Methoden

Coaching mit dem Gedankenflussmodell

Was haben jahrtausendealte Meditationstechniken und dieses Modell gemeinsam?

Das Gedankenflussmodell veranschaulicht den Umgang einer Person mit den eigenen Gedanken, sowohl den angestrebten Zustand, bei dem Gedanken wie ein Fluss vorbeiziehen, als auch die hinderliche Tendenz, sich an den eigenen Gedanken festzubeißen und so im Gedankenstrudel zu „ertrinken“. 

11 Min.

Coaching-Magazin Online, 09.01.2024

Dieser Fachbeitrag entstammt einem Experten-Austausch zwischen Prof. Dr. Monika Zimmermann und Dr. Bernd Schumacher. Das zunächst simpel anmutende Gedankenflussmodell veranschaulicht den Umgang einer Person mit den eigenen Gedanken, sowohl den angestrebten Zustand, bei dem Gedanken wie ein Fluss vorbeiziehen, als auch die hinderliche Tendenz, sich an den eigenen Gedanken festzubeißen und so im Gedankenstrudel zu „ertrinken“. Das Modell stellt einen Zusammenschnitt aus anderen Ansätzen bzw. philosophischen Schulen dar und ist im weitesten Sinne die Quintessenz von Meditationstechniken. Die Grundidee des Gedankenflussmodells, nämlich dass das, was wir denken, im Grunde Nichts ist, ist uralt – ein Blick auf die theoretischen Hintergründe erscheint daher lohnend.  

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Theoretische Hintergründe

Gehen wir in der Ideengeschichte weit zurück, dann findet sich diese Idee schon vor etwa 2.500 Jahren bei den Vorsokratikern (600 bis 350 v. Chr.), im Buddhismus (6. Jh. v. Chr.) und bis zu einem gewissen Grad auch im Konfuzianismus (600 v. Chr.). Die Idee ist, dass es zwei Ebenen des Denkens gibt. Zunächst gibt es das, was wir denken, und dann das, was wir über unser Denken denken. Das entspricht der klassischen Unterscheidung zwischen Inhalt und Form. Der Inhalt ist das, was wir denken. „Was?“ ist immer die Frage nach dem Inhalt. „Was denkt er oder sie?“ Die Form ist immer die Beziehung. Meine Beziehung zu mir, meine Beziehung zu meinen Gedanken oder meine Gedanken über meine Gedanken. Die Form ist immer die Frage nach dem „Umgang mit …“. Systemiker bemühen sich darum, die Form zu halten. Es ist also unwichtig, was jemand denkt, essenziell ist stattdessen, wie er oder sie damit umgeht.

Dies wurde auf unterschiedliche Art und Weise aufgegriffen. Aus dem 18. Jahrhundert stammt folgender Ausspruch von Georg Christoph Lichtenberg, einem Aphoristiker und Mathematiker. Anstatt zu sagen „Ich denke“, solle man sagen „es denkt“. Dies erzeuge eine Distanzierung.

Später hat auch Edmund Husserl (1859–1938) diesen Aspekt in seiner Transzendentalphilosophie aufgegriffen. Er versuchte zwei Bewusstseinsebenen einzuführen: Die eine Bewusstseinsebene, die denkt, und die zweite, die darüber denkt, was man denkt. Selbst in der Bedürfnispyramide von Maslow, die er 1970 nochmals revidiert hat, steht Transzendenz seither an der obersten Stelle.

In den 1980er Jahren ist der Konstruktivismus aufgekommen. Insbesondere der Radikale Konstruktivismus im Sinne von Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster verteidigt die Idee, dass wir keinen Zugang zur wirklichen Welt haben können, direkt und unmittelbar, sondern dass unsere innere Struktur bestimmt, wie wir die Welt wahrnehmen, sehen und letztlich verstehen. Es gibt also keine Trennung zwischen uns und der Welt, in der wir glauben, zu leben, denn sie wird von uns selbst konstruiert. Dieser Umstand ist ebenfalls Forschungsgegenstand der Neurowissenschaften.

Das Gedankenflussmodell

In der Regel denken Menschen den ganzen Tag lang bewusst über ihre aktuellen und künftigen Handlungen nach, über alles, was ihnen wie auch immer in den Sinn kommt und natürlich auch über sich selbst. Wenn Menschen allerdings in diesem Gedankenfluss zum Schluss kommen, sie seien, was sie denken, sich also mit ihren Gedanken verwechseln, dann kann dies problematisch werden (im Extremfall sogar bis hin zur Entwicklung einer psychischen Störung). Denn gerade bei Psychosen ist es typisch, dass die Betroffenen ganz eins mit ihren Gedanken sind. Man muss sich bei diesem Umstand bewusst sein, dass Menschen grundsätzlich eine sehr rege Vorstellungskraft haben und sich alles Mögliche denken können – i.d.R. aber ohne sich mit ihren Gedanken zu verwechseln bzw. zu identifizieren.

Wichtig ist daher eine Veränderung von Inhalt zu Form und eine Veränderung der Ebenen. Es gibt die Inhaltsebene und die Formebene, also die Ebene des Umgangs. Das ist die Grundidee und das Gedankenflussmodell ist eine Kurzfassung davon. Buddhistische Mönche praktizieren das mitunter viele Jahre lang, um zu lernen, von sich selbst wegzugehen, letztendlich vom Ich/Ego wegzukommen.

Es geht darum, eine Art Selbsttranszendenz zu entwickeln, sich auf der einen Seite mit seinen Gedanken nicht mehr so ernst zu nehmen, um sich auf eine andere Art und Weise wieder ernster zu nehmen. Nämlich zu fragen: „Wie geht es mir mit mir, wenn ich so mit meinen Gedanken umgehe?“ Dann führt das Ganze als Konzept zu einer Entscheidung. Im besten Falle, dass ich mich entscheiden kann, wie ich mit meinen Gedanken umgehen möchte. „Und wie geht es mir mit mir, wenn ich anders mit meinen Gedanken umgehe?“ Die Grundidee an diesem Punkt ist wiederum, dass ES erstmal denken darf, was ES will. Es denkt so vor sich hin und ich kann das fließen lassen (deshalb auch „Gedankenfluss“).

Gedankenflussmodell im Coaching

Natürlich ist es ambitioniert, dieses Wissen bzw. dieses Modell coachend zu verwenden. Die Klientinnen und Klienten werden eingeladen, das Modell zunächst als Idee mitzunehmen. Gedanken kommen und gehen, es sei denn, man hält sie auf eine bestimmte Art und Weise fest. Die Frage ist also nicht, wie Klientinnen und Klienten Gedanken loswerden können, sondern, was sie tun müssten, wollten sie sie behalten. Wie hält man also Dinge fest? Der Klassiker ist, sich selbst „Ich muss…“ oder „Ich darf nicht…“ zu sagen.

Dann gibt es etwas, das als „Holzwege des Denkens“ bezeichnet werden kann. Nämlich den Versuch, etwas herzustellen, was nicht da ist. Der Versuch, z.B. Gelassenheit oder Akzeptanz herzustellen, ganz spontan, funktioniert nicht. Oder der gezielte Versuch, etwas zum Verschwinden zu bringen, wie bestimmte Gedanken oder Angst. Das Problem ist nicht, dass Klientinnen und Klienten dies versuchen, sondern dass sie auf der übergeordneten Ebene kontrollieren müssen, ob es funktioniert. In dem Moment, wo sie kontrollieren, ob es funktioniert, funktioniert es nicht mehr.

Natürlich sind wir Menschen ständig abgelenkt, weil wir uns in fortlaufend wechselnden Kontexten bewegen, auf die es sich zu fokussieren gilt. Da draußen passiert etwas und wir richten unsere Aufmerksamkeit darauf. Das ist dann echte Ablenkung, durch die etwas tatsächlich spontan zum Verschwinden gebracht wird. Nämlich bestimmte Gedanken über etwas, das in einem anderen Kontext relevant ist.

Wir können uns aber nicht zwingen, uns abzulenken. Versuchen wir „jetzt mal nicht an hellblaue Elefanten zu denken“. Was passiert? Wir denken an hellblaue Elefanten, weil aktive Negation nicht funktioniert. Jetzt kann der/die Klient/in versuchen, an lila Schweine zu denken, damit er/sie nicht an hellblaue Elefanten denken muss. Das ist alles okay. Es kann auch funktionieren, solange der betreffende Mensch nicht überprüft, ob es funktioniert. In dem Moment, wo er überprüft, ob es funktioniert, funktioniert es nicht mehr. Über diese Kontrolle des Denkens oder über den Versuch der Herstellung von bestimmten Gedanken oder das zum Verschwinden bringen von bestimmten Gedanken schaffen Klientinnen und Klienten sich einen „Gedankenstrudel“. D.h., sie kreisen gedanklich um dasselbe Thema, in demselben Kontext, mit derselben Art und Weise, also derselben Form. Das machen Menschen manchmal 50 Jahre lang. Das sind dann Lösungsversuche die ebenso lang scheitern.

Um es mit Einstein auszudrücken: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ Oder anders ausgedrückt: Kein Problem kann durch dieselbe Art und Weise des Denkens gelöst werden, durch die es entstanden ist. Der Lösungsansatz ist also nicht, das Denken zu ändern. Der Lösungsansatz liegt auf einer anderen Ebene, und zwar der Form. Es geht also darum, den Umgang mit dem Denken zu ändern.

Ziel für die Arbeit mit Klientinnen und Klienten ist somit, einen Zustand zu erreichen, in welchem diese die eigenen Gedanken einfach fließen lassen können, ohne zu versuchen, etwas Bestimmtes zu denken oder nicht zu denken. Das ist für sie nicht einfach und setzt eine ständige (Selbst-)Beobachtung voraus.

In den 70er und 80er Jahren gab es in der Psychotherapie das Oberthema Loslassen. Akzeptanz ist es momentan, wie z.B. in der sogenannten Acceptance Commitment Therapy (ACT). Wenn Klienten versuchen, ein Loslassen zu erzwingen, werden sie daran scheitern. Auch Akzeptanz kann man nicht herstellen. Stattdessen stellt Akzeptanz sich ein.

Es empfiehlt sich daher, weniger mit dem Begriff des Loslassens zu arbeiten. Das Motto, „Ich lasse es los, dann verschwindet es,“ ist ein Trugschluss. Der deutlich bessere Begriff ist „stehen lassen“. Coaches können ihren Klientinnen und Klienten den Satz anbieten: „Ich lasse die Gedanken stehen (oder fließen).“ Der/die Klient/in akzeptiert erst einmal, dass er/sie das ist, der/die das denkt. Das ist die Voraussetzung von allem.

Das Denken ist ein Teil von uns Menschen – auch das Denken über unsere eigenen Gedanken. Entscheidend ist nicht, was wir denken, sondern wie wir damit umgehen, wie wir auf uns selbst reagieren.

Zusammenfassend lässt sich das Gedankenflussmodell folgendermaßen darstellen (s. Abb.):

Gedankenflussmodell
Abb. 1: Gedankenflussmodell

Der Fluss symbolisiert den Strom meiner Gedanken, in denen ein Strudel entsteht, weil ich mich mit meinen zum Teil hinderlichen Gedanken im Kreis drehe. Der Gedankenstrudel kann hinter einer Barriere entstehen (so wie in einem richtigen Fluss hinter Steinen ein kleiner Strudel entsteht, wenn das Wasser darum fließt). Die Barriere symbolisiert bestimmte Gedanken:

  • Ich muss!
  • Ich darf nicht!

Dadurch entstehen diverse Kontroll- und Verhinderungsgedanken. Die beiden Personen in der Abbildung symbolisieren die Positionen/Standpunkte, die eingenommen werden können.

  • Entweder bin ich mitten im (Gedanken-)Fluss und verwechsle mich mit meinen Gedanken
  • oder ich stehe neben dem Fluss und schaue auf meine Gedanken (Meta-Ebene, Bewusst-Werdung). Indem ich denke „es denkt mal wieder“, gewinne ich hilfreiche Distanz zu meinen eigenen Gedanken, kann diese vorbeifließen lassen und mich selbst beim Denken beobachten. Dann habe ich auch die Möglichkeit, in den Fluss hereinzuspringen und mir einen Goldnugget (einen hilfreichen Gedanken, eine gute Idee) herauszuholen, wenn ich das möchte, also meine Distanziertheit temporär zielorientiert aufzugeben.

Die Anwendung im Coaching

Eine definitive Antwort oder Anleitung, wie die Arbeit im Coaching aussehen kann, gibt es nicht, stattdessen ist sie für jede Person, teilweise sogar für jede Situation, verschieden. Für Coaches ist es wichtig zu verstehen, dass jeder Mensch die Fähigkeit, Gedanken fließen zu lassen, schon beherrscht. In vielen Kontexten und bezüglich der meisten Themen ist jede/r im Stande, das zu tun. Der Gedankenstrudel dreht sich zumeist nur um ein einzelnes Thema. Im (Selbst-)Coaching kann das Gedankenflussmodell als ein Impuls eingesetzt werden, der dazu anregt, den Umgang mit den eigenen Gedanken auf eine bestimmte Art und Weise zu üben.

In der visualisierten Form dient das Gedankenstrommodell als eine Form von Psychoedukation: Dem Klienten bzw. der Klientin werden die Hintergründe des Modells erklärt und es hilft dabei, das eigene Verhalten zu verstehen. Das Ziel, seine Gedanken einfach ziehen lassen zu können, ist vergleichbar mit einem Schwebezustand, einem Zustand der „gesunden Gleichgültigkeit“ oder auch der „absichtsvollen Absichtslosigkeit“. Der Weg dorthin sieht für jeden unterschiedlich aus und so kann Coaches empfohlen werden, dass sie ihren Klientinnen und Klienten verschiedene Methoden und Lösungsansätze anbietet, bis einer davon hilfreich ist.

Praxisfall

In einem konkreten Coaching-Fall kam eine sehr überarbeitete Klientin mit dem primären Auftrag, in ihrer Arbeit mehr Ordnung zu schaffen. Aus Chaos sollte also Ordnung werden. Im weiteren Prozess stellte sich außerdem heraus, dass sie Schwierigkeiten hatte, Entscheidungen zu treffen. Teil des Problems war das Verharren in den vielen negativen Gedanken, die zum Teil zeitlich weit zurückragten. Bei genauerer Betrachtung wurde deutlich, wie viel Kraft und Energie die Klientin dieses Verharren im „Gedankenstrudel“ seit langem kostete. Im weiteren Prozess ging es um die Entscheidung, aus dem Strudel hinaus an das Ufer zu gehen, um die vorbeiziehenden Gedanken beobachten/stehen lassen zu können. Als elementar wichtig stellten sich dabei zwei Fragen heraus:

Wozu ist es gut, ans Ufer zu gehen? (Tipp: Coaches sollten mehrfach nachfragen: Wozu noch? Zudem gilt es, Klientinnen und Klienten Zeit zu geben und den Prozess zu entschleunigen.) Die Klientin konnte sehr viele Wozu-Punkte aufzählen. Dieses erhöhte die Attraktivität des Ziels deutlich. Die zweite wichtige Frage lautete: „Wer entscheidet es?“ Die Antwort „Ich“ machte deutlich, dass sie wieder in ihre Entscheidungskompetenz kam. So kamen mehrere neue Perspektiven zusammen. Sie konnte sowohl einen anderen Umgang mit ihren Gedanken entwickeln als auch mit sich als Mensch. Außerdem erlebt sie sich wieder als selbstwirksam. Der geänderte Umgang mit bzw. die andere Haltung zu den eigenen Gedanken, setzte Ressourcen frei, welche auf die Erreichung anderer Ziele (z.B. mehr Entspannung, individuelle Freiheit, mehr Lebensfreude, mehr Spaß an der Arbeit) einzahlten.

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