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Alexander Poraj

Im Hier und Jetzt. Achtsamkeit in Coaching und Begleitung.

Rezension von Günther Mohr

4 Min.

Alexander Poraj, der spirituelle Leiter des Zentrums für west-östliche Weisheit im Benediktushof, stellt seinen Coaching-Ansatz vor. Er fädelt das Thema über Achtsamkeit ein. Viele verstehen unter Achtsamkeit ein Kürzel für Entspannung und Abstand vom Stress. Der Autor plädiert allerdings dafür, von einer Definition abzusehen, weil sie die Wirklichkeit festzuhalten versucht. Er ruft auf, eher den Prozess des gemeinsamen Definierens zu betrachten und präferiert, dass Achtsamkeit das radikale in die Gegenwart Kommen bedeutet. Viele seien ständig in ihren Gedanken, in der Vergangenheit oder ihren Vorstellungen, aber nicht in der unmittelbaren Wahrnehmung des Gegenwärtigen. Poraj steht in der Tradition des Zen, in der auch das Hinnehmen dessen, was dem Menschen begegnet, ein zentrales Ziel ist. Dahinter steht Buddhas edle Grundwahrheit, dass Leiden aus den Strebungen entsteht. Wenn Menschen die Strebungen beenden, endet das Leiden. Poraj empfiehlt das Nicht-Wissen, was bedeute, Bilder und Worte kommen und einfach vorbeiziehen zu lassen. Das gelte es zu erreichen. Aber Menschen suchten Achtsamkeit oft nicht wegen eines unmittelbareren Gegenwartsbezugs, sondern weil sie sich erhofften, sich damit besser zu fühlen. Damit sei das Streben nach Achtsamkeit aber keineswegs mehr absichtslos. Achtsamkeit werde funktionalisiert.
    
Beim Thema Coaching begegnet die Zen-Perspektive der Schwierigkeit, dass es nach Zen-Vorstellung kein Ich oder zumindest kein irgendwie unabhängiges, abgrenzbares Ich gibt, das denkt und eigenständig agiert. Es ist nach dem Zen eher andersherum. Durch das Denken wird immer wieder ein Ich konstruiert, weil Menschen sich offensichtlich danach sehnen. Wer oder was soll dann aber der Adressat des Coachings sein? Aus der Bredouille kommt Poraj heraus, indem er sich darauf verständigt, dass hier dennoch Prozesse existieren, ein Ich-Konstrukt aufrechtzuerhalten.

Weiterhin nimmt der Autor an, dass Menschen sich selbst kaum verändern wollen. „Etwas Wichtiges sollten wir uns eingestehen – und zwar die Tatsache, dass wir uns nicht wirklich ändern wollen. Ich behaupte sogar, dass wir insgeheim so manches Coaching oder Training in Anspruch nehmen, damit wir so bleiben können, wie wir sind.“ (S. 145)

Der Autor beschreibt im Folgenden, was aus meiner Sicht etwas im Widerspruch zu seiner Ich-Konstrukt-Theorie steht, sehr detailliert drei grundsätzliche Charaktertypen: den Aktiven, den Vorsichtigen und den Hedonisten. Das Dreier-Modell erfasst sehr interessante Reaktionsrichtungen, die man im Coaching durchaus antrifft – aber gibt es wirklich nur diese drei? Poraj vertieft, welche Vorgehensweise er bei den einzelnen Typen wählt, obwohl er auch hier einräumt: „In aller Regel möchten wir einfach als der gleiche Charakter länger am Leben bleiben. Und das bedeutet nichts anderes, als etwas komfortabler in der bereits gewohnten Komfortzone zu existieren.“ (S. 143)

Was Poraj (wie auch in seinen früheren Büchern) zunächst außer Acht lässt, ist die Ebene des Fühlens. Gefühle und Emotionen haben einen ganz eigenen Charakter im Leben des Menschen. In den folgenden Vorschlägen zum Coachen der einzelnen Typen spielen Gefühle jedoch eine gewisse Rolle. Dies ist gut. Denn mit starken Gefühlen konditionierte Muster werden eher als zur Ich-Identität gehörig erlebt als weniger intensive.

Das Buch ist – wie üblich bei Poraj – von außerordentlich hoher sprachlicher Qualität. Auch die Zitate, mit denen er Kapitel überschreibt, sind sehr passend. Schade ist, dass der Autor seine Konzepte nicht mit Literaturhinweisen versieht. So erinnert z.B. sein Drei-Typen-Modell sehr an Grundgedanken im Enneagramm. Auch die Drei-Ebenen-Betrachtung Kopf-Herz-Bauch ist schon vorher verwendet worden. Die im Anhang angegebenen Literaturempfehlungen sind etwas merkwürdig. Ein Enneagrammbuch wird hier ohne Zusammenhang erwähnt, dann noch Talebs „Antifragilität“, das unter den Resilienzbüchern nicht gerade empfehlenswert erscheint, weil es einen sehr anmaßend geschriebenen Ansatz darstellt.

Fazit: Insgesamt ein sehr inspirierendes, anregendes, aber auch Diskussion provozierendes Werk. Den Zen-Gedanken auf das Coaching zu übertragen und die besondere Sicht auf das Ich als Ergebnis und nicht Steuerer des Denkens zu vermitteln, gelingt. So besticht das Buch durch klare Analysen und interessante Perspektiven.

Günther Mohr

Hofheim
www.mohr-coaching.de