Ethik

Die Krise als Ausflucht

Haben Krisen Konjunktur?

5 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 03 | 2010

Überall kann man von Krisen hören und darüber lesen. Strukturkrisen, Politikkrisen, Unternehmenskrisen, Wirtschaftskrisen, Währungskrisen … Krisen haben Konjunktur. Ein Aspekt wird dabei aber eher selten beleuchtet: Die Krise als willkommener Vorwand, um sich vor Verantwortung zu drücken.

Wer Verantwortung trägt, hat Rechenschaft für seine Entscheidungen und Handlungen abzulegen. Dies macht natürlich nur dann Sinn, wenn man über einen Entscheidungsspielraum und die Fähigkeit zum Entscheiden verfügt und dafür sorgt, dass die Entwicklung des Verantwortungsbereichs in einem gewünschten Rahmen verläuft. Diese – nicht einfache – Aufgabe ist einer der Gründe dafür, warum Verantwortungsträger überwiegend gut entlohnt werden (wenn man von Ehrenämtern absieht).

Eine Verantwortungsübernahme wird jedoch zur unglaubwürdigen Farce, wenn man nur für gute Ergebnisse Verantwortung übernehmen möchte und schlechte Ergebnisse den Rahmenbedingungen zuschreibt. Wer so handelt, untergräbt die eigene Glaubwürdigkeit. Wer Zweifel an dieser These hegt, möge sich den allgemeinen Politikbetrieb ansehen und zum Stichwort "Politikverdrossenheit" recherchieren, bei der es sich eher um "Politikerverdrossenheit" handeln dürfte.

Derartige Verdrossenheit gibt es auch in vielen Unternehmen: Demotivierte Mitarbeiter ärgern sich nicht selten über das Verhalten ihrer Führungskräfte. Wer arbeitet schon gerne für einen Menschen, der für Verantwortung bezahlt wird, sie aber nicht ausfüllt? Auch wenn dies selbstverständlich nur für eine Minderheit von Führungskräften gilt, wird daran vieles deutlich. Insbesondere lässt sich daran erkennen, dass Glaubwürdigkeitsimulation kein Ersatz für Glaubwürdigkeit ist.

Zur Glaubwürdigkeit gehört eben auch, zu Fehlern zu stehen. Natürlich kann es sich keine Führungskraft leisten, sich nur über das Eingestehen von Fehler zu definieren. Aber es gehört eben auch dazu, will man nicht in Dogmatismus erstarren. Viele Führungskräfte verdrängen dies, weil sie glauben, es sei gut, möglichst unfehlbar zu wirken.

Wer so denkt, hat bereits einen verhängnisvollen Fehler begangen. Er glaubt, Verantwortung abwälzen zu können, ohne dass dies Anderen auffallen würde. Dabei ist häufig genau das Gegenteil der Fall: Ein Fehler ist allzu offensichtlich für alle Beteiligten und Ausflüchte machen die Angelegenheit nur peinlicher. Der damit einhergehend Gesichtsverlust ist deutlich ausgeprägter, als z.B. eine schmerzliche Niederlage einzugestehen und daraus zu lernen.

Ein gutes Coaching sollte in diesem Sinne nicht nur einer Perfektionierung des gewünschten Dominanzsanspruchs einer Führungskraft dienen, sondern auch die Denkfalle thematisieren, die der dysfunktionalen Unfehlbarkeits-Logik zugrunde liegt. Dies ist im Druck des Alltags nicht einfach. Und natürlich gibt es auch Situationen, in denen man derartig unter Druck steht, dass das Eingeständnis eines Fehlers untragbar scheint. In der vertrauensvollen Vier-Augen-Situation des Coachings kann auch das aufgearbeitet werden, was ansonsten unausgesprochen bleibt und langfristig verheerende Folgen haben kann.

Verantwortung auszufüllen bedeutet Druck zu ertragen, Probleme anzunehmen und sich Schwierigkeiten zu stellen. Und weil dies nicht einfach ist, Fehler nahezu vorprogrammiert sind und allgemeine Krisen immer eine verführerische Ausrede darstellen, stellt dies eine permanente Gefährdung der persönlichen Integrität dar.

In diesem Sinne ist die Wirtschaftskrise in doppelter Hinsicht eine Vertrauenskrise. Sie ist nicht nur ein Verlässlichkeitstest zwischen Staaten, Organisationen und Menschen. Sie testet auch die individuelle Integrität von Menschen: Denn je mehr eine Krise nicht nur die Rahmenbedingungen verschlechtert, sondern auch noch die Bereitschaft zu echter Verantwortungsübernahme untergräbt, desto verhängnisvoller ist die absehbare Entwicklung. Um derartige Vertrauenskrisen zu überwinden braucht es Mut und Integrität – also genau die Eigenschaften, die Jemand, der vor Verantwortung flüchtet, i.d.R. in weniger ausgeprägter Weise besitzt bzw. entwickeln kann.

Eine solche Entwicklung ist z.B. dann möglich, wenn als notwendige Voraussetzung erkannt wird, dass das Wiederholen ewig gleicher Rituale und das „so tun als ob nichts gewesenwäre“ nicht unbedingt ein Zeichen von Stärke ist, sondern ein Zeichen dafür, dass man sich in einem Gedankenkäfig bewegt. In diesem entstehen starre (Denk-)Strukturen, die überaus anfällig dafür sind, in Krisenzeiten zu kollabieren. Flexible (Denk-)Strukturen können hingegen auch mit radikalen Änderungen der Umgebungsbedingungen fertig werden.

Die Wirtschaftskrise selbst ist also der beste Lehrmeister für die Fehler der Vergangenheit. Es wurden (Denk-)Strukturen aufgebaut, die scheinbar erfolgreich waren. Durchaus existierende Bedenken wurden überwiegend ignoriert. Das Ausblenden von Verantwortung hat sich dann so lange aufsummiert, bis es zum Kollaps kam.

Aus der Krise lässt sich jedoch nur lernen, wenn man nicht mit dem Finger auf andere zeigt, sondern seine eigenen Fehler reflektiert. Probleme entstehen nicht nur durch "die Banker", "die Politiker" oder "die Manager". Dies zu behaupten wäre eben auch nur eine Flucht vor individueller Verantwortung. Denn jeder Kleinsparer, der für ein zehntel Prozent die Bank wechselt, trägt zu einem System bei, in dem Beziehung wenig und Zahlen alles bedeuten. Dies geht solange gut, bis alles an Vertrauen, Verantwortung, Integrität und Glaubwürdigkeit aufgebraucht ist.

Und hier gilt es anzusetzen, um daraus zu lernen: Wie konnte es geschehen, dass man all die Hinweise ignoriert hat, die die Krise absehbar gemacht haben? Und wie kann man sicherstellen, dass dies nicht wieder geschieht? Wer sich diesen Fragen nicht stellt, hilft, die nächste Krise zu provozieren – und womöglich dann abermals als Ausrede zu missbrauchen. 

Literatur

  • Peter Koslowski (2009). Ethik der Banken. Folgerungen aus der Finanzkrise. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.

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