Ethik

Coaching für „Heuschrecken”?

9 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 10 | 2006

Moralisch zweifelhaft anmutende Geschäftspraktiken werden seit der entsprechenden Analogie von Franz Müntefering inzwischen reflexartig mit dem gefräßigen Treiben von Heuschreckenschwärmen verglichen. So nimmt es nicht Wunder, dass dieses anschauliche Bild der Heuschrecke auch gerne dann verwendet wird, wenn die Bezüge derjenigen Konzernvorstände erhöht werden, die zuvor Sparmaßnahmen und Massenentlassungen durchgesetzt haben. "Instinktlos" - so lauten dann die harmlosen Kommentare.

Auf das Thema Coaching bezogen leiten sich daraus scheinbar ganz andere Fragen ab:

  • Darf man solche "Heuschrecken" coachen - oder muss man es gar?
  • Sind entsprechende Personen überhaupt coachbar?
  • Birgt ein Coaching wohlmöglich die Gefahr, das Treiben der "Heuschrecken" zu verschlimmern?

Alle diese Fragen scheinen berechtigt. Es gibt nur ein Problem dabei: Mit diesen und ähnlichen Fragen werden Annahmen impliziert, die an der Realität eines Konzernvorstandes und seinen Aufgaben vorbeigehen. Dies - und die daraus folgenden Konsequenzen für ein Coaching - soll im folgenden näher dargelegt werden.

Ein Vorstandsvorsitzender eines international tätigen Konzerns bewegt sich in einem komplexen Umfeld. Hinzu kommt, dass nicht nur das Umfeld komplex, sondern auch die Konsequenzen einer Entscheidung dramatisch sein können. Jede Handlung - und insbesondere auch jede Unterlassung - wird genauestens vom Umfeld beobachtet und (miss-)interpretiert. Die Arbeit der obersten Führungsebene eines Konzerns wird daher nahezu ausschließlich von strategisch-politischen Erwägungen dominiert. Dies ist für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Aus diesem Unverständnis resultiert dann zuweilen der Eindruck, hier werde nicht "richtig" gearbeitet oder nur Unsinn angerichtet. Auch dies kommt vor und soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Allerdings ist es i.d.R. eher so, dass Außenstehende schlichtweg nicht die Informationen haben, um sich ein differenziertes Urteil bilden zu können.

Der Kontext, in dem sich ein internationaler Konzern bewegt, wird vom Wettbewerb dominiert. Wettbewerb umfasst dabei nicht nur das Verhältnis zu äußeren Konkurrenten, sondern auch innerhalb des Unternehmens. Ein international tätiges Unternehmen ist im globalen Wettbewerb nur überlebensfähig, wenn die eigenen Leistungs- und Entwicklungsprozesse kontinuierlich verbessert werden. Für diese Aufgabe die Fähigkeit eines Unternehmens, sich auf zukünftige Entwicklungen frühzeitig einzustellen, von entscheidender Bedeutung. Da die strategische Ausrichtung eines Konzerns aber nicht binnen Monaten möglich ist, sondern - je nach Branche - z.T. Jahre erfordert, kommt man hier zwangsläufig an die Grenzen der Steuerung komplexer Systeme. Denn Niemand kann verlässlich die Zukunft vorhersagen. Genau dies wäre aber streng genommen notwendig, um einen Konzern erfolgreich zu leiten. Oder anders formuliert: Vorstandsvorsitzende haben wesentlich weniger Steuerungsmechanismen zur Verfügung, als es die Komplexität ihrer Aufgabe erfordert. Ein Teil ihrer Tätigkeit ist somit nahezu naturgemäß eine "Sündenbockfunktion". Natürlich sind nur wenige bereit, sich und anderen dies offen einzugestehen.

Zur erwähnten Komplexität sei ein (paradoxerweise) einfaches Beispiel bemüht: Alleine die monatliche Gehaltszahlungen eines "Multis" können mehre hundert Millionen Euro betragen – monatlich. Derartige Summen verdeutlichen, dass nahezu jedes größere Unternehmen abhängig von Banken ist - oder zumindest in Symbiose mit diesen existiert. Die daraus resultierenden gegenseitigen Abhängigkeiten sind weitreichend. So kann ein Unternehmen nur wirtschaftlich überleben, wenn seine Erträge im Wettbewerbsumfeld derart steigen, dass zumindest die anfallenden Kreditzinsen bedient werden können. Ist dies nicht der Fall, nehmen die Finanzinstitute selbst die Zügel in die Hand - so mancher Vorstand hat auf diese Weise schon seinen Platz räumen dürfen. Nun wäre es allzu leicht, den Banken alleinig die Schuld für die Notwendigkeit eines immerzu wachsenden Produktivitätszuwachses zu geben. Auch die Banken stehen untereinander im Wettbewerb. Für Banken und jedes andere Unternehmen gilt daher auch unabhängig von der Zinsfrage: Wer in diesem Wettbewerb nicht besteht, wird aufgekauft - oder durch den Markt liquidiert. Im Falle eines Aufkaufes (meist fälschlicherweise als "Fusion" bezeichnet), wird meist jedoch das aufgekaufte Unternehmen faktisch ebenfalls ausgelöscht. Spätestens hier wird deutlich, dass kein Wirtschaftssystem perfekt ist - und wohl auch nicht sein kann.

Große Unternehmen - und somit deren Vorstände - haben also die Wahl zwischen der Notwendigkeit von Expansion und der Angst vor Liquidation. Gleichzeitig zwingt sie diese Situation sich genau so zu verhalten, dass sie die Regeln fördern, die sie selbst unter Druck setzen. Auf diese Weise entsteht ein sich selbst aufrecht erhaltendes System. [Allerdings hat dieses System einen inneren Fehler: Jegliche Form von Leistungssteigerung, Produktivitätszuwachs, Effizienzerhöhung usw. erreicht irgendwann eine Grenze. Die technische Revolution der letzten Jahre hat zwar bei vielen Menschen den Glauben in ein unbegrenztes Wachstum entstehen lassen. Spätestens wenn sich dieser Glaube als irrtümlich erweist, werden jedoch drastische Änderungen notwendig werden.] In einem sich selbst aufrecht erhaltenden System ist es aber weder sinnvoll noch zweckdienlich, nach einem Schuldigen zu suchen. Hier zeigt jeder auf den anderen und dies in einem Kreis...

In diesem Sinne ist die "Heuschrecke" nicht das Kernproblem oder der Alleinschuldige. Vielmehr ist sie ein Symptom eines Systems, welches sich einer direkten Kontrollierbarkeit entzieht. Persönliches Fehlverhalten oder Unvermögen - auch dies kommt in Vorstandskreisen vor - soll damit nicht entschuldigt werden. Es greift aber andererseits auch zu kurz, wenn die immer deutlicher hervortretenden Negativeffekte eines globalen Wirtschaftssystems personifiziert werden. Oder wenn eben nur die negativen Effekte hervorgehoben und die positiven Effekte ausgeblendet werden. Hier ist eine differenziertere Wahrnehmung notwendig, wenngleich diese unbequem ist und einer Tendenz zur Simplifizierung entgegenläuft.

Auch dies sei anhand des bereits eingangs erwähnten Szenarios verdeutlicht: Wie ist es zu bewerten, wenn bekannt wird, dass ein für harte Sanierungen und Entlassungswellen bekannter Vorstand am Ende des Jahres einen Gehaltszuwachs im zweistelligen Prozentbereich erwarten kann? Um diese Frage nicht nur mit dem "moralischen Zeigefinger" zu beantworten, sondern zu einer differenzierten Betrachtung zu kommen, sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen:

  • So müsste man z.B. klären, warum die Arbeitnehmervertreter dem zugestimmt haben - denn ohne ihre Zustimmung ist in einem deutschen Konzern ein derartiger Vorgang nicht möglich.
  • Damit verbunden wäre die Frage, wie der Arbeitsvertrag entstanden ist und wie es begründet wurde, dass der Vertrag derartige Optionen enthält.
  • Ferner ist zu klären, warum ein solcher Gehaltszuwachs überhaupt publik wird. Hier liegt zumindest der Verdacht nahe, dass dies von internen Quellen absichtlich weitergeleitet wurde. Ursächlich dürfte dafür weniger moralische Entrüstung, als vielmehr ein (konzernübliches) Intrigenspiel sein.
  • Weiterhin wäre zu klären, ob der Vorstand durch die von ihm initiierten Entlassungen das Unternehmen wohlmöglich vor noch viel größerem Schaden bewahrt hat - wobei nicht vergessen werden darf zu klären, warum eine derart dramatische Situation überhaupt erst entstehen konnte.
  • Natürlich sollte in die Bewertung mit eingehen, warum ein Vorstand, der aus seiner Arbeit heraus eigentlich nur zu gut um symbolische Wirkungen wissen sollte, sich ein solche Blöße gibt.
  • Und letztlich kann und sollte man sich auch über die moralische Komponente Gedanken machen.

Dies sind unbequeme Fragen. Ein Coach würde sie aber thematisieren, um zu einer angemessen differenzierten Analyse beizutragen. Eine gute Grundhaltung dabei ist: "Es gibt keine Wahrheit – nur Versionen".

Schon diese wenigen Aspekte machen deutlich, dass moralische Entrüstung allein nicht zur Bewertung eines (nur scheinbar klaren) Sachverhalts ausreicht. Oftmals werden ethische Aspekte ohnehin nur als Beweggrund vorgeschoben, um Gefühle von Neid und Missgunst "moralisch einwandfrei" ausleben zu dürfen. Wer jedoch um die Anforderungen an die Rolle eines Vorstandsvorsitzenden eines internationalen Konzerns weiß, wird nicht so voreilig urteilen. Denn eine derartige Position bringt neben unbestrittenen Vorteilen zahlreich Unwägbarkeiten mit sich, die extrem sein können. Dies reicht von einer 70-Stunden-Woche ohne nennenswertes Privatleben bis zur Verfolgung durch die Presse und über anonyme Drohungen bis hin zu Entführungs-, Erpressungs- und Attentatsversuchen (wenn es bei Versuchen bleibt). Und oft betrifft dies nicht nur die eigene Person, sondern auch das gesamte familiäre Umfeld. Ein Leben unter solchen Bedingungen zu führen, kann nahezu zwangsläufig zu einer Entkoppelung von einem "normalen" Leben führen. Eine derartige systembedingte Entkoppelung kann wiederum hochproblematisch in der Ausübung des Berufes werden. Mit immer größerem Abstand zu anderen Menschen, verkommt das Schicksal von in Massen entlassenen Mitarbeitern zu einem rein verwaltungstechnischen Akt. Wer aus solchen Motiven handelt, übt seine Aufgabe fahrlässig aus. Zudem lässt sich rein verwaltungstechnisch oder technokratisch auf Dauer kein Unternehmen erfolgreich führen.

Berücksichtigt mal all diese Umstände, erscheint die Frage nach dem Coaching für "Heuschrecken" in einem anderen Licht. Personen, die sich in einer vorgerückten, verantwortlichen und oftmals entkoppelten Position befinden, sollten und müssen jede Form von Unterstützung in Anspruch nehmen, die ihnen bei der Bewältigung dieser Aufgabe hilft. Coaching kann eine Form von Hilfestellung dabei sein - gerade unter dem tendenziell immer anspruchsvoller werdenden Herausforderungen, die eine Führungskraft zu bewältigen hat.

All diese Umstände sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zuweilen schlichtweg Menschen gibt, die sich unanständig verhalten - und dass Anstand nicht verordnet werden kann. Ein Mangel an Moral kann individuell ausgeprägt sein. Ob Coaching in einem solchen Fall weiterhelfen kann, ist nicht vorherzusagen. Ein Mangel an moralischem Einfühlungsvermögen kann aber auch symptomatisch für die Schwächen eines ganzen Systems sein. Hier kann ein Coach als Helfer beim Perspektivenwechsel Unterstützung geben, wieder zu einer differenzierteren Wahrnehmung zu gelangen, und menschlich wie wirtschaftlich bessere Entscheidungen zu treffen.

Dieser Artikel gefällt Ihnen?

Dann unterstützen Sie unsere redaktionelle Arbeit durch den Abschluss eines Abonnements und ermöglichen Sie es uns, auch in Zukunft fundiert über das Thema Coaching informieren zu können.

Nach oben