Ausbildung verwendet wird: Auszubildende begleiten eine erfahrene Person, um deren Arbeitsweise durch das „Mitlaufen wie ein Schatten“ kennenzulernen. Im Coaching wird das Prinzip umgekehrt: Nicht der Lernende, sondern der Coach „beschattet“ die Führungskraft und lernt dabei deren Welt aus einer außenstehenden Perspektive kennen.
Im gesprächsbasierten Coaching ist der Coach auf die Selbstwahrnehmung und Darstellung des Klienten angewiesen. Doch diese Perspektive ist zwangsläufig subjektiv – geprägt durch Wahrnehmungsfilter, blinde Flecken, implizite Narrative oder unbewusste Schutzmechanismen. Gerade wenn es um Verhaltensmuster in komplexen sozialen Systemen geht, reicht diese Innenperspektive oft nicht aus.
Shadowing erweitert diese Perspektive: Der Coach erhält eigene Eindrücke – direkt, unmittelbar und kontextbezogen. Er sieht, wie der Klient mit Stress umgeht, wie er sich in Hierarchien bewegt, welche Kommunikationsmuster er nutzt, wie er auf Kritik reagiert oder wie er in Teamsitzungen führt. Dies ermöglicht einen Abgleich zwischen Selbstbild, Fremdbild und beobachtbarem Verhalten. Der Coach erhält also einen Rundum-Einblick und kann dadurch ganz anders auf den Klienten und seine Realität eingehen. In der Praxis lassen sich zwei grundsätzliche Formen unterscheiden: das offene und das verdeckte Shadowing.
Abb.: Shadowing als offene und verdeckte Variante
Beim offenen Shadowing wird im Arbeitsumfeld transparent kommuniziert, dass der Coach anwesend ist und eine beobachtende Rolle einnimmt. Die Beteiligten wissen, dass der Coach im Sinne eines Feedbackgebers agiert, nicht als Auditor oder Kontrollelement. Die Beobachtungen erfolgen in realen Situationen wie Meetings, Mitarbeitergesprächen oder Workshops.
Eine Bereichsleiterin in einem mittelständischen Unternehmen steht vor der Herausforderung, ein neu zusammengesetztes Team zu führen. Der Coach begleitet einen ganztägigen Teamworkshop, in dem es um Rollenklärung, Erwartungen und Konfliktbearbeitung geht. Den Teilnehmenden ist bekannt, dass der Moderator zugleich Coach der Führungskraft ist.
Während des Workshops beobachtet der Coach, wie die Bereichsleiterin mit Widerstand umgeht, wie sie zuhört, ob sie Verantwortung delegiert oder an sich zieht und wie ihre nonverbale Kommunikation wirkt. Diese Beobachtungen fließen später in das Einzel-Coaching ein und helfen dabei, die Reflexion über ihre Führungsrolle zu vertiefen.
Ein Coach wird beauftragt, eine junge Führungskraft zu begleiten, deren Vorgesetzter ihre Entwicklung als noch unausgereift empfindet. Im Auftragsklärungsgespräch mit allen drei Beteiligten beobachtet der Coach nicht nur den Inhalt der Gespräche, sondern auch, wie der Klient mit hierarchischem Druck umgeht: Weicht er Konfrontationen aus? Kann er sich abgrenzen? Wie geht er mit Kritik um? Daraus ergeben sich zentrale Themen für die weitere Coaching-Arbeit, die auf rein inhaltlicher Ebene möglicherweise unsichtbar geblieben wären.
In diesem Fall tritt der Coach nicht öffentlich als solcher in Erscheinung. Er wird beispielsweise als Gast, Beobachter oder kollegialer Besucher eingeführt. Der Vorteil: Die Beteiligten verhalten sich meist natürlicher, da sie sich unbeobachtet fühlen. Der Nachteil: Es entstehen ethische Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf Transparenz und Vertrauen.
Ein Coach soll einem CEO Feedback zu seiner Wirkung bei einem unternehmensweiten Townhall-Meeting geben. Da mehrere hundert Personen anwesend sind, fällt ein zusätzliches Gesicht im Raum kaum auf. Nur der CEO weiß über die Rolle des Coachs Bescheid.
Der Coach beobachtet, wie der CEO auf kritische Fragen reagiert, ob seine Körpersprache souverän wirkt und ob seine Botschaften überzeugend sind. Die Rückmeldung erfolgt im Anschluss vertraulich im Coaching-Gespräch und dient der Verbesserung seiner kommunikativen Wirkung.
Ein niedergelassener Orthopäde möchte Feedback zu seiner Patientenkommunikation und Teamführung. Der Coach begleitet ihn einen Tag lang durch die Praxis, ausgestattet mit einem Arztkittel, um nicht aufzufallen. Er beobachtet: Wie begrüßt der Arzt seine Patienten? Wie bindet er das Team ein? Wie geht er mit Wartezeiten, Hektik und Frustration um?
Die anschließende Reflexion führt zu konkreten Veränderungen: Die Wartezimmerkommunikation wird verbessert und das Team erhält mehr Verantwortung. Der Arzt reflektiert seine eigene Haltung gegenüber bestimmten Patientengruppen.
Shadowing bietet Coaches eine neue Qualität des Beobachtens: Verhalten wird nicht mehr nur beschrieben, sondern tatsächlich gesehen. Das kann zu Erkenntnissen führen, die im Gespräch möglicherweise verborgen geblieben wären. Gleichzeitig hilft Shadowing dabei, systemische Wechselwirkungen sichtbar zu machen – etwa Reaktionsmuster im Team oder Spannungen zwischen Hierarchieebenen.
Doch Vorsicht: Auch die Beobachtung bleibt subjektiv. Der Coach sieht durch seine eigene Brille, interpretiert Gesehenes auf Basis seiner Erfahrungen, Annahmen und Deutungsmuster. Shadowing ersetzt daher nicht das Coaching-Gespräch – es erweitert es um eine zusätzliche Perspektive.
Außerdem gilt: Die Anwesenheit des Coachs verändert zwangsläufig das Verhalten im System. Führungskräfte, die wissen, dass sie beobachtet werden, agieren oft reflektierter, hören aufmerksamer zu oder vermeiden kritische Aussagen. Dieser sogenannte Hawthorne-Effekt lässt sich nicht ausschalten, wohl aber reflektieren.
Der Hawthorne-Effekt beschreibt das Phänomen, dass Menschen ihr Verhalten ändern, wenn sie wissen, dass sie beobachtet oder erforscht werden. Benannt ist er nach den Hawthorne-Werken in Cicero (Metropolregion Chicago), wo in den 1920er und 1930er Jahren Studien zur Arbeitsproduktivität durchgeführt wurden. Bei diesen Studien wurde festgestellt, dass sich die Leistung der Arbeitenden unabhängig von den eigentlichen Versuchsbedingungen (wie Beleuchtung oder Pausenzeiten) verbesserte – einfach weil sie sich beobachtet fühlten. Dieser Effekt kann also dazu führen, dass die beobachteten Personen nicht ihr natürliches Verhalten zeigen, sondern sich „besser“ verhalten, weil sie wissen, dass sie Teil einer Studie sind. (s. auch Wikipedia, 2025)
So reizvoll verdecktes Shadowing aus methodischer Sicht sein mag – es wirft zentrale ethische Fragen auf. Besonders relevant sind hier …
Ein verantwortungsbewusster Umgang mit Shadowing erfordert daher klare Vereinbarungen, explizite Zustimmung aller Beteiligten (soweit möglich) und eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Rolle als Coach. Es empfiehlt sich, bei verdecktem Shadowing besonders sorgfältig abzuwägen, ob der Erkenntnisgewinn den potenziellen Schaden am Vertrauensverhältnis aufwiegt.
Systemische Coaches stellen die Beziehungen, Zusammenhänge und Interaktionen im System des Klienten (also z.B. des Teams einer Führungskraft) in den Mittelpunkt. Dabei sehen sie die Menschen in ihrem Kontext, in ihren Wechselwirkungen, in ihren Rollen und Regeln. Shadowing ist ein Instrument, das genau diese Perspektive stärkt. Es ermöglicht, nicht nur das Verhalten des Klienten zu sehen, sondern auch die Logiken, die es erzeugt. Es bietet Möglichkeiten für Hypothesenbildung „in vivo“ – also während eines aktiven Prozesses – und unterstützt eine reflektierte Prozessarchitektur.
Shadowing ist kein Allheilmittel, aber ein wertvolles Werkzeug im Methodenkoffer professioneller Coaches. Es kann neue Perspektiven eröffnen, implizite Muster sichtbar machen und Gespräche auf einer fundierteren Basis ermöglichen. Entscheidend ist dabei, das Gesehene weder zu überschätzen noch unreflektiert zu deuten.
Coaches beobachten nicht „die Wahrheit“, sondern eine Facette des Systems. Dabei blicken sie durch ihre individuelle Linse. In Kombination mit Dialog, Selbstreflexion und systemischem Denken kann Shadowing jedoch helfen, Verstehen zu vertiefen und Veränderung wirksamer zu begleiten.