Über Kontingenz und Konstruktivismus. Ein Wort zum 80. Geburtstag von Siegfried J. Schmidt

28.10.2020

Prof. Dr. Dr. Siegfried J. Schmidt ist Philosoph und Kommunikationswissenschaftler. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 lehrte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Schmidt gilt als Begründer der Empirischen Literaturwissenschaft und als Vertreter des Radikalen Konstruktivismus. Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit arbeitet er auch als Künstler im Bereich der visuellen und experimentellen Poesie. Am 28.10.2020 feiert Schmidt seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass schrieb Wegbegleiter Prof. Dr. Walter Schwertl folgende Zeilen.

In meinem Arbeitszimmer veredelt ein Meter Publikationen von Siegfried J. Schmidt (kurz SJS), bestehend aus Wissenschaft und Kunst, den Raum. Eine kleine Auswahl von 89 Büchern und unzähligen Publikationen – übersetzt in 23 Sprachen. Eines der Schriftwerke handelt von seinem Berg in den italienischen Dolomiten, dem Latemar. Wenn der große Denker auf die Terrasse tritt, begrüßen sich die Beiden. In seinem Bücherregal, wo Publikationen von Wittgenstein, Luhmann, Heinz von Foerster, Nietzsche und natürlich SJS erwartet werden, thronen diverse Jahresausgaben des Bauernkalenders. Der Herr Philosoph, der Herr Denker, der Herr Literat und dieser Bauernkalender! In einem seiner Werke schrieb er, wir müssen Kontingenz lernen.

Ein paar Jahre zurück

In meinem Kopf fand das immer wieder kolportierte Axiom, es sei nicht möglich, nicht zu kommunizieren, keine Akzeptanz. Erinnerungen und eigenes Nachdenken standen in Widerspruch dazu.

SJS: „Kommunikation kann man betreiben oder auch sein lassen.“ Dieser Satz hatte eine andere Farbe, er war grell erleuchtet: Ich bat um geistige Hilfe. Ohne professionalen Weihrauch zu verdampfen, frei von Hochnäsigkeit aber freundlich lächelnd kam die Erklärung. Ich war erleichtert. Rad fahren, nackt duschen, fromm beten oder innerlich fluchen – all dies und viel mehr durfte ich jetzt, ohne kommunizieren zu müssen. Ich hatte gelernt, nach Setzungen Ausschau zu halten. Nicht lange wartend lud ich SJS nach Frankfurt ein. Während des Abendessens erzählten wir uns Berührungspunkte, die uns näherbrachten. Die Kärntner und Salzburger Geschichten waren dem Spott eines Thomas Bernhard näher als einer der alle Jahre wiederkehrenden Aufrufe „liebt die Heimat“, abgedruckt im Bauernkalender. Kaum hatten der Philosoph und prominente Vertreter des Radikalen Konstruktivismus und der Praktiker Gemeinsamkeiten entdeckt, kündigte der Herr Denker das Ende des gepflegten Abendessens an. „Wir müssen Schluss machen, heute spielt Deutschland. Das muss sein!“ Kognitive Geschlossenheit – Konstruktionen – Wahrheit – Wirklichkeit – das bäuerliche Kärnten – das hochnäsige Salzburg – mein aktueller literarischer Favorit Thomas Bernhard und dann Angriff – Doppelpass – Tor!

Es gibt eine große Gemeinsamkeit. Wir lassen uns nicht einfangen! Der Jubilar lässt sich nicht in Schubladen stecken, mit Identitätsbezeichnungen vollkleistern oder mit Salbungen valiumisieren. Dieser Denker spielt mit den Abstraktionsebenen, versucht man ihn zu fangen, lächelt er und taucht wo anders wieder auf. Versucht man, aus ihm einen Südtiroler Heimat-Johannes zu machen, weicht er in Fremdsprachen aus. (Veranstalter: „Sie sind ja eine geistige Allzweckwaffe in vielen Sprachen“). Wird der globalisierte SJS gesucht, kommt plötzlich ein Narrativ über Südtirol. Wissenschaft und Poesie – vielleicht gegenseitig geachtet, aber die Referenzen zu unterschiedlich: Nicht für ihn! „Ich bediene beide Welten.“ Feiner Humor und Melancholie sind für ihn keine Gegner.

Den Radikalen Konstruktivismus kann man als Denkstil, als Paradigma oder als geistiges Bollwerk gegen den „Wahrheitsterrorismus“ (sein Freund Sepp Mitterer), aber sicher nicht als Praxisanleitung für systemisch orientierte Berater (hymnischer Gesang: Ich bin ein Systemiker) verstehen. Als dieses sperrige Gedankengut durch den Fleischwolf der Vereinfachung (alles ist konstruiert) gedreht wurde, verschwand unser Denker in der Nahib-Wüste, saß wie ein indischer Fakir auf einem Baum und dachte. Mit einem kleinen Büchlein (Geschichten & Diskurse: Abschied vom Konstruktivismus) kam er zurück. Der geistige Brei, alles sei konstruiert, war ihm zu viel.

Heinz von Foerster schrieb vor genau zwanzig Jahren: „Mit Entzücken sammle ich sprechende Blumen für den Blumenstrauß, den ich mit den herzlichsten Gratulationen dem lieben Siegfried Schmidt zu seinem sechzigsten Geburtstag überreichen möchte. Aber eigentlich sollte uns, die wir die Empfänger der großzügigen Geschenke sind, die Siegfried Schmidt aus seinem unerschöpflichen Füllhorn von beständiger Ermunterung, Unterstützung, Freundschaft, Beratung und Hilfe, stetig über uns ergießt, zu dieser beneidenswerten Stellung gratuliert werden.“ Er hatte Recht, wir sollten uns bereichert fühlen.

 

Lieber Freund,

es gibt noch etwas und das wird schwer. Wir haben in diesem Leben Wichtiges versäumt! So müssen wir frei von Kontingenz an die Wiedergeburt glauben und komm mir bitte nicht mit kognitiver Autonomie! Wir haben es versäumt, gemeinsam auf dem Gipfel des Latemar zu stehen und uns zu freuen, dass der Andere auch da ist. Da obenstehend würde ich Dir Folgendes gestehen: Auf meinem langen mühsamen Weg des zweiten Bildungsweges habe ich mich immer wieder mit der Vorstellung ermuntert, eins Tages kluge aber bescheidene Denker kennenzulernen.

Ich werde Dir sagen: Es hat geklappt.

 

(Prof. Dr. Walter Schwertl)

 

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