Tools
Das Tetralemma stammt ganz ursprünglich aus der indischen Logik und wurde dort in der Rechtsprechung verwendet. Für das Coaching wurde es vor allem von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer als Instrument eingeführt. Hier wird eine vereinfachte Variante des Tools für Entscheidungssituationen als Bodenanker-Übung beschrieben.
Das Tetralemma ist eine reine Entscheidungsaufstellung, die in dieser Form eine Entscheidung zwischen zwei Optionen ermöglicht: A oder B, Ja oder Nein, Dies oder Das. Ob es sich dabei um berufliche, persönliche oder private Fragestellungen handelt, ist völlig unerheblich. Das Instrument kann bei jeder Form der Entscheidungsfindung eingesetzt werden, bei der es um die Wahl zwischen A oder B geht. Der Einsatz ist dann sinnvoll, wenn der Klient berichten kann, dass er die Optionen in allen Varianten mehrfach durchdacht und mit anderen mehrfach besprochen hat, dennoch immer noch keine Entscheidung fällen kann. Auch zum Selbst-Coaching eignet es sich hervorragend, da es einfach und schnell geht, dabei aber äußerst effizient ist.
Das Tool soll den Klienten von der rein mentalen, rationalen Ebene wegführen. Eine erneute Abwägung von Vor- und Nachteilen hilft ihm nun nicht mehr weiter. Jetzt geht es um die Körperfühlebene: Der Klient wird dazu gebracht, im Körper zu spüren, was für ihn richtig ist. Die erlebten Körperimpulse geben in der Regel äußerst klare Hinweise und bringen in etwa 85 Prozent der Fälle deutliche Entscheidungen.
Mit dem Tetralemma als Bodenankrer-Übung erhält der Klient ein unmittelbares Feedback über seine somatischen Marker. Nach Antonio Damasio teilt sich das sogenannte emotionale Erfahrungsgedächtnis über ein körperliches Signalsystem mit, das sich quasi automatisch meldet und klare Signale über „richtig“ oder „falsch“ aussendet. Auch das Zürcher Ressourcen Modell® arbeitet mit dem Konzept der somatischen Marker. Man kann die gespürten Körperimpulse auch als „Affekte“ oder „felt senses“ im Sinne von Eugene T. Gendlin und Rainer Sachse sehen, die Indikatoren für das Motivsystem des Klienten sind. Unbehagen oder Anspannung weisen demnach darauf hin, dass eine imaginierte Situation mit den Bedürfnissen und Motiven des Klienten nicht kompatibel ist.
Das Tetralemma wird als Aufstellung mit Bodenankern (Moderationskarten) durchgeführt. Anders als der Name es nahelegt, geht das Tetralemma von fünf Optionen aus, die nach einem fest vorgegebenen Schema ausgelegt und abgegangen werden.
Die erste und zweite Position „Das Eine – Das Andere“
Hierbei handelt es sich um die Kernalternative, also die beiden Pole, zwischen denen der Klient pendelt. Es ist von großer Wichtigkeit, dass diese beiden Alternativen klar bezeichnet werden können, damit der Coach sie in der Aufstellung benennen kann.
Die dritte Position „Beides“
Diese Position löst im Allgemeinen sofortige Irritation aus: „Wie soll das gehen, beides?“ Hier ist es wichtig, vor oder in der Aufstellung keine Diskussionen zuzulassen. Es geht darum, einfach nur nachzuspüren, nicht nachzudenken. Falls diese sich als die Position mit den positivsten Gefühlen herausstellt, kann man im nachfolgenden Coaching klären, wie „Beides“ gehen könnte. Wenn diese Position als positiv gespürt wird, hat der Klient oft schon ziemlich spontan eine Idee, wie „beides“ gehen könnte. Nur hatte er vorher über diese Option noch gar nicht nachgedacht.
Die vierte Position „Keins von beiden“
Wenn diese Position als positiv gespürt wird, wird es interessant. Es kann bedeuten, dass die Lösung des Problems ganz woanders liegt, oder aber der Klient möchte sich nicht entscheiden. Auch das ist eine Option, die es zu würdigen gilt.
Die fünfte Position „Dies nicht und auch das nicht“
Diese Position ist eine Art Joker-Position. Sie führt den Klienten auch im ganz konkret räumlichen Sinne aus dem Entscheidungsraum heraus und ermöglicht ihm quasi eine losgelöste Außenposition. Hier ist – und soll – alles möglich sein. Manchmal liegt die Lösung eines Entscheidungsproblems in einer ganz anderen Alternative. Das kann etwas sein, worüber der Klient sich bisher nicht erlaubt hat nachzudenken, oder er hat seiner Fantasie nicht gestattet, das Unmögliche zu denken. Hier kann, darf und soll er es ruhig tun. Wird diese Position als positiv gespürt, wird es im Coaching spannend.
Im Vorbereitungsgespräch sollte also der Coach nicht weiter in die Tiefe des Entscheidungsthemas gehen, sondern relativ schnell den Vorschlag machen, das Ganze einmal in einem Aufstellungsszenario anzuschauen.
Schritt 1
Bauen Sie das Szenario auf. Sie benötigen dafür fünf große runde gleichfarbige Karten, die Sie folgendermaßen beschriften:
Sie legen die Karten über Kreuz auf den Boden, in einer Entfernung von etwa eineinhalb Metern zueinander. Die fünfte Karte („Dies nicht und auch das nicht“) legen Sie außerhalb des Kreuzes in einer Entfernung von etwa einem Meter aus.
Achtung: Das Szenario benötigt etwas Platz. Achten Sie darauf, dass auch um das ausgelegte Kreuz herum ausreichend Platz ist, damit sich Ihr Klient nicht durch Möbelstücke oder Wände eingeengt fühlt.
Schritt 2
Bitten Sie den Klienten, an die Karte „Das Eine“ heranzutreten, Sie stehen seitlich, er schaut auf das ausgelegte Kreuz. Fordern Sie auf, die beiden Alternativen noch einmal zu benennen und zwar jetzt mit möglichst einem Stichwort. Was genau ist „Das Eine“, was genau „Das Andere“? Wenn der Klient für beide Positionen ein Stichwort gewählt hat, bitten Sie ihn, einen Moment die Augen zu schließen, und benennen Sie nun noch einmal beide Positionen. Dann fragen Sie den Klienten, ob das so stimmig ist.
Schritt 3: Das Tetralemma beginnt
Ersuchen Sie den Klienten, sich ganz entspannt hinzustellen, die Arme seitlich hängen zu lassen. Nun soll er sich auf die erste Karte stellen. Wichtig: Der Klient soll und muss auf der Karte stehen, nicht davor, nicht die Füße rechts und links davon. Als Coach stehen Sie nun halb hinter ihm und sagen in leiser ruhiger Stimme: „Dies ist die Position ‚Das Eine‘“ und benennen dann die Alternative 1.
Treten Sie einen Schritt zurück. Der Klient soll ganz auf sich und sein Körperempfinden konzentriert sein. Er soll Sie nicht ansehen, er darf auf das Kreuz schauen oder die Augen schließen. Beobachten Sie Ihren Klienten: Welche Körperhaltung nimmt er jetzt ein? Richtet er sich etwas auf, sackt er leicht zusammen, beginnt er von einem Fuß auf den anderen zu belasten, schwankt er leicht, atmet er auf oder stockt sein Atem? Flattern die Augenlider? Versteift oder entspannt sich der Körper?
Nach einer kleinen Weile bitten Sie ihn (sofern er das nicht sowieso tut) sein Körperempfinden zu schildern. Er soll alle körperlichen Empfindungen aussprechen, die er hat. Fragen Sie nicht nach, im Sinne von: „Ich sehe, Sie schwanken ganz leicht“. Überlassen Sie es ganz dem Klienten, in sich hinein zu lauschen und zu schildern, was genau er spürt, welche Impulse in ihm aufsteigen. Dieses Nachspüren sollte andererseits nicht zu lange dauern, da sonst eine Verunsicherung und Verwässerung der Impulse passieren kann und die Gefahr besteht, dass nun doch auch „gedacht“ wird.
Bitten Sie den Klienten nun, auf die nächste Position zu wechseln: Das Andere. Achten Sie darauf, dass der Klient nicht durch das Kreuz hindurchläuft, sondern außen herum geht. Bitten Sie den Klienten, sich auf die Karte zu stellen, mit Blick auf das Kreuz. Stellen Sie sich halb hinter ihm und sagen Sie: „Dies ist die Position ‚Das Andere‘“ und benennen die zweite Alternative. Wieder treten Sie einen Schritt zurück und lassen dem Klienten Raum und Zeit, in sich hineinzuspüren.
Dann führen Sie den Klienten auf die Position „Beides“. Diese Position ist heikel, denn sie erzeugt sofort im Klienten die Frage: „Wie soll das denn gehen?“ Entsprechend sagen Sie die Position an: „Dies ist die Position ‚Beides‘“ und fordern ihn auf, nicht nachzudenken, wie beides ginge, sondern nur einmal zu spüren, wie sich das anfühlt. Wieder gehen Sie einen Schritt zurück und lassen den Klienten spüren. Führen Sie ihn zur nächsten Position: „Keins von beiden“. Diese Position sagen Sie einfach so an: „Dies ist die Position ‚Keins von beiden‘“ und treten wieder zurück.
Dann bringen Sie den Klienten auf die Position „Dies nicht und auch das nicht“ mit Blick auf das Kreuz. Sagen Sie an: „Dies ist die Position ‚Dies nicht und auch das nicht‘ – was immer es ist, alles ist möglich!“ Treten Sie zurück und beobachten Sie, was geschieht.
Hat der Klient alle Positionen durchlaufen, ist das Tool beendet. Sie bitten ihn, aus dem Setting herauszugehen und setzen sich zur Auswertung zusammen.
Birgit S., 32 Jahre alt, Betriebswirtin und seit fünf Jahren in der Personalentwicklung eines größeren Unternehmens tätig, bekommt ein attraktives Jobangebot von ihrer Firma: Sie kann stellvertretende Personalleiterin werden, muss aber dafür in das Haupthaus des Unternehmens nach Stuttgart wechseln. Sie wohnt in Köln, ist hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat hier studiert. Sie ist alleinstehend. Was soll sie tun? Bleibt sie, hat sie alle „Heimvorteile“, aber keine attraktiven Aufstiegsmöglichkeiten. Geht sie, muss sie sich allein und völlig neu niederlassen, hat dafür aber einen Karriereschritt gemacht, und ihre Karriere ist ihr wichtig. Ihre Familie und ihre Freunde raten ihr teilweise zu, teilweise äußern sie sich aber auch skeptisch. Birgit S. weiß nicht weiter und lässt sich mit mir auf das Tetralemma ein.
Birgit S. steht entspannt auf der ersten Karte „Das Eine“: Köln. Sie hat ihre Augen geschlossen. Man kann erkennen, dass die Augäpfel sich hin und her bewegen. Nach einigen Sekunden beginnt sie zu sprechen: „Das fühlt sich angenehm an, hier zu stehen, … so vertraut und warm“ – Pause – „aber auch ein wenig langweilig“. Sie öffnet die Augen, schaut auf das Bodenkreuz „Ja, so ist es.“ Ich bitte sie, mit mir auf die nächste Position zu wechseln: „Das Andere“: Stuttgart. Auch hier schließt sie die Augen, die Augäpfel bewegen sich wieder, gleichzeitig bemerke ich ein ganz leichtes Schwanken „Hier hab ich Herzklopfen“, sagt sie und „es prickelt von den Füßen herauf … das ist ganz aufregend … neu.“ Sie lächelt, öffnet die Augen, schaut mich an und nickt.
Birgit S. durchläuft die weiteren Positionen. „Beides“ fühlt sich leer an und „Keins von beiden“ eher unangenehm. Auch auf der fünften Position hat sie keinen nennenswerten Impuls. Wir beenden das Tetralemma und setzen uns. Die Auswertung zeigt eindeutig: „Köln“ fühlt sich zwar angenehm und vertraut an, aber „Stuttgart“ hat eindeutig den höheren Reiz. Birgit S. ist sich jetzt sicher, sie will es wagen.
Wenn der Klient bereits alle Körperempfindungen geschildert hat, ist Ihnen als Coach nicht entgangen, wie er welche Positionen gefühlt hat. Dennoch ist ein Nachgespräch in jedem Fall notwendig, um das Erlebte/Gespürte noch einmal zu reflektieren.