Wissenschaft

Das Coaching der Organisation

Sinn und Zweck von Coaching

In der Selbstbeschreibung von Coachs sind die Wirkungen und Möglichkeiten von Coaching schier unbegrenzt. Eine soziologische Fremdbeschreibung tut gut daran, sich diese Versprechen nicht zu Eigen zu machen. Stattdessen kann man fragen, wozu eigentlich die Klienten Coaching einsetzen?

19 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2009 am 26.05.2009

Es gehört zur ganz normalen Selbstdarstellung praktisch jeder Berufsgruppe, die Wirkkraft der eigenen Leistungen mehr oder weniger weit zu überschätzen. Insbesondere bei sich neu ausdifferenzierenden Berufsrollen ist es für Standesvertreter durchaus sinnvoll, den eigenen Zuständigkeitsbereich zunächst sehr weit anzusetzen. So verwundert es auch nicht weiter, wenn sich Coaches für fast alles zuständig erklären, wofür Menschen Rat brauchen. Man wildert dabei gern auch in fremden Gefilden, am intensivsten sicherlich in den angestammten Futterplätzen der Supervision. Gemessen an der Verwendungsflut allein des Wortes Coaching im Internet, in Fachpublikationen und in den öffentlichen Medien, ist der Erfolg der neuen Berufsrolle wirklich beeindruckend. Andererseits fällt es nicht schwer, Zweifel an der Neuartigkeit und an der tatsächlichen Verbreitung zu entwickeln – von der angebotenen Qualität der häufig selbsternannten Coachs noch gar nicht zu reden.

Coaching: Doch nur ein Mode-Gag?

In solchen Situation gibt es in den Sozialwissenschaften eine verbreite Reaktion zu beobachten: Man behandelt das Thema als reine Modeerscheinung. Verbunden ist damit eine radikale Rationalitätskritik. Man nimmt den Coaching-Praktikern nicht ab, dass Coaching eine ganz neue, viel effizientere Beratungsmethode ist, die sich wegen ihrer unleugbaren Vorteile zwangsläufig rasant verbreitet. Stattdessen hält man die Sache für eine Modewelle, die sich irgendwie verselbstständigt hat. Warum jetzt gerade Coaching, weiß man dabei zwar nicht so recht. Aber nachdem die Welle erstmal ins Rollen gekommen ist, will keiner mehr den Trend verschlafen, dem scheinbar die meisten Anderen schon folgen. In dieser Erklärung ist Coaching deshalb so erfolgreich, weil es „alle“ machen. Verbunden mit dem Modeverdacht ist eine eher abwertende Ansicht über die Leistungsfähigkeit des Modeartikels. Es boomt, weil es so gut verkauft wird – nicht, weil es so gut wirkt. Solange Gegenbeweise ausstehen, geht man davon aus, dass es gar nicht hilft.

Gerade Soziologen pflegen gerne eine derart kritische Haltung wider den gesellschaftlichen Modestrom. Das ist prinzipiell durchaus zu begrüßen. Schließlich hilft Kritik häufig, Positionen zu klären und Argumente zu schärfen. Gut ist zwar auch, dass immer wieder neue Themen und Moden entstehen – der wissenschaftliche Nachwuchs braucht unbearbeitete Felder zum Aufbau eigener Expertise und Reputation. Aber ein gehöriges Maß an kritischer Distanz hilft gegen das Risiko, sich mit dem Ruhm der morgen schon vergessenen Enzyklopädie einer thematischen Eintagsfliege bekleckert zu haben.

Eine Kritik der Kritik könnte jedoch lauten, dass man Kritik ihrer selbst willen äußert. Wenn man erstmal Soziologe ist, müsse man sich halt daran messen lassen, in allem „das Haar in der Suppe“ zu finden. Soziologen müssten irgendwie Freude an der Provokation haben, sonst hätten sie einen anderen Beruf gewählt. Außerdem würden sie von Fachkollegen in Prüfungen und bei Stellenbesetzungen insbesondere nach ihrem kritischen Potenzial bewertet. Soziologie funktioniere nun mal als „gesellschaftliche Opposition“.

Für die Geschichte der Soziologie und ihren gesellschaftlichen Stellenwert (gerade in der und in Erinnerung an die 68er-Generation) hat das seine Plausibilität. Für eine ernst gemeinte Frage, was Coaching denn nun wirklich bringt, kommt man damit zu keiner Antwort. Ein weiteres, meist uneingestandenes Problem der modekritischen Sozialwissenschaft ist, dass man zwangsläufig die Abnehmer der Mode, also die Klienten, für ziemlich bescheuert halten muss. Weshalb sollten sie sonst immer wieder neuen Moden und Gurus auf den Leim gehen, selbst nachdem die kritische Forschung doch längst darüber aufgeklärt hat?

Leider wirken die Antworten der schreibenden Coachs auf die Wirksamkeitsfrage häufig auch nicht gerade seriös. Überschreitet der Wert für das Return-on-Coaching mal die 20- oder 30-Prozent-Marke, wird man schon irgendwie stutzig. So richtig lustig wird’s dann, wenn es die 100-Prozent-Marke überschreitet. Aber hier ist noch lange nicht Schluss. Die Lacher der Coaching-Literatur sind die 545 Prozent, die ein gewisser Joy McGovern mit Kollegen errechnet haben will – streng wissenschaftlich versteht sich. Da kommt wirklich Freude auf: Joy! Getoppt wird das Ganze noch von den „Findings“ eines gewissen Merrill C. Anderson, der auf einen Wert von 788 Prozent kommt. Na klar, hatten wir schon geahnt, so um die 790 Prozent! Komisch nur, dass Unternehmen überhaupt noch was anderes machen, als ihre Leute coachen zu lassen.

Solche unglaublichen – und leider auch unglaubwürdigen – Werte bringen die Coaching-Szene genauso wie die damit befasste Sozialwissenschaft in Verruf. Eigentlich kann man sich hier als Wissenschaftler nur noch die Finger verbrennen; zumal als Soziologe, der es eigentlich besser wissen müsste. Für ihn gefährdet nachweisliche Naivität die Versetzung in die nächste Karrierestufe.

Feldzugang: Gespräche mit Gatekeepern

Der Weg, den die hier vorgestellte Arbeit eingeschlagen hat, hält deshalb gebührlichen Abstand zu den Selbstbeweihräucherungen der Branche. Dennoch zeigt sie sich interessiert, was Coaching zu einem so überdurchschnittlich erfolgreichen Instrument der Personalentwicklung macht. Der Versuch, sich dem Feld auf wissenschaftlich kontrollierbaren Pfaden zu nähern, führt über die zahlenden Kunden. Die sollten doch Erklärungen haben, wofür die teilweise sehr ansehnlichen Stundensätze fällig werden. Hier finden sich vor allem Unternehmen, aber auch öffentliche Verwaltungen, Krankenhäuser, Medienanstalten, selbst Gewerkschaften und Kirchen. Jedenfalls in großen, gar nicht so selten aber auch in mittelgroßen Organisationen findet man Coaching-Aktivitäten.

Das mag nicht weiter verwundern. Es finden sich aber auch eigens mit dem kontrollierten Einsatz von Coaching befasste Stellen. Diese Stellen bieten nicht nur den Vorteil, einen guten Überblick über den Einsatz von Coaching in der eigenen Organisation zu haben. Sie haben auch eine vergleichsweise gute Übersicht über die recht nebulöse Anbieterseite. Sie sind eine Art Mittler und Torwächter zwischen der schillernden Außenwelt der Coaching-Angebote und der stärker an Regeln orientierten Innenwelt der Organisationen. Ein Gespräch mit diesen Gatekeepern drängt sich geradezu auf, wenn man etwas darüber erfahren will, wozu Organisationen Coaching tatsächlich einsetzen. Deshalb wurden Experteninterviews mit Gatekeepern aus Unternehmen und Organisationen die Basis für die Forschungsarbeit ausgewählt. Insgesamt konnten 18 dieser Gespräche ausgewertet werden.

Die Organisation von Coaching

Gatekeeper sind in der Regel Personalentwickler. Solche Gatekeeper sorgen dafür, dass Coaching nicht deshalb eingesetzt wird, weil gerade mal wieder „eine Sau durchs Dorf“ getrieben wird. Sie legitimieren ihre Stelle damit, die Mode am Markt nicht zu einer Mode in der Organisation werden zu lassen. Stattdessen scannen sie das Coaching-Angebot nach eigenen Qualitätskriterien. Dazu gibt es mehr oder weniger elaborierte Verfahren, vom Aktivieren des vorhandenen PE-Netzwerks bis hin zu eigenen Assessment Centern für Coachs. Daraus resultiert dann eine Art Liste oder Datenbank, die für geeignet befundene Coachs und deren Leistungsprofile führt.

Wenn man bei den Gatekeepern nach dem Sinn und Zweck von Coaching fragt, merkt man schnell zumindest eins: Sie sind jedenfalls nicht so doof, blindlings einer Mode nachzulaufen, wie das die oben schon erwähnte „kritische“ Sozialforschung (uneingestanden) unterstellt. Ganz im Gegenteil entwickeln Organisationen mit ihren Gatekeeperstellen eine ungeheure Expertise im Umgang mit Coaching. Sie kennen nicht nur die Anbieterseite und haben einen vergleichsweise guten Eindruck von der angebotenen Beratungsqualität. Sie haben auch Kriterien dafür entwickelt, für welche organisationale Problemlagen Coaching in Frage kommt.

Interessanterweise stellt jeder Gatekeeper das hauseigene Verfahren für den Einsatz von Coaching weitgehend als Unikat dar. Der Austausch zwischen Gatekeepern verschiedener Organisationen ist relativ dürftig, so dass in jeder Organisation das Coaching-Rad ein stückweit neu erfunden wird. Spätestens nach zehn oder zwölf Interviews merkt man jedoch, dass sich die Verfahren doch sehr ähneln.

Das gilt nicht nur für verschiedene Unternehmen, sondern auch für verschiedene Organisationstypen. Die Auswahl geeigneter Coachs, das Zusammenbringen von Coachs und Klienten sowie die Feststellung eines Coaching-Bedarfs beim Personal unterscheiden sich zwischen Unternehmen, Gewerkschaften, Verwaltungen und Kirchen nicht wesentlich: Überall legt man besonderes Augenmerk auf die individuelle Qualifizierung der Coachs. Die schnelle Passung von Coach und Klient versucht man fast immer durch eine Vorauswahl von und durch Vorgespräche mit etwa drei Coachs zu bewirken. Und überall geht es um die Bearbeitung besonderer, persönlicher Belastungen durch die berufliche Rolle des Klienten.

Die Personalisierung organisationaler Probleme

Bevor man nun danach fragt, wozu Organisationen Coaching (und ähnliche personenzentrierte Beratungsformate) einsetzen, muss das Verhältnis von persönlichen und organisationalen Problemen geklärt werden. In den Auskünften der Gatekeeper werden die Auslöseprobleme für Coaching häufig in der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur der Klienten verortet:

  • Da wird der Widerstand gegen eine plötzlich betriebswirtschaftliche Ausrichtung eines Museums durch die berufliche Prägung der Mitarbeiter „erklärt“: Es seien halt „Konservatoren“, die – „wie der Name schon sagt“ – doch lieber an den bestehenden Strukturen festhielten. Hier könne man mit Coaching eine dysfunktional gewordene Sozialisation korrigieren.

  • Ein anderer Gatekeeper berichtet, dass ein neuer Chef persönlich zu autoritär führe und deshalb die Loyalität des Teams stark gelitten habe. Coaching könne hier auch unter anderem mit Kommunikationstrainings die autoritäre Veranlagung des Chefs korrigieren helfen.

  • In einem dritten Fall berichtet eine Gatekeeperin von einem massiven Konflikt. Der Konflikt war schon so weit eskaliert, dass bereits Morddrohungen ausgesprochen worden seien. Auf die Nachfrage, warum die betreffenden Personen nicht einfach gekündigt wurden oder weshalb nicht sogar die Polizei verständigt worden sei, entgegnet die Gatekeeperin: „Ja, weil einfach die Arbeitsleistung darunter leidet. Der eine war ein Zulieferer von dem andern!“

Aus diesen exemplarischen Fallberichten kann man schon die gesamte Erkenntnis der hier vorgestellten Arbeit rekonstruieren. Doch zunächst muss erläutert werden, warum man berechtigte Zweifel daran haben kann, die Ursachen für diese Probleme in den Persönlichkeiten der späteren Coaching-Klienten zu sehen.

In der Organisationsforschung ist lange bekannt, dass sich Organisationen nicht widerspruchsfrei etwa auf ein Hauptziel hin organisieren lassen. Man kann sich nicht allein darauf beschränken, gute Autos bauen zu wollen. Zugleich – und keineswegs nachrangig – muss man Aktionäre begeistern, Personal entwickeln, Karrieren ermöglichen, die Produktion verschlanken, den Vertrieb beleben, die Rendite steigern, für Nachhaltigkeit, die Umwelt und Gleichberechtigung sorgen und so weiter. In mancher Theorie mag man noch daran glauben, dass sich so unterschiedliche Wertorientierungen in ein vernünftiges Zielesystem pressen lassen. Die Organisationsforschung hat jedoch vielfach nachgewiesen, dass sich das wirkliche Verhalten in Organisationen nicht an den übergeordneten Zielen orientiert. Stattdessen richtet man sich nach den Vorgaben, die eben noch für die eigene Stelle, das eigene Team oder die eigene Abteilung sinnvoll sind.

Die Bildung von Abteilungen, Teams und verschiedenen Stellen sind Strategien, um die Widersprüche für das Personal zu verringern. Wenigstens muss sich dann beispielsweise der Produktionsleiter nicht zugleich um Produktion, Vertrieb, Entwicklung und gesellschaftliche Lobbygruppen kümmern. Spätestens jedoch an nächst höherer Hierarchiestufe, die für mehrere widersprüchliche Teams oder Abteilungen zuständig zeichnet, treffen die Gegensätze wieder aufeinander. Darin besteht die ureigenste Aufgabe des Managements, solche paradoxen Anforderungen auszuhalten und von Fall zu Fall immer wieder neu und opportun zu entscheiden.

Es lässt sich in der Wirtschaftsgeschichte leicht nachvollziehen, dass in Unternehmen immer mehr verschiedene Wertorientierungen groß geschrieben werden. Im vergangenen Jahrhundert gab es Megatrends zu rationeller Produktion, Markt- und Kundenorientierung, Kapitalmarktorientierung, Controlling et cetera. Es handelt sich hier nicht um Modewellen, die kommen und gehen, sondern um verschiedenartige Wertorientierung, die kommen und bleiben. Das hat die Managementfunktion notwendig werden lassen – und das macht das Arbeiten und Managen in Unternehmen tendenziell immer widersprüchlicher und belastender.

Reibungen, Widersprüche und Konflikte sind vorprogrammiert. Ein Weg zurück ist aber nicht wirklich denkbar. Man kann – und will – nicht mehr auf Kundenorientierung, auf Kostenkontrolle, auf Umweltschutz oder Gleichberechtigung verzichten. Das Problem dabei ist, dass Organisationen ihre Widersprüche und Konflikte nicht offiziell anerkennen können. In aller Öffentlichkeit präsentieren sie sich widerspruchsfrei und rational. Man kann nicht offen als Widerspruch anerkennen, dass man Armut predigt und zugleich Reichtümer anhäuft, dass man Frieden will und zugleich Waffen schmiedet, dass man Leute versichert und zugleich verunsichert. Nur als formal widerspruchsfrei können Organisationen Personal für ihre Sache verpflichten, nur so bleiben sie als kollektive Einheit ansprechbar.

Neben Arbeitsteilung besteht eine weitere Möglichkeit, mit diesen Gegensätzen umzugehen, in der Personalisierung von Konflikten. Ein externer Beobachter sieht beispielsweise unlösbare Widersprüche zwischen der Produktions- und der PR-Abteilung eines Chemiekonzerns. Letztere bastelt vielleicht am grünen und frauenfreundlichen Image des Konzerns, während der männliche Produktionsleiter auf Umweltschutz prinzipiell allergisch reagiert. In Organisationen ist es jedoch häufig so, dass dann ein Konflikt zwischen Produktionsleiter und PR-Chefin als persönlicher Konflikt zugerechnet wird. Man schiebt die Konfliktursachen auf den „Nasen-Faktor“: die können sich eben nicht riechen. Das mag so sein. Dennoch finden die Streitenden Konfliktanlass und -ressourcen in den widersprüchlichen und doch jeweils unverzichtbaren Logiken ihrer Abteilungen. Die Personen wären wohl kaum in Konflikt geraten, wenn sie hintereinander in der Schlange an der Supermarktkasse gestanden oder sich auf einer Party kennen gelernt hätten. Man hätte sich uninteressant gefunden – und die Sache wäre damit gegessen gewesen. Bei solchen Konflikten handelt es sich um Organisationsparadoxien, die das Personal stellvertretend durchzustehen hat.

Natürlich sind nicht alle spezialisierten Logiken unverzichtbar. Wenn es zu viele Konflikte gibt, kann sich ein Deutscher Fußballbund überlegen, ob die Position eines Teammanagers nicht vielleicht doch eingespart werden kann. Doch meistens wird auch bei solchen Stellenstreichungen nicht auf die Wertorientierung an sich verzichtet, sondern die Aufgaben werden einfach weniger spezialisierten Stellen übertragen. Der Konflikt zwischen Abteilungen wird zu einem Konflikt innerhalb von Abteilungen umorganisiert. In jedem Fall entscheidet jedoch die Organisation, ob solche Konflikte und Problemlagen von den Stelleninhabern weiter auszuhalten sind oder ob sich etwas umorganisieren lässt.

Coaching als professionelle Methode, nichts zu ändern

Es gibt häufig gute Gründe, auf das Umorganisieren zu verzichten und stattdessen dem Personal Hilfe in der Bewältigung der belastenden Situation anzubieten. Personenbezogene Beratung übernimmt in diese Sinne eine doppelte Funktion:

  • Für den Klienten ist Coaching ein professionelles Ventil für Belastungen und Frustrationen der Berufsrolle.

  • Für die Organisation ist Coaching das Versprechen, dass das gecoachte Personal die Probleme der Organisation als eigene Probleme annimmt. Wenn man das Personal coachen lässt, erwartet man davon gerade keine grundlegenden Strukturänderungen, sondern allenfalls ein unauffälliges, lautloses Arrangieren mit der Situation.

Der Befund, Coaching schütze bestehende Organisationsstrukturen vor Veränderung, ist gegenüber der Selbstbeschreibung von Coaches als „Change Agents“ sicherlich provokant. Doch mit der Strukturschutzthese ist keine Abwertung verbunden. Ganz im Gegenteil: Solange und soweit Organisationen gleichzeitig viele widersprüchliche Werte verfolgen (wollen), also im eigentlichen Sinne des Wortes „modern“ sind, sich also nicht totalitär auf nur eine duale Logik (richtig/falsch) ausrichten, benötigen sie Personal, dass die Widersprüche und Friktionen aushält. Die paradoxen Anforderungen werden dann gerade nicht zum Gegenstand formaler Entscheidungsprozesse gemacht, bei denen man sich für einen Wert und gegen viele andere Werte entscheiden muss. In diesem Kontext funktioniert Coaching als ein bewahrendes und dadurch Möglichkeiten offen lassendes Instrument.  

Alternativen zum Coaching

Für diese Entlastungs- und Stabilisierungsfunktion gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Alternativen: Vom lästernden Betriebsklatsch, der heimlichen Freude an gelungenen Finten, die dem Gegner schaden, über das Ratsuchen bei Kollegen bis zum Ausheulen an der starken Schulter oder dem weichen Busen des Ehepartners. Andere, professionelle Alternativen sind Coaching, Supervision, Mentoring, Mediation und so weiter.

Die Vorteile der professionellen Betreuung besonderer Belastungen liegen auf der Hand:

  • Coachs und Supervisoren erkennen in der Regel zuverlässiger als Ehepartner und Kegelfreunde, wann Grenzen der Belastbarkeit überschritten wurden und sich psychische, psychosomatische oder physische Symptome ausbilden, die der ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung bedürfen.

  • Ferner kann die Organisation davon ausgehen, dass im Coaching seltener Intrigen gesponnen oder Revolutionen angezettelt werden als möglicherweise in verschlossenen Cliquen. Das Ausspionieren kann sich das Unternehmen bei Coaching sparen.

  • Und schließlich sind Coachs, im Vergleich zu Ehepartnern und Klatschkollegen, in viel weiterem Umfang verfüg- und belastbar.

 Dennoch zeigt der Verweis auf Alternativen, dass das Hohelied auf Coaching nicht allzu lautstark vorgetragen werden muss. Coaching ist ein formales Instrument mit bestimmten Vor- und Nachteilen im Kanon anderer, meist schon länger bewährter, formaler und informaler Alternativen. Das sehen auch Gatekeeper so und einer formuliert daher im Interview: „Coaching ist ein knappes Gut – und das soll es auch bleiben!“ 

Drei Indikationen für Coaching

So verschieden die einzelnen Anlässe für Coaching von den Gatekeepern auch beschrieben werden, so sind es letztlich doch drei typische Problemlagen:

  • es geht um die Behandlung personalisierter Konflikte;
  • um Widerstände des Personals gegen Reorganisation;
  • und um die Probleme von Vorgesetzten bei der Übernahme eines neuen Chefpostens.

Für Konflikte verfügen Organisationen über ein Notfallsystem: Hierarchie. Wenn zwei sich offen streiten, kann der Vorgesetzte den Konflikt formal entscheiden, notfalls durch Kündigung (-en). Bei weitem nicht alle Konflikte werden unter Einschaltung von Hierarchie entschieden. Die allermeisten kochen auf einer mehr oder weniger kleinen Flamme. Zu selten lassen sich klare Konfliktpositionen durchhalten. Selbst wenn man in einer Sache mit harten Bandagen kämpft, so ist man in anderen Situationen doch häufig wieder auf die Mitwirkung der Gegenspieler angewiesen. In der Regel fährt man daher besser, Zugeständnisse nicht prinzipiell zu verweigern, um in anderen Situationen diese zurück fordern zu können.

Wer dagegen einen Konflikt dem zuständigen Vorgesetzen zur Entscheidung vorlegt, muss sich seiner Sache schon sehr sicher sein, denn auch Vorgesetzte lassen sich nur ungern „auf eine Seite ziehen“. Drohen Konflikte offiziell zu werden, so liegt die Ursache nicht selten darin, dass die Konfliktparteien die Risiken der Formalisierung unterschätzen. In jedem Fall, kann die Organisation daran Interesse haben, eine hierarchische Entscheidung zu vermeiden. Denn das würde klare Verlierer mit dementsprechenden Loyalitäts- und Motivationsverlust erzeugen.

Coaching wird für solche drohenden Konflikteskalationen gerne eingesetzt. Wie leicht zu sehen ist, konkurriert es hier vor allem mit Mediation. Doch während Mediation beide Konfliktparteien an einen Tisch bringt, beschränkt sich Coaching auf die deeskalierende Betreuung einer Partei oder Person. Der Konflikt kann mit Coaching noch ein bisschen stärker im kommunikativen Latenzbereich der Organisation bleiben. Dafür spricht auch, dass Mediation den Konflikt schon offiziell anerkennt. In der Zuteilung von Coaching bleibt dagegen der eigentliche Streit häufig durch blumige und organisationsschnittige Umschreibungen unbenannt. Das erzeugt mehr Freiheitsräume in der Behandlung und weniger Aufmerksamkeit in der Beilegung.

Neben personalisierten Konflikten werden auch personalisierte Widerstände gegen Reorganisation mit Coaching bedacht. In einem Interview wurde beispielsweise vom Widerstand von Museumsmitarbeitern (der oben sogenannten „Konservatoren“) gegen eine Reform berichtet. In der Phantasie von manchen Managern, Beratern und Wissenschaftlern werden selbst weitreichende Reformen am Grünen Tisch beschlossen. Und weil dieser Beschluss von höchster Hierarchiestufe getragen werde, so die Vorstellung, müsse die Umsetzung nur ausgeführt werden. Treten wider Erwarten doch Widerstände auf, müssten diese persönlich motiviert sein. Dass die Planung selbst weitreichender Reformen immer nur einen kleinen Teil der Organisationswirklichkeit umfassen kann, wird dabei freilich nicht reflektiert. So gibt es immer viele ungesehene Nebenfolgen, je tiefgreifender die Reform, desto mehr. Es könnte der Widerstand sein, der überhaupt erst auf diese ungesehen, teils dysfunktionalen Nebenfolgen aufmerksam macht.

Zeichnet sich ein Scheitern der Reform ab, sind das Totschweigen oder eventuell noch das Auswechseln des damit identifizierten Managements keine selten gewählten Optionen. Eine andere oder gleichzeitig gewählte Reaktion liegt im Zurechnen des Widerstands auf einzelne Personen. Wenn diese nur wollten, müsste die Umsetzung reibungslos funktionieren.

Hier wird dann Coaching dazu eingesetzt, diese Widerstände zu bearbeiten und aufzulösen. Ob und wie das durch Coaching gelingt, ist bislang wenig erforscht. Fest steht, dass auch hier Coaching reformierte Organisationsstrukturen nicht noch mal verändern, sondern bewahren soll.

Schließlich findet Coaching häufig dann Anwendung, wenn ein neuer Chef seinen Dienst antritt und es in der Folge zu unerwarteten Problemen kommt. Solche Probleme machen sich vor allem dadurch bemerkbar, dass Motivation und Loyalität im Team des neuen Chefs abnehmen oder Teamkonflikte zunehmen. Teilweise kommt es zu Konflikten zwischen informellen Gruppenführern und dem neuen Chef. Besonders problematisiert wird hier, wenn dann der Vorgesetzte besonders hierarchisch auftritt und versucht, sich mit formalen Druckmitteln durchzusetzen.

Auch hier findet Coaching als nachsorgende Hilfestellung seinen Einsatz: Durch Coaching soll vermieden werden, dass der neue Chef frustriert wird und den neuen Posten gleich wieder aufgibt. Es sollen aber auch formal sichtbare Konsequenzen im Team, wie Abmahnungen, Versetzung oder Entlassungen, vermieden werden. Stattdessen hofft man, durch Coaching problematische Neubesetzungen doch noch in den Griff zu bekommen, ohne an der Personalie nochmals zu rütteln.

Die Forschungsergebnisse und ihre Grenzen 

Im Wesentlichen hat meine Forschungsarbeit zwei Aufgaben zu bearbeiten versucht:

  • Anschluss an den Wissensstand der soziologischen Organisationsforschung: Die verbreitete Coaching-Literatur erreicht hier oft nicht den wissenschaftlichen Diskussionsstand. Das liegt vermutlich besonders daran, dass die Organisationsperspektive generell unterbelichtet ist. Stattdessen werden einerseits gesellschaftstheoretische Allgemeinplätze wie Globalisierung, Komplexitätssteigerung und dergleichen mehr zitiert, um eine Notwendigkeit für diese neu entstandene Berufsgruppe zu legitimieren. Andererseits begnügt man sich mit psychologischen oder psychologisierenden Erklärungen.

  • Eine Antwort auf die Frage, wozu Organisationen Coaching einsetzen: Dabei zeigte sich, dass Coaching eher selten, dann aber gezielt zur Anwendung kommt. Außerdem handelt es sich vor allem um die Bearbeitung organisationaler Konflikte, von Widerständen gegen Reformen und von Problemen mit neuen Vorgesetzten.

Vor allem in einer Hinsicht ist die Arbeit jedoch unbefriedigend: es fehlt an der direkten Beforschung von Coaching-Sitzungen. Der Feldzugang ist hier aufgrund der Vertraulichkeit relativ schwer zu realisieren. So sind in der Literatur bis heute kaum Protokolle und Analysen von personenzentrierten Beratungssitzungen verfügbar. Aus organisationssoziologischer Sicht liegt hier die größte Forschungslücke. Besonders interessant dürfte dabei sein, ob sich das Zurechnen organisationaler Probleme auf Personen in der Beratungsinteraktion selbst wiederholt. Erste, vereinzelte Forschungsergebnisse sprechen dafür. Soziologisch notwendig wäre das vermutlich nicht. Was spricht dagegen, Klienten offen darüber aufzuklären, dass sie Organisationen gewissermaßen den Rücken freihalten, in dem sie die Probleme der Organisation so behandeln (lassen), als wären es ihre eigenen?

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