
Es gibt kein Davonkommen vor Künstlicher Intelligenz, egal welcher Themenkomplex aufgegriffen wird: „Ick bün all dor“. Oder, wie es Emily M. Engelhardt und Stefan Kühne in ihrem Buch formulieren: KI ist gekommen, um zu bleiben. So auch in der beraterischen Praxis.
Allerdings ist Vorsicht geboten, denn KI „halluziniert“ (noch) sehr oft. Bei gegebenem Erkenntniswunsch, aber unterschiedlich formulierten Prompts generiert KI widersprüchliche, auch faktisch falsche Ergebnisse. Umso wichtiger ist das vorliegende Buch. Die Autoren widmen sich mit großer Umsicht dem Thema KI – insbesondere in systemisch fundierten Beratungs- und Therapiesettings.
Systemisches Denken und KI-Logik haben durchaus Ähnlichkeiten, etwa was das Erkennen von Mustern anbelangt, einem grundlegendem Prinzip beraterischen Verstehens. Mustererkennen ist auch eine der Stärken von KI; schneller und vollständiger als die Beratungsperson findet KI stereotype Redewendungen oder Metaphern im Klientengespräch, allerdings auf oberflächlicher Ebene. Grundsätzlich ist die Interpretation und Bewertung der dargestellten Funde folglich Aufgabe des Therapeuten und Coachs; sie sind verantwortlich dafür, ob und wie diese in den Beratungsprozess einfließen und ob sie überhaupt den Grundprinzipien systemischer Beratung entsprechen. Engelhardt und Kühne geben dazu – und auch im Weiteren – immer wieder anschauliche Beispiele aus der Beratungspraxis. Sehr gelungen und beherzigenswert ist daher das Kapitel zum verantwortungsvollen Einsatz mit zehn Punkten zur Entscheidung, ob im gegebenen Zusammenhang der Einsatz von KI zu empfehlen ist.
Rolle und Funktion des Menschen im Beratungskontext sind angesichts der möglichen Anthropomorphisierung von KI kritisch zu hinterfragen. Engelhardt und Kühne verweisen auf den sogenannten Eliza-Effekt, der zeigt, dass Menschen bereit sind, einem Computersystem Sachverhalte anzuvertrauen, die sie mit anderen nicht teilen mögen, sogenannte parasoziale Effekte.
Engelhardt und Kühne haben ihre Veröffentlichung in vier Kapitel gegliedert, nach zwei einführenden Teilen wird KI als Weggefährte im systemischen Beratungsprozess dargestellt. Nutzen, aber auch das Scheitern von KI sind Thema. Unterstützung bei der Hypothesenbildung, KI als Reflecting Team, KI als systemischer Fragengenerator, aber auch das Scheitern z.B. am Vier Folien Modell: KI ist nicht in der Lage, eigene mangelnde Informiertheit angemessen zu signalisieren.
Die Autoren führen viele konkrete Beispiele an: Beratungsszenarien, Rollenspiel, Fallstudienerstellung – hier kann KI nützliche Denkanstöße liefern, aber niemals individuelle beraterische Aktivitäten ersetzen.
In den letzten Kapiteln umreißen und hinterfragen Engelhardt und Kühne zukünftige Entwicklungswege, etwa wenn mit ChatGPT als drittem Partner aus einem Dialog ein Trialog in der Klientenberatung entsteht.
Fazit: Ein Buch, das dazu motiviert, sich tiefer mit dem Thema KI im Beratungsprozess zu beschäftigen. Es ermuntert dazu, neugierig zu sein und experimentierfreudig dieses machtvolle Instrument zu nutzen und kritisch zu bewerten. Profitieren werden sowohl Beratungsanfänger wie auch erfahrene Coaches und Therapeuten. Empfehlenswerte Lektüre!
Dr. Christine Kaul