Heidi Möller

Beratung in einer ratlosen Arbeitswelt. Göttingen: VR.

Rezension von Dr. Christine Seiger

4 Min.

Die Arbeitswelt ist entgrenzt, das wissen wir: Wann, wie lange und wo man arbeitet, wird immer flexibler, die Berufsbiografie sowieso, die Halbwertszeit unseres Wissens sinkt, Werte wandeln sich, Employability und Arbeitskraftunternehmerpersönlichkeit sind neue Themen. Diese Veränderungen fordern jedoch nicht nur die Berufstätigen selbst heraus, sondern auch diejenigen, die sie beraten wollen - und Heidi Möller: In ihrem Buch beschreibt sie in zehn Beiträgen, was eine "ratlose Arbeitswelt" für die Beratung bedeutet, bei fünf davon sind Koautor(inn)en beteiligt.
Im ersten Kapitel wird die "entgrenzte Arbeitswelt", wie teilweise oben zusammengefasst, auf den Punkt gebracht - mitsamt ihren Implikationen für die unzähligen Beratungsformate und auch die Weiterbildung. Diese ist ein Riesenmarkt geworden, wohl mitbedingt durch die Forderung nach lebenslangem Lernen. Wer soll sich da noch auskennen?
Die Beratungswissenschaft! Ihre Aufgabe sei es, "den Dschungel zu lichten", Kriterien zu entwickeln und Forschung zu betreiben, um den Kunden zu helfen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Hierzu stellt Möller einige Fragen und übersieht dabei nicht, dass auch die "Beratungsformate entgrenzt" werden und Beratende selbst "Arbeitskraftunternehmerpersönlichkeiten" sind.
In den anderen Beiträgen werden diese Überlegungen auf konkrete Anwendungsfelder übertragen. Etwa, was Frauen eigentlich daran hindert, erfolgreich zu sein - oder genauer: so erfolgreich, wie Männer es sind (Kap. 3). Hier geht es nicht um Umweltfaktoren, sondern Möller beleuchtet auf ihrem psychodynamischen Hintergrund die "inneren Erfolgsverhinderer": Kompetenzscham beispielsweise veranlasst Frauen dazu, erfolgreiche Entwürfe sofort wieder zu zerstören, Gleiches bewirken Loyalitätskonflikte, falls die eigene Mutter beruflich nicht erfolgreich war. Beratung könnte hier zum Beispiel dabei helfen, Erfolg als etwas Lustvolles zu besetzen.
In Kapitel 4 erfährt man, dass nur jeder zweite Betrieb älter wird als fünf Jahre. Deshalb ist der Bedarf an Beratung für diejenigen groß, die gezwungen sind, ihre Selbstständigkeit wieder aufzugeben. Beratende müssen ihnen nicht nur helfen, die Krise überhaupt erst einmal anzunehmen, mit dem schlechten Image des "Scheiterns" und entsprechenden Emotionen umzugehen, sie begleiten auch Trauerprozesse und arbeiten Übertragungen heraus. Daneben müssen Beratende sensibel sein gegenüber ihrem eigenen Veränderungswiderstand, denn auch sie sind schließlich auf "Reparieren" und Erfolg getrimmt.
"Das Karriereplateau" (Kap. 6) zu bewältigen, ist eine Herausforderung, der sich viele Berufstätige in der Mitte ihres Lebens stellen müssen: Berufliche Ziele sind erreicht, die Hierarchiestufen erklommen. Und jetzt? Wie diese Krise bewältigt wird, beeinflusst, ob die Mitarbeitenden auch weiterhin leistungsmotiviert sind. Möller beleuchtet den Karriere-Begriff, Bedingungsfaktoren des Plateaus und plädiert für eine "lebensphasenbezogene Personalentwicklung", die auch Mitarbeitende, die "es geschafft" haben, berücksichtigen muss. Hierzu entwickelt sie Leitfragen für Organisationen und beschreibt, als individuelle Lösung, Halls Verständnis von Karriere: protean career. Bei diesem Verständnis stehen Lernphasen, Werte und Bedürfnisse der Mitarbeitenden im Vordergrund - und nicht mehr der traditionelle Arbeitsvertrag.
In den weiteren Kapiteln geht es um psychodynamische Organisationsberatung, den Börsengang als Krise, ältere Arbeitnehmer/innen, Unternehmensnachfolge, Schamerleben in der Supervision sowie um den Wandel an österreichischen Universitäten.
Die Beiträge sind flüssig und verständlich geschrieben, sehr fundiert, und die theoretischen Überlegungen werden anhand praktischer Beispiele gut erklärt. Da diese Arbeiten aus den letzten zehn Jahren jedoch sehr vielfältig sind, hätte man sich eine integrierende Zusammenschau am Ende des Buches gewünscht.
Dieses Buch bietet einen reichen Fundus an Ideen, Beispielen und Implikationen zur Beratung in einer entgrenzten Arbeitswelt, der sich vor allem eignet für Beratende, die aktuelle Themen auch theoretisch hinterfragen wollen, und Wissenschaftler, die sich mit Beratung, Gesellschaft oder dem Berufsleben beschäftigen. Wer sich fix und fertige Tools wünscht, ist hier allerdings falsch: eher werden Leitfragen formuliert oder Fallbeispiele reflektiert. Die Gedanken muss man sich also (auch) selbst machen.

Dr. Christine Seiger

Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
christine.seiger@zhaw.ch
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