Beruf Coach

Wie die Industrie 4.0 Coaching und Weiterbildung verändern wird

Virtual Reality

11 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 04 | 2017

Die Menschheit steht an der Schwelle zur vierten technologischen Revolution, die die Vernetzung, Komplexität und Geschwindigkeit aller Arbeits- und Lebensprozesse enorm steigern wird. Diese Umwälzung kann durch die Unterstützung von Coaching besser bewältigt werden. Gleichzeitig haben die weitreichenden Veränderungen direkte und indirekte Auswirkungen auf das Coaching und die Anforderungen an Coaches. Letztlich ist jede Form von Bildung und Weiterbildung davon betroffen.

Durch die Erfindung und Verbreitung von Dampfmaschinen fand die erste industrielle Revolution statt, es folgte die zweite durch die Massenproduktion und die dritte mit der Einführung von Computern. Nun steht die Menschheit an der Schwelle zu einer vierten Revolution. Diese wird als „digitale Transformation“ oder „Industrie 4.0“ bezeichnet und ist gekennzeichnet durch die Verschmelzung der physischen Welt mit dem Cyperspace und einer dezentralen, autonomen Steuerung von Arbeits- und Produktionsprozessen.

Die digitale Transformation und die Virtualisierung der Arbeits- und Lebenswelt werden zu weitreichenden Veränderungen führen, deren Konsequenzen so umfassend sind, dass ihr volles Ausmaß gar nicht absehbar ist. Unter „Industrie 4.0“ werden bisher unterschiedlichste Technologien und Konzepte zusammengefasst – als populäre Stichworte seien hier beispielhaft 3D-Druck, Robotik, künstliche Intelligenz, Spracherkennung („Siri“, „Cortana“), textbasierte Dialogsysteme („Chatbots“), autonome Fahr-und Flugzeuge („Drohnen“), Internet of Things („IoT“), Cloudlösungen, Big Data, Augmented und Virtual Reality (VR) genannt.

Vorhersehbar ist jedoch, dass die zu erwartenden Innovationen technologische Revolutionen auslösen werden, die die Art, wie Menschen leben und arbeiten, teilweise radikal verändern werden. Virtual Reality-Brillen wie die Oculus Rift, HTC Vive und PlayStation VR sowie Augmented Reality-Brillen wie die HoloLens von Microsoft können Umwelten komplett simulieren oder die vorhandene Umgebung realitätsnah manipulieren. In der Kombination zur sogenannten „Social VR“ können entsprechend ausgestattete Personen über große Entfernungen hinweg interagieren, als ob sie in einem Raum sitzen und in der Simulation (scheinbar) physische Grenzen überwinden. Auch die Ankopplung an cyber-physische Produktionssysteme lässt die Schaffung virtueller Arbeitswelten zu. Planen, Simulieren, Gestalten, Steuern, Produzieren, Überwachen ist damit hocheffizient möglich, verändert aber die Arbeitsprozesse und somit das Erleben und Verhalten der Menschen grundlegend.

Ganze Unternehmen werden virtualisiert

Virtual Reality hat das Potenzial, Unternehmen komplett zu virtualisieren und sich die Kosten für Firmengebäude zu sparen: In der Illusion einer virtuellen Bürowelt sitzt der Kollege scheinbar nebenan, was auch Zwischengespräche ermöglicht, kann sich aber physikalisch auf einem anderen Kontinent in seinem Homeoffice befinden. Die tägliche Fahrt zur Arbeit oder Geschäftsreisen werden damit weitgehend überflüssig. Jeder kann überall, jederzeit und sofort in der VR von einem Punkt zum nächsten „beamen“ und mit anderen Menschen interagieren. Die Zeitersparnis und Produktivitätssteigerung ist offensichtlich.

Von solchen Effekten ist nicht nur die Kopfarbeit betroffen, auch körperliche Tätigkeiten können durch eine immer bessere Robotik durch ein Programm oder via Fernsteuerung ersetzt werden (Boston Dynamics, 2016). Alle Disziplinen, in denen künstliche Intelligenzen und Maschinen den Menschen überlegen sind oder absehbar sein werden, hinterlassen nicht mehr konkurrenzfähige Arbeitskräfte, deren Jobs weitflächig verloren gehen. Dies wird absehbar mit hoher Geschwindigkeit passieren.

So gehen Frey & Osborne (2013) von der Universität Oxford nach einer Analyse von 702 Berufen davon aus, dass durch die digitale Produktivitätssteigerung der „Computerisation“ in den nächsten 20 Jahren 47 Prozent aller Arbeitsplätze verloren gehen. Die besten Aussichten haben ihrer Meinung nach Berufe, die kreative und soziale Intelligenz erfordern, dazu zählen u.a. Therapeuten, HR-Manager und Coaches (ebd., S. 57 ff.). Natürlich werden auch neue Arbeitsplätze durch den digitalen Wandel entstehen bzw. benötigt werden. Tendenziell werden im weitesten Sinne automatisierbare Tätigkeiten aber durch Berufe ersetzt, die ganz andere Kompetenzen verlangen. Dies birgt Risiken, es gibt aber auch Chancen.

Apps als Coaching-Ersatz

Von dieser Entwicklung sind das Coaching und die Weiterbildungsbranche direkt und indirekt betroffen. Wenn sich die Arbeitswelt verändert, hat dies auch zumindest indirekten Einfluss auf das Coaching und die darin behandelten Themen und verfolgten Zielsetzungen. Wenn aber Chatbots – wie bereits geschehen – den sogenannten „Turing-Test“ bestehen und damit eine menschliche Kommunikation nachahmen können (Bögeholz, 2014), ist das Coaching auch direkt betroffen. Coaching erfordert zwar Kreativität und soziale Intelligenz, Standardfragen kann aber auch eine App im Smartphone stellen. Einfache Zielklärungs- und Motivations-Coachings via App kosten nur ein paar Euro. Für Coaches bedeutet dies, dass vergleichbar gut digitalisierbare Dienstleistungen nur noch eine sehr begrenzte Zeit lang marktfähig sein dürften. Die Ansprüche an die Coaches werden durch den Konkurrenzdruck der Software also steigen.

Dies hat Einfluss auf das Coaching und auf die Anforderungen der Coaches. Sie benötigen zukünftig immer mehr spezielles digitales Wissen, Handlungskompetenzen und IT-Erfahrungen und müssen über deutlich mehr Fähigkeiten verfügen, als eine App simulieren kann. Dabei handelt es sich um Eigenschaften, bei denen Menschen einen deutlichen Vorsprung vor Maschinen besitzen: Zu nennen sind hier insbesondere die Fantasie, die Fähigkeit zur Imagination und der Wunsch, Gedanken mit anderen auszutauschen. Auch in den Bereichen des selbstreflexiven Bewusstseins, der Kreativität, des Humor und des planerisches Denkens und Handelns (dies benötigt Fantasie als Grundlage, denn nur diese liefert die sich verzweigende Szenarien, die vorausschauendes Denken erfordert) hat der Mensch noch klare Vorteile – wenn er sie nutzt.

Ferner werden die meisten Formen der Weiterbildung durch die technologische Entwicklung unter Veränderungsdruck gesetzt werden: Klassische Seminare und Trainings, die eine An- und Abreise und Übernachtung erfordern, werden den Menschen in nicht allzu ferner Zukunft als unnötig umständlicher Anachronismus erscheinen. D.h., die VR-Weiterbildung wird zum Standard avancieren. Bei körperorientierten Verfahren und für Nostalgiker mag es Ausnahmen geben, aber ein Großteil des Weiterbildungsmarktes wird sich radikal wandeln müssen oder von einer wegbrechenden Nachfrage betroffen sein. Leicht standardisierbare Formen von Weiterbildung, wie Schulungen mit festen Inhalten, können dabei sogar komplett automatisiert und von Avataren, die mit einer künstlichen Intelligenz ausgestattet sind, übernommen werden – bei einem Bruchteil der Kosten.

Science Fiction? Im Gegenteil, die Realität ist bereits jetzt schon weiter und „Avatar-basierte Beratung in virtuellen Räumen“ (Bredl et al., 2017) wird nicht nur erforscht, sondern bereits eingesetzt.

VR ermöglicht perfekte Lern- und Entwicklungsumgebungen

So existieren längst schon sogenannte „VR-Therapien“, die erfolgreich für die Behandlung von Angststörungen und Phobien eingesetzt werden (Diemer et al., 2013). Dies zeigt das Potenzial der Virtual Reality im Bereich Coaching und Weiterbildung auf: Zum einen können damit nahezu perfekte Lern- und Entwicklungsräume gestaltet und hochindividualisiert auf die Bedürfnisse von Klienten zugeschnitten werden. Damit eröffnen sich für Coaches neue Wege: In virtuellen, optimal gestalteten Lernumgebungen kann intelligente Software zur Selbst- und Situationsreflexion und gewollten Selbstentwicklung des Klienten beitragen.

Zum anderen bietet ein dermaßen weiterentwickeltes Coaching auch ein „Gegengift“ zu tendenziell Überforderung auslösenden Anforderungen einer mit der Industrie 4.0 ausufernden Komplexität und Ungewissheit. Denn der Umgang mit einem immer noch schnelleren Veränderungstempo verlangt den Menschen in der Arbeitswelt Kompetenzen ab, die eine systematische und ergebnisorientierte Reflexion erfordern, wie sie im Coaching angeboten werden kann.

Wichtiger denn je: Förderung der Selbstreflexionskompetenz

Die Förderung der Selbstreflexionskompetenz des Klienten kann ohnehin als eine der zentralen Aufgaben im Coaching angesehen werden. Fasst man die Anliegen von Klienten zusammen, so liegen diese meist in folgenden Bereichen: Entwicklung ihrer Management-, Führungs- und Sozialkompetenzen, Konflikt- und Krisenmanagement, Persönlichkeits- und Potentialentwicklung, Kommunikationsverhalten, Lebens- und Karriereplanung, Motivationsverbesserung, Stressmanagement, Work-Life-Balance, Vorbereitung auf neue Aufgaben und organisationale Veränderungen, Unternehmensnachfolge, Strategie-, Werte- und Sinnfindung.

Diese Themen sind im Coaching durch ergebnisorientierte Reflexionen beeinflussbar, da eine Optimierung entsprechender Ist-Zustände zunächst eine Analyse benötigt, bei der es immer um die Aspekte von eigenen Anteilen geht. Dies ist wichtig, damit selbst beeinflussbare Handlungsfelder im Coaching gefunden werden können und das Coaching der Umsetzungsunterstützung und kontinuierlichen Zielanpassung dient.

Der Nutzen der Selbstreflexion im Coaching

Verfügt eine Führungskraft beispielsweise über eine zu gering ausgeprägte Sozialkompetenz im Umgang mit Mitarbeitern, ist dies vielen Führungskräften entweder nicht bewusst oder es ist ihnen bewusst, sie betrachten ihr Verhalten jedoch als angemessen. In beiden Fällen bedarf es eines Reflexionsprozesses, in dem die Führungskraft für sich die Erkenntnis gewinnt, dass sie etwas verändern sollte. Gelingt dies nicht, ist offensichtlich jede weitere Maßnahme sinnlos, da sie keine Akzeptanz finden wird. Ergebnisorientierte Selbstreflexionsprozesse verbessern somit im Idealfall die Veränderungsmotivation des Klienten, weil sie ihm Aspekte seines Verhaltens verdeutlichen, die bisher nicht gesehen oder unangemessen bewertet wurden.

Bei näherer Betrachtung erweist sich eine zu gering ausgeprägte Sozialkompetenz somit als ein Symptom, nicht als Ursache eines problematisch vom Umfeld erlebten Verhaltens. Diese Differenzierung ist wichtig, um beim Klienten eine gewollte, nachhaltige Veränderung auslösen zu können. Selbstreflexionsprozesse verhindern so überflüssige und letztlich unwirksame Symptomarbeit, was für den Erfolg von Coaching von großer Bedeutung ist. Diese Zusammenhänge werden aller Voraussicht nach auch zukünftig gültig sein.

Zukünftig stärker nachgefragte Themen

Mit Blick in die Zukunft dürften darüber hinaus folgende Themen zunehmend stärker nachgefragt werden: Bewältigung beruflicher Existenzängste, Umgang mit Veränderungswiderständen, Umgang mit sozialer Isolation, Förderung von Sozialkontakten, Umgang mit Automatisierungslücken, Outplacement, Karriere-Coaching und Qualifizierung für neue Beschäftigungen, Datenanalyse und –interpretation, Stress und Zeitdruck bei komplexen Aufträgen mit ungewissem Ausgang, Planung und Implementierung der digitalen Transformation, Überwachung und Wartung komplexer digitaler Systeme, reflektierte Nutzung intelligenter Systeme und Apps (Greif, 2017; Greif & Rauen, 2017).

Ohne eine solche Unterstützung hat das Zusammentreffen von immenser Rechenleistung und hochgradiger Vernetzung bei zunehmender Geschwindigkeit ansonsten das Potenzial, Menschen gnadenlos zu überfordern. So lässt beispielsweise die Virtual Reality die Realität und Fiktion miteinander verschmelzen. Bei exzessiver Nutzung – z.B. als Flucht vor einer unattraktiven Realität – dürften psychische Störungen wie Derealisierungserscheinungen daher zunehmen. Wer nicht über Reflexionsmuster verfügt, um echte von virtueller Realität zu unterscheiden, wird nicht nur im Straßenverkehr Probleme bekommen, die durch entsprechende Prävention abgefangen werden könnten.

„Alles, sofort, überall“

Darüber hinaus dürfte die digitale Transformation auch die Art verändern, wie Coaching gesucht und in Anspruch genommen wird. Wenn Menschen zunehmend in virtuellen Umgebungen arbeiten, die „alles, sofort, überall“ verfügbar machen (und abfordern), wird es für sie normal sein, auf diese Weise auch Coaching zu nutzen. Die digitale Transformation mit ihrer enormen Produktivitätssteigerung wird es auch den Coaches abverlangen, vollumfänglich und „auf Knopfdruck“ verfügbar zu sein. In einer volatilen, komplexen und hochbeschleunigten Umwelt (das dafür inzwischen gebräuchliche Akronym heißt VUCA – Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity), wird es kaum jemand akzeptieren, sechs Wochen oder länger auf den Beginn seines Coachings zu warten. Auch dies hat Konsequenzen für die gesamte Coaching-Branche und das Matching (die Passung zwischen Coach und Klient) und die Zur-Verfügung-Stellung von Coaching-Maßnahmen in einer globalisierten, virtuellen Welt.

Ob es den Coaches und Weiterbildungsanbietern gefällt oder nicht: Ihre Dienstleistungen lassen sich bis zu einem gewissen Grad bereits jetzt und in Zukunft noch deutlich weiter durch Software ersetzen. Standard-Coachings werden somit absehbar durch künstliche Intelligenzen durchgeführt. Dem Menschen verbleibt die kreative Gestaltung anspruchsvoller Lernumgebungen und die Nutzung seiner herausragenden Kompetenzen im Vergleich zur Maschine. Gleichzeitig wird das Geschäft schnelllebiger werden und auf einem global vernetzten Markt angeboten werden. Hier gelten die gleichen Bedingungen wie für alle, die von der vierten technologischen Revolution betroffen sein werden: Wer stehen bleibt, kann bestenfalls in einer sehr kleinen Nische überleben. Der globale Markt eröffnet aber auch Chancen, sich neue Märkte und Zielgruppen zu erschließen.

In einer sich ständig verändernden, hochkomplexen Lebens- und Berufswelt, die den gekonnten Umgang mit Ungewissheit verlangt, ist es nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, menschliche Stärken zu kultivieren und zu nutzen. Anspruchsvolle, d.h. eine von Bewusstsein beseelte, geistreiche Kommunikation wird eine Kernkompetenz von Menschen bleiben und gerade diese Fähigkeit, ist für das Coaching essentiell, um individuelle Lern- und Erkenntnisprozesse zu gestalten. Noch haben Menschen einen Vorsprung in den Bereichen Bewusstsein, Fantasie, Imagination, Kreativität, planerisches Denken, soziale Intelligenz, Humor und Provokation. Hier bleibt der Mensch (hoffentlich) unentbehrlich und kann in seiner Rolle als Coach anderen Menschen Unterstützung für eine humane Nutzung der neuen Technologien bieten, um die beträchtlichen Herausforderungen der Zukunft erfolgreich zu meistern. (cr)

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