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Portrait

Interview mit Dr. Joey-David Ovey

Experten coachen – im Spannungsfeld von Autonomie und Steuerung

Coaching findet in ganz unterschiedlichen Kontexten statt. Diese sind mit spezifischen Bedingungen verbunden, die ein Coach bei seiner Arbeit nicht ignorieren sollte, wie Dr. Joey-David Ovey weiß. Im Interview gibt der Coach und Organisationsberater Einblicke in seine Arbeit: Was bedeutet es, wenn Expertinnen und Experten innerhalb einer Organisation einen hohen Grad an Autonomie genießen? Der Blick richtet sich zudem auf die öffentliche Verwaltung. Sie ist starkem Reformdruck ausgesetzt und zugleich mit dem Anspruch konfrontiert, verlässlich zu sein. Welche Herausforderungen bedingt dies?

18 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2022 am 16.11.2022

Ein Gespräch mit David Ebermann

Seit 2015 sind Sie als selbstständiger Organisationsberater und Coach tätig. Verbinden Sie Coaching und Organisationsentwicklung im Rahmen Ihrer Aufträge?

Coaching und Organisationsentwicklung sind zwei unterschiedliche Felder, die sich gegenseitig ergänzen können. Mein Schwerpunkt in der Organisationsentwicklung ist das Thema Change und ich glaube, der Erfolg entsprechender Vorhaben hängt maßgeblich von den Entscheidungsträgern ab, die die Veränderungen angehen wollen. Neben dem Change-Management spielt daher auch Change-Leadership eine wichtige Rolle. Aus diesem Grund bietet es sich durchaus an, neben den Interventionen in der Gesamtorganisation, die in den Bereich der Organisationsentwicklung fallen, auch die handelnden Teams und Individuen mittels Coaching zu begleiten.

Coaching kann in Change-Prozessen sehr wertvoll sein, um z.B. an der Präsenz der Entscheidungsträger innerhalb der Projekte zu arbeiten und ihnen dabei zu helfen, die Dynamik in der Organisation besser zu beachten. Dasselbe gilt für die Leitungsteams, die im Coaching reflektieren können, wie sie sich kollektiv präsentieren. Organisationsentwicklung und Coaching können somit sehr gut verbunden werden, indem der Dreisatz „Individuum, Team und Organisation“ umfänglich bearbeitet wird. Ob ich Coaching und Organisationsentwicklung verbinde, ist auch vom jeweiligen Auftraggeber abhängig. Als Coaches und Berater müssen wir uns stets die Frage stellen, worin unsere Rolle im jeweiligen Auftrag besteht. Das ist Teil der beraterischen Kompetenz.

Sie arbeiten u.a. mit internationalen Teams. Welche Anliegen führen diese zu Ihnen ins Coaching?

Ich würde diesbezüglich zwei Arten von Teams differenzieren: Leitungsteams, die aus Personen aus unterschiedlichen Nationen zusammengesetzt sind, und Teams, die in einem internationalen Kontext arbeiten. Anlass der Coachings sind in der Regel Veränderungsprozesse. Dabei kann es sich um die Zusammensetzung eines neuen Teams handeln, z.B. im Rahmen von Projekten. Hier könnte das Ziel darin bestehen, eine gemeinsame Identität zu finden. Ebenso kann sich das Coaching um die Frage drehen, wie sich die angestrebte Veränderung vorantreiben lässt, während man innerhalb verschiedener Grenzen in der Organisation navigieren muss. Auch der Wunsch eines Leitungsteams, sich neu zu positionieren und die Performance zu steigern, kann ein Coaching-Anlass sein.

Team-Coachings werden häufig als besonders komplex beschrieben. Erhöht die Perspektive der Interkulturalität die Komplexität zusätzlich?

Team-Coaching ist komplex, keine Frage. Ich denke aber nicht, dass Interkulturalität die Komplexität zwingend erhöht. Jedes Individuum als Teil eines Teams bringt etwas ein und hat eine bestimmte Sicht auf die Dinge, die von den eigenen Erfahrungen und der eigenen Biografie geprägt ist. Alle Teammitglieder haben ihre Geschichte und wollen gesehen werden. Interkulturalität kann bedeuten, dass gewisse Annahmen im Team nicht von allen geteilt werden. Es gibt aber auch andere identitätsbezogene Merkmale, die unsere Vorstellungen und Erwartungen an das Verhalten anderer prägen: beispielsweise die Faktoren Geschlecht, Klasse, sexuelle Orientierung und Identität oder Religion. All diese Faktoren können die Dynamik in einem Team bewusst oder unbewusst beeinflussen. Interkulturalität ist ein weiterer Faktor, sollte aber nicht als Problem verstanden werden. Team-Coaches haben die Aufgabe, hier genau hinzuhören, Annahmen aufzudecken und das Team in die Lage zu versetzen, sich Fragen zu stellen, die zur Integration der individuellen Geschichten in ein Gesamtnarrativ beitragen. Das Coaching sollte das Team also dazu befähigen, Komplexität besser zu handhaben und als Ressource zu nutzen. Teams benötigen hierbei viel Ambiguitätstoleranz, die gewonnen werden muss, wenn sie erfolgreich sein möchten – vor allem in Veränderungskontexten.    

Könnten Sie anhand eines Beispiels aus Ihrer Praxis illustrieren, wie das Coaching eines internationalen Teams aussieht?

In den letzten Jahren arbeitete ich mit einem internationalen Team im IT-Umfeld. Es ging um eine Softwareharmonisierung in vielen Entitäten weltweit. Um dieses Veränderungsprojekt zu managen, wurde ein Leitungsteam zusammengestellt. Ein Teammitglied kam aus der IT, eines aus dem Prozessmanagement und eines repräsentierte die Businessseite. Zusätzlich wurde der Projektleiter, der aus einem externen Beratungsunternehmen kam, in das Team aufgenommen. 
Das C-Level war der Meinung, dieses Team spreche nicht mit einer Stimme. Die Losung lautete: „We are one team.“ 

Die Aufgabe im Team-Coaching bestand nun darin, dieses Motto umzusetzen. Im Coaching teilte ich beispielsweise meine Beobachtungen mit, die ich in Meetings anstellte, und arbeitete in mehreren Sessions mit der Gruppe. Letztlich ging es sehr intensiv um die kollektive Identität als Leadership-Team. Wir lösten viele unterschiedliche Fragen – darunter auch einige Brot-und-Butter-Aspekte. Man würde sie eigentlich im regulären Projektmanagement vermuten. Wir erarbeiteten eine Definition von Erfolg, haben uns auf einen Veränderungsansatz verständigt und stellten Regeln der Zusammenarbeit auf. Wir erkundeten die Schnittstellen zur nächsten operativen Ebene, legten fest, wie der Informationsfluss innerhalb des Leitungsteams aussehen sollte und setzten eine entsprechende Meetingstruktur auf. 

Viel wichtiger und Voraussetzung für die Lösung der genannten Punkte war jedoch die Frage, wie sich das Team zeigen will und wie es sich zeigen müsste, um erfolgreich zu sein. Hierbei stießen wir auf die Bedeutung der Organisationsgrenzen. Die Mitglieder kamen aus unterschiedlichen Organisationsbereichen und in einem Fall gar aus einem externen Unternehmen. Zudem stammten sie aus verschiedenen Nationen und arbeiteten von drei Standorten aus im Remote-Setting. Das Coaching gab Raum, innezuhalten, um angstfrei und offen zu erkunden, was jeder Einzelne von der Zusammenarbeit erwartete und wie mit dem vom C-Level herangetragenen Anspruch, trotz dieser Grenzen ein Team zu bilden, umgegangen werden sollte. Man kam zu dem Schluss: Um von einer Gruppe zu einem Team zu werden, müssen wir über unseren Teambegriff sprechen und darüber, wie wir innerhalb der Organisationsgrenzen navigieren können. Dies hat viel gelöst und den Weg dafür bereitet, dass das Team heute tatsächlich mit einer Stimme spricht.      

Dr. Joey-David Ovey

Dr. Joey-David Ovey © Foto: Katja Illner, fotodok.

Als Brite in Deutschland haben Sie selbst einen internationalen Hintergrund. Hilft Ihnen dies bei der Arbeit mit international zusammengesetzten Teams?

Ob mir das gefällt oder nicht: Mir wird eine besondere Kompetenz zugesprochen, weil ich aus einem anderen Land komme und weil Englisch meine Muttersprache ist. Ich hadere manchmal damit, weil es viele Menschen gibt, die ebenfalls über die erforderliche Kompetenz verfügen, was man ihnen aber nicht so leicht abnimmt wie mir. Ich habe das Privileg, dass ich aus dem „richtigen“ Land komme. Ich stelle mir aber die Frage, ob das tatsächlich relevant ist, denn wir alle bringen biografische Aspekte ein, die wir als Ressource nutzen können. Dennoch denke ich, dass die Fähigkeit, mit Neuem und Andersartigem umgehen zu können, eine wertvolle Ressource ist, die ich mir in meinem Leben angeeignet habe: als Arbeiterkind in einem akademisch geprägten Umfeld, als Kind einer alleinerziehenden Mutter mit Migrationshintergrund, als schwuler Mann in einer sehr heterosexuellen Welt sowie als Migrant, der mit zwei Sprachen und in zwei Kulturen lebt. All dies schärft die Fähigkeit, Annahmen, Worte, Bilder und Symbole zu hinterfragen sowie Nuancen herauszuhören und nicht alles für bare Münze zu nehmen. Sicher hilft mir dies, meine helfende Haltung als Coach und Berater am Rande eines Teams oder einer Organisation zu gestalten.    

Viele Ihrer Coachings finden in Expertenorganisationen statt. Was unterscheidet diese von anderen Unternehmen und mit welchen spezifischen Kontextbedingungen und Klientenanliegen sind Coachings in diesem Feld verbunden?

In Expertenorganisationen stellen hochspezialisierte Expertinnen und Experten die Produkte bzw. Dienstleistungen bereit. Das ist z.B. in Hochschulen, Kliniken, Fachämtern, Schulen, Gremienorganisationen, Unternehmensberatungen oder Rechtsanwaltskanzleien der Fall. Es gibt einige Charakteristika, die Expertenorganisationen von anderen Organisationen unterscheiden. Das ist zum einen die große Bedeutung des Fachwissens. Zum anderen besteht ein hoher Grad an inhaltlicher und administrativer Autonomie – Regularien werden von den Handelnden häufig als Korsett empfunden. 

Denken wir an Hochschulen: Es ist in der DNA der Professorinnen und Professoren, ihr Wissen erweitern und kommunizieren zu wollen. Sie haben die Freiheit der Forschung und Lehre verinnerlicht. Diese Haltung übertragen sie nicht selten mental auf die administrativen Prozesse, sodass es zu Konflikten mit der Hochschulverwaltung kommen kann. Als Folge des hohen Autonomiegrades besteht häufig eine schwache strategische Organisationsführung. Gestaltungsmacht liegt in starkem Maße bei den Expertinnen und Experten und weniger bei der Hierarchie. Macht ist damit dezentral verteilt. Führung und Identität sind bei den Fachcommunitys zu finden. Diese Aspekte gilt es im Coaching zu berücksichtigen. 

In den Coachings geht es häufig um Fragen der persönlichen Identität und der Rollenklärung. Wenn eine Person eine Führungsrolle übernimmt, geht dies oft mit der Frage einher, was es bedeutet, eine Managementtätigkeit zu bekleiden, die lange als wesensfremd empfunden wurde. Es wird dann erarbeitet, wie die Rolle ausgefüllt werden kann, ohne die eigene Identität anzugreifen, sondern sie zu ergänzen. Wenn der Versuch, in einer Organisation Managementansätze einzuführen, in der Vergangenheit kläglich gescheitert ist, kann dies daran liegen, dass es dort einen „Kampf“ zwischen dem fachlichen und dem administrativen Bereich gibt. Das hängt mitunter auch mit einer Entweder-oder-Mentalität zusammen. Hier hilft es, einen Schritt zurückzugehen, um zu erkennen, dass beide Logiken integrierbar sind.    

Ein wesentliches Spannungsfeld in Expertenorganisationen lautet demnach Autonomie vs. Steuerung.

Ja. Expertinnen und Experten haben ein starkes Autonomiebedürfnis. Die Verwaltung reagiert darauf in ihrer Hilflosigkeit häufig mit noch mehr Regularien. So kommt man aber nicht zu einem zielführenden Dialog in der Organisation. Beide Logiken müssen ihren Platz in einem Miteinander finden. 

Ein Praxisbeispiel: Ich coachte die Leiterin einer Fachabteilung. Auf fachlich-inhaltlicher Ebene spürte sie eine sehr starke Leidenschaft für ihre Arbeit. Nebenbei bemerkt: Im Coaching und in den Organisationswissenschaften wird gerne vom Purpose gesprochen. Viele Unternehmen könnten diesbezüglich etwas von Expertenorganisationen lernen, denn diese sind voller Überzeugungstäter, die wirklich für ihr Fach brennen. Im Fall der Abteilungsleiterin war das genauso. Anlass des Coachings war ihr Wunsch, strukturierter zu arbeiten. In der Zusammenarbeit bemerkte ich bei der Klientin ein innerliches Hadern mit Regularien, die sie als Einschränkung empfand. Sie wollte ihre fachliche Arbeit leisten, um andere Menschen für ihr Feld zu begeistern. Den Wert der Regularien sah sie dabei nicht. Die Verwaltung beharrte jedoch auf Regeln: Der Konflikt war vorprogrammiert. 

Letztlich galt es, zunächst auf beiden Seiten innezuhalten und zu erkennen, worin der Wert der jeweils anderen Seite besteht. Sowohl in der Administrationslogik als auch in der Logik der Fachlichkeit gibt es einen Sinn, was beiderseitig anzuerkennen war. Gleichzeitig musste die Art und Weise der Kommunikation miteinander reflektiert werden.

Sie coachen in öffentlichen Verwaltungen. Welche Rolle spielt hier der Druck, gleichzeitig verlässlich und innovativ sein zu müssen?

Die öffentliche Verwaltung hat eine eigene Handlungs- und Steuerungslogik. Für diese Andersartigkeit gibt es sehr gute Gründe. Regelverbundenheit, Unpersönlichkeit der Aufgabenerfüllung, hierarchische Arbeitsteilung, Aktenmäßigkeit – all dies zielt auf den Dienst am Gemeinwohl. Hierbei steht die Verwaltung tatsächlich vor der Erwartung, innovativ zu handeln und gleichzeitig reibungslos zu funktionieren. Es geht schließlich um die Aufrechterhaltung der Staatsfunktionalität. Zieht man einen Vergleich mit anderen Organisationsformen, wird deutlich, welch große Herausforderung das ist.

 Eine gesunde Fehlerkultur oder Agilität sind Ansätze, die in der Verwaltung durchaus erprobt werden. Aber welche Erfolgsaussicht haben diese Versuche, wenn alles justiziabel ist und die Rechtssicherheit daher an oberster Stelle zu stehen hat, wenn Fehler auf starkes öffentliches Interesse stoßen und die Presse über sie berichtet? Hinzu kommt der Finanzdruck, denn die Haushaltsordnungen sehen ein Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit vor. Diese Aspekte sind mit einem immensen Druck für Führungskräfte verbunden, die Führung bzw. Management zudem in vielen Fällen nicht gelernt haben, sondern über die Fachlichkeit aufgestiegen sind. Coaching kann den handelnden Personen behilflich sein, diese Herausforderung zu bewältigen, indem die vorhandenen Aufgaben besser strukturiert werden, eine Stabilisierung von Führung ermöglicht wird und letztlich Gestaltungsmöglichkeiten gewonnen werden.

Dr. Joey-David Ovey

Dr. Joey-David Ovey © Foto: Katja Illner, fotodok.

Geht es im Coaching mit Führungskräften öffentlicher Verwaltungen auch um den Umgang mit der möglichen Angst, Fehler zu begehen?

Es kann darum gehen, denn sehr großer Druck ist potenziell geeignet, Handlungsunfähigkeit zu begünstigen. Das öffentliche Dienstrecht spielt hierbei eine Rolle und stellt ein Merkmal dar, das die Verwaltung von Wirtschaftsunternehmen unterscheidet: Man muss zwingend andere einbinden, die politische Ebene berücksichtigen, es stehen wenige Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Zwar geht es in Coachings mit Führungskräften in den Verwaltungen oft um Gestaltungsfragen: Welche Strategie wäre sinnvoll, um das Projekt zum Erfolg zu führen? Wie kann ich Mitstreiter dafür gewinnen und meine Zielgruppe erreichen? Wie kann ich mich positionieren? Diese Fragestellungen sind ähnlich wie in Wirtschaftsunternehmen. Anders sind aber Fragen wie: Wie bleiben wir motiviert unter dem Druck der Haushalts- und Handlungsvorgaben? Der Kontext ist daher ein anderer und Coaches sollten ein Auge und ein Bewusstsein für die Besonderheiten der öffentlichen Verwaltung haben, wenn sie in dieser wirksam werden und gute Arbeitsallianzen schmieden wollen. Der Versuch, der Verwaltung bestimmte Ansätze aufzuzwingen, weil diese in Wirtschaftsunternehmen funktionieren, ist zum Scheitern verurteilt.

Welche Rolle spielt das Thema Beziehungsarbeit als Gegenstand von Coachings in der öffentlichen Verwaltung?

Das ist tatsächlich ein sehr wichtiges Thema. In einer komplexen Welt entdecken wir die Bedeutung von Beziehungsarbeit überall wieder. In der öffentlichen Verwaltung ist Beziehungsarbeit besonders bedeutsam, da sie sehr komplexe Strukturen mit vielen Stakeholder-Interessen aufweist. Gleichzeitig herrscht in der Verwaltung aufgrund der Hierarchie aber häufig eine große Distanz zwischen den Menschen. Ich sprach mit einem Klienten, der als Führungskraft in einem Ministerium arbeitet, über die Beziehungsgestaltung mit seinem Team und er fragte mich: „Ist es eigentlich in Ordnung, wenn ich meine Mitarbeiter frage, wie es ihnen privat geht?“ In anderen Kontexten ist es für Führungskräfte völlig normal, die Teammitglieder relativ gut zu kennen und beispielsweise zu wissen, was ihre Hobbys sind, wo sie wohnen etc. In einigen Teilen der Verwaltung ist die Distanz meiner Erfahrung nach tendenziell größer. Als Coach sollte man den Vertrauens- und Beziehungsaufbau nicht als nachrangig einstufen, um z.B. vorschnell in Projekte und Transformationsprozesse einzusteigen, denn diese sind ohne ein belastbares Vertrauen zwischen den Akteuren kaum erfolgreich umzusetzen.

Bevor Sie sich als Coach selbstständig machten, waren Sie 15 Jahre für Unternehmensberatungen tätig und befassten sich schwerpunktmäßig mit der Reform öffentlicher Verwaltungen. Spielte Coaching hier schon hinein?

Zu Beginn nicht. Meine Tätigkeit umfasste u.a. Organisationsuntersuchungen und -evaluationen sowie den Aufbau von Controlling-Systemen in der Verwaltung. Der Bezug zum Coaching kam etwas später hinzu – im Zuge eines Projekts innerhalb einer Expertenorganisation, genauer gesagt in einem wissenschaftlichen Institut. Als Auftraggeber fungierte der Träger des Instituts, der sich wiederum aus mehreren Institutionen zusammensetzte. Es handelte sich also um eine komplexe Ausgangslage. 

Auftrag des Instituts war es, Gutachten anzufertigen, die allerdings nur selten rechtzeitig fertiggestellt wurden. Unser Auftrag bestand deshalb darin, das Institut auf seine Effizienz hin zu untersuchen. Als Projektleiter sprach ich mit dem kaufmännischen Geschäftsführer des Instituts. Er sagte: „Super, dass Sie da sind. Ich habe mir schon lange eine Organisationsuntersuchung und eine Veränderung gewünscht.“ Dann betrat der wissenschaftliche Direktor den Raum und sagte: „Ich wollte die Untersuchung überhaupt nicht durchführen lassen.“ Ich musste dann feststellen, dass die notwendigen Konzepte für den Umgang mit solchen Konflikten im Werkzeugkoffer eines Unternehmensberaters nicht zu finden sind. 

Aufgrund dieser Erfahrung begab ich mich auf die Suche nach einer passenden Weiterbildung und wurde bei der WIBK fündig. Zunächst widmete ich mich der systemischen Organisationsberatung und anschließend dem Coaching. In der Folgezeit führten wir Organisationsentwicklungsprojekte durch, in denen Coaching ein Bestandteil war, u.a. in der Deutschen Nationalbibliothek. Das waren spannende Projekte, mit denen in den Organisationen eine Antwort auf die Herausforderungen der Digitalisierung gesucht wurde. Hier gab es erste praktische Berührungspunkte mit dem Coaching und ich entwickelte eine immer stärkere Leidenschaft dafür.

War diese Leidenschaft der Grund, den Schritt in die Selbstständigkeit als Coach zu gehen?

Sicherlich. Ich war damals Bereichsleiter bei der Prognos AG. Als Führungskraft eines Teams hatte ich nicht die Zeit, in dem Umfang zu coachen, den ich mir vorstellte. Als ich in die Selbstständigkeit ging, erfuhr ich starke Unterstützung seitens des Geschäftsführers bei Prognos. Dafür bin ich sehr dankbar, denn dies ermöglichte mir einen weichen Übergang in die Selbstständigkeit, was nicht selbstverständlich ist. Noch heute arbeite ich mit dem Unternehmen zusammen und werde als Kooperationspartner angefragt, wenn Projekte mit Coaching-Bedarf anstehen.

Heute sind Sie Professional Coach im Deutschen Bundesverband Coaching e.V. (DBVC) und leiten dessen Fachausschuss „Coaching in öffentlichen und sozialen Unternehmen“. Worin bestehen dessen Aufgaben und Ziele?

Der Fachausschuss wurde vor drei Jahren von Dr. Christof Schneck gegründet. Das Feld der Verwaltungen und Sozialunternehmen, das Bereiche wie das Gesundheitswesen, Bildung und Kultur umfasst, ist systemrelevant. Allein in der öffentlichen Verwaltung sind fünf Millionen Menschen beschäftigt. Mit dem Fachausschuss möchten wir die Spezifika von Coaching in diesem Feld herausarbeiten und relevante Kompetenzen und Konzepte im DBVC bündeln und weiterentwickeln, um einen Beitrag zur Professionalisierung von Coaching in Verwaltungen und sozialen Unternehmen zu leisten. 

Dabei beschäftigen uns insbesondere folgende Fragen: Wie können die Organisationen Coaching einführen und etablieren? Was bedeutet es und was setzt es voraus, als Coach in diesem Feld wirksam zu sein? Wie müssen Coaches hier angesichts der spezifischen Kontextbedingungen, über die wir gesprochen haben, auftreten? Den Fachausschuss verstehen wir als Dialogpartner und Kompetenzzentrum in diesem Feld. Wir suchen daher den intensiven Austausch mit Akteuren aus entsprechenden Organisationen. Auf dieser Grundlage können wir gemeinsam die Coaching-Praxis vorantreiben.

Im Juni 2021 veranstaltete der Fachausschuss ein Dialogcamp, in dessen Rahmen Organisationsvertreter aus ihrer Praxis berichteten. Zu welchem Fazit sind Sie gekommen?

Das Dialogcamp fand digital statt. Es nahmen rund 60 Personen teil – je zur Hälfte Coaches aus dem Verband und Gäste aus Verwaltungen und Sozialunternehmen. Es gab verschiedene Workshops, die sektoral aufgegliedert waren: Coaching in Hochschulen, im Gesundheitswesen, in Schulen oder in kirchlichen Organisationen, um nur einige Beispiele zu nennen. Besonders wichtig war für uns das übergeordnete Thema Transformation und Reformdruck. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle Coaching vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen bzw. im Kontext von Transformationsprozessen spielen kann. Das Fazit lautet, dass Coaching ein zentrales Instrument darstellt, um Führungskräfte, die im Rahmen dieser Prozesse in der Verantwortung stehen, auf individueller Ebene zu begleiten. 

Hier sind wir wieder bei dem Punkt, dass Coaching eine sinnvolle Ergänzung von Organisationsentwicklung darstellen kann. Der Transformationsdruck kann von den handelnden Personen als erhebliche Belastung erlebt werden. Allein die Frage, wie ein Weg gefunden werden kann, mit dem Druck umzugehen bzw. die Transformationsprozesse erfolgreich zu gestalten, kann befreiend wirken. In der Konsequenz heißt das, es muss innegehalten werden, um der Reflexion, der Beziehungsarbeit sowie der Ressourcenorientierung Raum zu geben und damit Stabilisierung zu ermöglichen, bevor in die Veränderungsarbeit eingestiegen werden kann. Coaches müssen hier also auch Erwartungsmanagement betreiben und Temposensibilität fördern. Man kommt auch im vierten Gang ins Ziel. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung wird von der Notwendigkeit guter Führung in der öffentlichen Verwaltung gesprochen. Momentan gibt es viel Bewegung. Das zeigt mir die große Relevanz des Themas und dass wir mit unserem Angebot, das sich sowohl an die Coaches im Verband als auch an die Coaching-Verantwortlichen in den Organisationen richtet, zur passenden Zeit kommen.

Sie arbeiten auch als Supervisor für Coaches. Welche Bedeutung messen Sie der Supervision im Coaching bei?

Supervision ist ein Instrument der Qualitätssicherung und ein Zeichen von Professionalität. Coaches betreiben häufig Intervision in Gruppen. In vielen Fällen bestehen diese Gruppen aus Personen, die zusammen eine Ausbildung absolviert haben. Das ist auch sehr wertvoll. Ich finde aber, dass die Supervision mit jemandem, der einen anderen Blick mitbringt, ebenfalls sehr hilfreich sein kann. Sie eröffnet die Chance, eine Metaperspektive auf das System – bestehend aus Klient, Coach und Organisation – und die Dynamiken einzunehmen, die innerhalb dieses Systems wirken. 

Supervision schafft Raum für die Reflexion wesentlicher Fragen: Wie trete ich als Coach auf? Was beeinflusst meine Identität als Coach innerhalb der Dynamik zwischen mir und meinem Klienten? Welche Rolle spielen hier Projektion, Übertragung und Gegenübertragung? Wie wirken sich diese Aspekte auf meine Wirksamkeit als Coach aus? 

Nicht selten geht es um die Gestaltung der Coach-Klient-Beziehung und u.a. um die Frage der professionellen Distanz. Coaches wollen mit ihrer Arbeit legitimerweise Geld verdienen. Gleichzeitig spielt Beziehungsarbeit im Coaching eine große Rolle. Dies kann zur oft unbewussten Gefahr der Kollusion führen. Supervision kann für diese und weitere Gefahren die Augen öffnen und der Erkundung dienen, wie es um die helfende Haltung als Coach bestellt ist. Das ist wertvoll, um die Integrität des Coachs aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus stellt die Supervision eine kreative Interaktion dar, in der neue Ideen entstehen können. Im Endeffekt ermöglicht sie eine frische Perspektive auf die Praxis. 

Ich halte es daher für sehr wichtig, dass Coaches sich regelmäßig supervidieren lassen und dies als Teil ihres professionellen Selbstverständnisses begreifen. Ich nehme alle zwei bis drei Monate Supervision in Anspruch.  

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