Konzepte

Nudging

Zum Ziel schubsen?

Nudging gilt als wirksames Mittel, um Menschen dazu zu bewegen, bestimmte erwünschte Verhaltensweisen auszuführen. Doch wirft es gleichzeitig die Frage auf, wie weit man gehen darf, um ein Ziel zu erreichen. Diese Frage kann auch im Zuge eines Coachings auftreten. Der vorliegende Artikel beleuchtet die Licht- und Schattenseiten des Konzepts und schlägt eine Alternative für die Coaching-Praxis vor.

9 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2025 am 15.11.2025

Die Grafik zeigt einen Finger, der einen Mann im Business-Anzug anschubst.

Wer kennt sie nicht, die Neujahrsvorsätze, die bereits am 2. Januar über den Haufen geworfen werden, die Sportschuhe, die im Schrank verstauben, weil nach einem anstrengenden Arbeitstag doch wieder das gemütliche Sofa dem Fitnessstudio vorgezogen wird, oder das Gemüse, das vor sich hin schimmelt, da man im hektischen Alltag nicht die Zeit zum Kochen gefunden hat? Auch im Coaching können Ziele, die Klienten sich in guter Absicht gesteckt haben, manchmal auch bei bestem Willen nicht erreicht werden. Eine Begründung für dieses Verhalten liefert die Annahme, dass die Rationalität des Menschen begrenzt ist. Der sogenannte homo oeconomicus, ein perfekt rational handelnder Mensch, der „denkt wie Albert Einstein, Informationen speichert wie IBMs Supercomputer Big Blue und eine Willenskraft hat wie Mahatma Gandhi“ (Thaler & Sunstein, 2009, S. 16), existiert schlichtweg nicht in der Realität. Stattdessen geht die Verhaltensökonomik unter Einbeziehung psychologischer Erkenntnisse über den Menschen davon aus, dass der Mensch fehlerhaft ist und irrationale Entscheidungen trifft.

Auf einen Blick

Symbol einer Lupe
  • Nudging beschreibt das Vorgehen, Umgebungsfaktoren so zu gestalten, dass Menschen zu einem bestimmten Verhalten angeregt werden.
  • Gegner des Konzepts werfen Nudging u.a. Manipulation vor und äußern ethische Bedenken.
  • Als Alternative kann im Coaching Self-Nudging eingesetzt werden: eine Kombination aus Nudging und Boosting.

Als einer der bedeutendsten Vertreter der Verhaltensökonomik gilt Richard Thaler, der 2017 für seine Arbeiten in diesem Bereich mit dem Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt wurde. Zusammen mit dem Rechtswissenschaftler Cass Sunstein verfasste Thaler das Buch „Nudge“, das 2008 veröffentlicht wurde (deutsche Erstveröffentlichung 2009) und als Grundwerk für die Nudging-Methode gehandelt wird. Seither hat sich Nudging in verschiedenen Bereichen, z.B. dem Gesundheitswesen oder der Politik, als Mittel zur Durchsetzung bestimmter erwünschter Verhaltensweisen etabliert – jedoch nicht ohne Gegenstimmen, worauf im Verlauf dieses Artikels noch eingegangen wird.

Bei Nudges (frei ins Deutsche übersetzt: Stupser, sanfter Schubs oder Anstöße) geht es nach Thaler und Sunstein um „alle Maßnahmen, mit denen Entscheidungsarchitekten das Verhalten von Menschen in vorhersehbarer Weise verändern können, ohne irgendwelche Optionen auszuschließen oder wirtschaftliche Anreize stark zu verändern“ (ebd., S. 11). Diesem Grundsatz folgend sieht eine konkrete Umsetzung von Nudging vor, „menschliches Verhalten durch die gezielte Gestaltung von Umgebungsfaktoren zu beeinflussen, ohne dabei verbindliche Verhaltensvorschriften oder entscheidungsrelevante ökonomische Anreize zu setzen“ (Krisam et al., 2017, S. 117).

Ein häufig vorzufindendes Beispiel für Nudging stellt die „prominentere und […] zugänglichere Platzierung gesunder Lebensmittel in einer Kantine“ (ebd., S. 118) dar. Um als Nudge durchzugehen, muss dabei die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gewährleistet sein. Das heißt in diesem Beispiel, dass ungesunde Lebensmittel weiterhin als frei wählbare Option zur Verfügung stehen müssen. Die Umgebung soll lediglich dahingehend verändert werden, dass die für das Individuum und/oder die Gesellschaft im positiven Sinne zuträgliche Wahl attraktiver erscheint und es einem einfacher gemacht wird, sich für diese zu entscheiden. Verbote, Gebote und monetäre Anreize oder Bestrafungen fallen hingegen nicht unter die Definition von Nudging.

Kritiken zu Nudging

Trotz vielfachem Lob am Konzept gibt es auch kritische Stimmen, die sich gegen den Einsatz von Nudges aussprechen. Ein Kritikpunkt bezieht sich auf die unklare Definition. So führen Kritiker an, dass die Trennschärfe zu verwandten oder ähnlichen Methoden nicht genügend gegeben sei. Zudem sei die Methode zu wenig innovativ und bediene sich bereits bekannter Vorgehensweisen und Erkenntnisse. (Krisam et al., 2017)

Auch die Effektivität von Nudging-Maßnahmen wird oft in Frage gestellt. Tatsächlich lässt sich nach derzeitigem Wissensstand keine allumfassende Wirksamkeit von Nudging feststellen. Zwar liegen Fallstudien vor, die dem Nudging eine positive Wirkung zusprechen, jedoch sind die Ergebnisse an bestimmte Einsatzgebiete und Vorgehensweisen gekoppelt. Zudem stellt eine Metaanalyse (Mertens et al., 2021) zum Thema einen moderaten Publikationsbias zugunsten positiver Ergebnisse fest. Um definitive Aussagen hinsichtlich der Wirksamkeit von Nudging treffen zu können, bedarf es daher weiterer empirischer Evidenz in der Zukunft.

Die gängigste Kritik im Diskurs rund um Nudging umfasst den Vorwurf der Manipulation: „Auch wenn die Befürworter von Nudging für sich das Schlagwort des ,liberalen Paternalismus‘ in Anspruch nehmen, argumentieren Kritiker, dass Paternalismus und damit auch Nudging in Wahrheit niemals liberal sein können.“ (Krisam et al., 2017, S. 121) Insbesondere staatliche Reglementierungs- und Steuerungsmaßnahmen werden hierbei kritisch beäugt und werfen die Frage auf, weshalb Menschen sich überhaupt einem normativen Soll-Zustand unterwerfen sollen: Die „paternalistischen Maßnahmen sind darauf gerichtet, Unterschiede, die der Bürger im Vergleich zum homo oeconomicus aufweist, zu kompensieren […]. Die von Thaler und Sunstein vorgenommene Verbindung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse mit einer rechtlichen Steuerungsidee gipfelt durch die Einbettung in den Libertären Paternalismus also darin, dass das neoklassische Verhaltensmodell der Ökonomen zur Maxime für menschliches Verhalten erhoben wird“ (Wolff, 2015, S. 211).

Alternative: Self-Nudging

Aufgrund der kritischen Stimmen wird anstelle des Nudgings neuerdings immer häufiger Boosting vorgeschlagen. Anders als beim Nudging gilt beim Boosting der Grundgedanke, dass Menschen von sich aus dazu fähig sind, Entscheidungen zu treffen, die dem eigenen Wohl und/oder dem Gemeinwohl dienen. Statt sie mittels (Um-)Gestaltung der externen Umgebungsfaktoren zu einer bestimmten Entscheidung zu lenken, sollen beim Boosting die inhärenten Fähigkeiten zur Selbstkontrolle sowie Entscheidungsfindung gestärkt werden. (Herzog & Hertwig, 2025)

Es sollte jedoch erwähnt werden, dass auch das Boosting Grenzen hat. So birgt es die Gefahr, dass kommerzielle Akteure sich aus der Verantwortung ziehen können und die Schuld für schlechte Entscheidungen auf Einzelpersonen übertragen wird. Zudem reicht Boosting allein nicht aus, um Systemveränderungen herbeizuführen und sich der Komplexität einer manipulativen Umwelt entgegenstellen zu können. Daher sind aufseiten der Politik Reglementierungen und Anreize oft notwendig. (ebd.)  

Betrachtet man aber die beiden Ansätze aus der Warte eines Coachs wird ersichtlich, dass Boosting dem Verständnis eines professionellen Coachings näherkommt als Nudging. Schließlich sollen Klienten ihre Ziele selbstständig festlegen und auch aus eigenem Antrieb erreichen. Der Coach leistet dabei Hilfestellung, etwa indem er dem Klienten Möglichkeiten aufzeigt, um dessen Selbstwirksamkeit zu stärken. Er nimmt das Ruder jedoch zu keinem Zeitpunkt und auf keine Weise selbst in die Hand.

Dennoch entspricht es der Realität, dass Klienten auf dem Weg zur Zielerreichung auf Stolpersteine stoßen können, die demotivieren und sie sogar an ihrer Selbstwirksamkeit zweifeln lassen. Um dem entgegenzuwirken, kann eine Mischung aus Boosting und Nudging helfen: das Self-Nudging. Hierbei gestalten die Klienten ihre persönliche Umgebung eigenmächtig so um, dass es ihnen leichter fällt, ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Um (auch ungewollte) Manipulationen seitens des Coachs zu vermeiden, ist es unerlässlich, den Klienten umfassend über das Konzept von Nudging aufzuklären und ihn seine Self-Nudges komplett selbst bestimmen zu lassen. Selbstverständlich kann der Coach aber mit geeigneten Fragen den Klienten dabei unterstützen, die für ihn potenziell wirkungsvollsten Self-Nudges zu identifizieren und diese in seinen Alltag zu implementieren. Folgend werden zur Inspiration mögliche Self-Nudges aufgeführt, die sich aus häufig angewandten Nudges ableiten.

Erinnerungen einrichten für erwünschtes Verhalten

Hat der Klient sich ein bestimmtes Ziel gesetzt, kann er sich z.B. mittels strategisch platzierter Post-its oder Benachrichtigungen auf dem Handy im Verlauf des Tages immer wieder daran erinnern, das Vorhaben umzusetzen.

Automatismen schaffen

Es kann überlegt werden, wie der Klient seinen Alltag so (um-)strukturiert, dass das gewünschte Vorhaben ohne großen Mehraufwand erledigt werden kann. Beispielsweise kann ein Klient, der sich vorgenommen hat, mehr Sport zu treiben, seine Sporttasche mit ins Büro nehmen, sodass er, um sich umzuziehen, nicht erst nach Hause fahren muss, wo das gemütliche Sofa auf ihn wartet. Oder er fährt statt mit dem Auto mit dem Fahrrad zur Arbeit.

Framing

Unliebsame Aufgaben können mittels Framing in ein neues, besseres Licht gerückt werden. So wie das Glas halbleer oder halbvoll sein kann, kann das Einlernen neuer Mitarbeiter ein notwendiges Übel sein oder aber eine Bereicherung für das Arbeitsleben, weil neue soziale Kontakte geknüpft werden und man sich die Arbeitslast zukünftig teilen kann.

Stressoren meiden

Möchte der Klient sich vor Verhaltensweisen, die sein Wohlergehen gefährden, schützen, kann er es sich schwerer machen, diesen nachzugehen. Ist er z.B. davon genervt, dass er sich bei der Arbeit ständig von seinem Handy ablenken lässt, kann er für bestimmte Apps die Push-Benachrichtigungen ausschalten, das Handy im Homeoffice in einem anderen Raum aufbewahren oder es im Härtefall während der Arbeitszeit in einem Schließfach mit Timerfunktion wegsperren.

Sozialer Druck

Sofern dies vom Klienten gewünscht ist, gibt es die Möglichkeit, dass er ihm nahestehenden Personen von seinen Vorsätzen berichtet und sie darum bittet, darauf zu achten, dass er sich an diese hält.

Fazit

Nudging ist den meisten Menschen bereits als angewandte Methode im Alltag begegnet, ob ihnen dies bewusst ist oder nicht. Auch wenn Nudges – den Forderungen der Begründer entsprechend – zumeist das Wohlergehen des Einzelnen oder der Gesellschaft im Fokus haben, legitimiert dies laut Kritikern nicht die Anwendung. Für Coaches insbesondere kann Nudging einen zu tiefen Eingriff in die Autonomie des Klienten darstellen. Self-Nudging kann hier – z.B. in der Umsetzungsbegleitung – eine sinnvolle Alternative sein, da es die Freiheit und Entscheidungsfähigkeit des Klienten nicht einschränkt. Indem Klienten dabei völliger Gestaltungsfreiraum gelassen wird, kann Self-Nudging das Gefühl der Selbstwirksamkeit stärken, das für ein gelungenes Coaching von entscheidender Bedeutung ist. Wenn Coaches mit Self-Nudges arbeiten möchten, ist völlige Transparenz über den gesamten Prozess hinweg unerlässlich und natürlich muss der Klient der Anwendung freiwillig zustimmen.

Literatur

Herzog, S. M. & Hertwig, R. (2025). Boosting. Annual Review of Psychology, S. 851–881.

Krisam, M.; Philipsborn, P. von & Meder, B. (2017). Nudging in der Primärprävention. Gesundheitswesen, 2, S. 117–123.

Mertens, S.; Herberz, M.; Hahnel, U. J. J. & Brosch, T. (2021). The effectiveness of nudging. Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America. Abgerufen am 23.09.2025: www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.2107346118

Thaler, R. H. & Sunstein, C. R. (2009). Nudge. Berlin: Econ.

Wolff, J. (2015). Eine Annäherung an das Nudge-Konzept nach Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein aus rechtswissenschaftlicher Sicht. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung, 2, S. 194–209.

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