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Methoden

Der Begriff Systemisches Coaching

Ein Überblick

6 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 05 | 2002

Wie viele Coaching-Begriffe wird auch das "Systemische Coaching" zunehmend inflationär benutzt. Veröffentlichungen zu dem Thema gibt es seit Anfang der 90er Jahre und in den letzten beiden Jahren sind mindestens vier deutschsprachige Bücher zu der Thematik erschienen. Daher scheint es mir sinnvoll, das Thema etwas näher zu beschreiben - zumal zahlreiche "systemische" Ansätze Substanz vermissen lassen. Auf Nachfrage wird dann z.B. erläutert, das mit "systemisch" gemeint sei, "dass alles miteinander zusammenhängt". Derartige Aussagen sind neben einem begrenzten Informationsgehalt nicht unbedingt ein Zeugnis beraterischer Kompetenz - insbesondere, wenn das alles sein sollte, auf dem ein Beratungskonzept beruht.

Fundiert arbeitende Coachs und deren Veröffentlichungen bieten erfreulicherweise aber durchaus die Möglichkeit, den Begriff des "Systemischen Coachings" greifbarer zu machen. Zusammengefasst lassen sich folgende gemeinsame Charakteristika von systemischen Ansätzen ausmachen:

Systemisch zu arbeiten bedeutet, vom eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Denken Abstand zu gewinnen.

Diese zunächst vielleicht simpel erscheinende Forderung hat für Coach und Klient weitreichende Auswirkungen. Dies sei anhand eines Beispiels verdeutlicht: Oft erwarten Führungskräfte von ihrem Coach, dass er ihnen ein paar "Tricks" beibringt, damit die Mitarbeiter so arbeiten wie die Führungskraft es für richtig hält. Erfahrene Führungskräfte (und Coachs) wissen natürlich, dass dies nicht funktioniert (nebenbei bemerkt: wenn es solche Tricks wirklich gäbe, wären sie aufgrund ihres Erfolges wohl längst jedem bekannt).

Doch auch wenn solche Tricks funktionieren würden, welche Auswirkungen hätte es wohl mittel- bis langfristig, wenn eine Führungskraft in nahezu selbstherrlicher Weise (darauf läuft es dann nämlich hinaus) einzig das durchsetzt, was sie für richtig hält? Größere Probleme wären hier wohl vorprogrammiert.

Ein gewissenhaft arbeitender Coach kann daher keine "Tipps" oder "Tricks" geben, sondern zeigt dem Klienten, wohin derartige Wünsche führen bzw. führen würden.
Auch wenn eine Führungskraft dies eingesehen hat und dann stattdessen z.B. einen (neuen) "Führungsstil" erlernen will, zeigt der systemische Ansatz: Der Klient denkt immer noch eindimensional. Hinter solchen Absichten steckt die Erwartung, ein "besserer" Führungsstil bedeutet quasi automatisch, bestimmte Ergebnisse zu erreichen. Auch dies ist im systemischen Ansatz nicht ausreichend, was das nächste Charakteristikum von systemischen Ansätzen belegt:

Es sollte stets das gesamte "Klientensystem" im Coaching berücksichtigt werden.

Solche Systeme umfassen nicht nur die Personen (z.B. den Klienten und seine Mitarbeiter, Kollegen, Vorgesetzte usw.), sondern auch deren subjektive Deutungsmuster, (in)offizielle Regeln, sich wiederholende Verhaltensmuster, die Umwelt des Klientensystems (z.B. Kunden, Zulieferer) und seine bisherige Entwicklung.

Derart komplexe Systeme entziehen sich einer direkten Kontrollierbarkeit - oft eine bittere Erkenntnis für manche unter Kontrollzwang leidende Führungskraft. Der Coach (und idealerweise am Ende des Coachings auch der Klient) ist sich darüber bewusst und kann daher auch nicht ein bestimmtes Ergebnis seiner Beratung versprechen.

Für den Coach bedeutet dies ferner, dass er das Umfeld des Klienten zusammen mit diesem nahezu penibel rekonstruieren muss, damit dies samt seiner Zusammenhänge verstanden werden kann und bei der Zielfindung auch mögliche "Risiken und Nebenwirkungen" abgeschätzt und miteingeplant werden können. Dies bleibt aber letztlich immer die Aufgabe des Klienten, der Coach begleitet diesen Prozess. Im systemischen Ansatz kann er den Klienten nicht einmal verstehen, denn:

Das Denkmuster des Beraters ist anders, nicht "besser".

Der Berater sieht als Außenstehender die Angelegenheiten des Klienten aus einer anderen Perspektive. Dies kann (muss aber nicht zwangsläufig) für den Klienten hilfreich sein. Letztlich geht es nicht darum, dass der Coach den Klienten "versteht" (was in "strengen" systemisch-konstruktivistischen Ansätzen ohnehin verneint wird), sondern dass der Klient für sich eine Lösung findet. Daraus resultiert auch der nächste Aspekt des systemischen Coachings:

Das Klientensystem entscheidet, ob eine Lösung oder ein Ziel sinnvoll ist.

"Gängige" Unternehmensberatungen vertreten oftmals die Idee, Sie wüssten als Spezialisten besser als ihre Auftraggeber, was "richtig" ist. In systemischen Ansätzen wird hingegen das Klientensystem als Experte in eigener Sache gesehen. Teilweise ist das Expertenwissen vielleicht unbewusst, dann ist es Aufgabe des Coachs, dieses Wissen bewusst zu machen und bei seiner Nutzbarmachung zu helfen. Egal wie gut die Ideen des Coachs sind, entscheidend ist ausschließlich, was das Klientensystem für angemessen hält. Damit wird auch eher sichergestellt, dass eine Lösung zum System passt, von diesem akzeptiert wird und überhaupt umsetzbar ist.

Der Coach wird dabei natürlich nicht zum blinden Erfüllungsgehilfen, sondern hilft dem Klienten, seine Situation umfassend einzuschätzen und auf der Basis dieser (neuen) Sichtweise (neue) Entscheidungen zu treffen. Der Coach kann also nicht der "Macher" sein, sondern er ist Begleiter, denn:

Die Kompetenz des Klientensystems übertrifft immer die Kompetenz des Coachs.

Damit wird der Coach nicht überflüssig, denn die vorhandene Kompetenz wird oftmals nicht umgesetzt. Der Coach sollte daher im positiven Sinne bescheiden sein und das Systemwissen zu nutzen verstehen. Dies kann z.B. durch Interviews und Workshops geschehen, in denen das vorhandene Know-how zusammengetragen wird. Derartige Aufgaben können natürlich auch dem Klienten übertragen werden. Die Kompetenz des Klientensystems zu nutzen bedeutet, sich nicht auf die Kompetenzen des Coachs und des Klienten zu verlassen, sondern das Wissen anderer Personen zu integrieren. Ein systemischer Coach wird somit auf keinen Fall einen Rat von außen "aufdrücken". Im Gegenteil: Ihm ist daran gelegen, dem Klienten keine Verantwortung abzunehmen.

Dem Coach ist bewusst, dass er eine subjektive Werthaltung hat und diese nicht mit der des Klientensystems übereinstimmen muss. Jeder Mensch denkt und handelt nach seinem eigenen Schema, es gibt nicht "das" Schema oder "die" Wirklichkeit.

Insgesamt zeigt, sich dass die Idee des "Systemischen Coachings" sehr nahe an den Grundideen des Coachings als Prozessberatung liegt. Dies ist insofern bemerkenswert, dass hier Praxis und Theorie - genauer: Systemtheorie - aufeinandertreffen und sich gegenseitig ergänzen. Die Theorie erhält die Möglichkeit zur praktischen Anwendung. Die Praxis eine theoretische Fundierung.

Zu den Grundideen der systemischen Coaching-Ansätze lassen sich noch zahlreiche andere Schlussfolgerungen für die konkrete Beratungsarbeit ableiten. 

Literatur

  • Radatz, Sonja (2000). Beratung ohne Ratschlag. Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen. Wien: ISCT
  • König, Eckard & Volmer, Gerda (2002). Systemisches Coaching. Handbuch für Führungskräfte, Berater und Trainer. Weinheim: Beltz

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