Coaching-Tools

Ressourcenorientierte Genogrammarbeit

Ein Coaching-Tool

11 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2012 am 21.11.2012

Kurzbeschreibung

Die Genogrammarbeit ist eine bewährte Methode aus der Familientherapie. Sie lässt im Coaching einen schnellen und intensiven Blick in die Vergangenheit zu. Auch wenn die Aufdeckung verdrängter Muster und Prägungen im ersten Moment emotional belastend ist, kann dieser Prozess durch das Herausarbeiten der familienimmanenten Ressourcen in eine positive Verstärkung umgewandelt werden.

Im Folgenden werden der generelle Aufbau eines Genogramms, dessen Auswertung durch Hypothesenbildung und die Methode der Ressourcenorientierung beschrieben. Ein Fallbeispiel zeigt, wie sich die Ressourcenorientierung in der Coaching-Praxis einsetzen lässt.

Anwendungsbereiche

Für den Ausbau emotionaler Kompetenzen, wie zum Beispiel Selbstbewusstsein, Konfliktfähigkeit oder die Bewältigung von Burnout Symptomen ist die Reflexion familiärer Prägungen, Glaubenssätze und Überzeugungen sinnvoll.

Zielsetzung

Das Verständnis über die Herkunft eigener Grundüberzeugungen und Werte, die dem (ungünstigen alten und dem konstruktiven neuen) Verhalten zugrunde liegen, erleichtert dem Klienten oder der Klientin den Blick auf die Lösungsfindung. Beispielsweise können Tendenzen zur Selbstverurteilung aufgelöst und Ressourcen zur Verhaltensänderung gestärkt werden.

Ausführliche Beschreibung

Ein Genogramm ist eine Art Familienstammbaum, dargestellt in Symbolen, wobei Kreise für Frauen und Vierecke für Männer stehen. Diese werden durch vertikale und horizontale Beziehungslinien verbunden. Nach oben zweigen die jeweils älteren Generationen ab, nach unten die jüngeren. Links werden die Männer, rechts die Frauen abgebildet. Es werden nicht nur direkte Vorfahren, sondern auch Geschwister und auch andere Bezugspersonen eingetragen, so etwa „verschwundene“ Angehörige wie Ex-Partner oder frühzeitig Verstorbene.

Ergänzend zu den Personen werden die Art der Beziehungen, Lebenseckdaten (wie etwa „Flucht aus Ostpreußen“) sowie weitere relevante Informationen eingetragen. Die ressourcenorientierte Genogrammarbeit wird eingesetzt, wenn die Reflexion familiärer Prägungen, Glaubenssätze und Überzeugungen für die Zielerreichung sinnvoll ist. Die Arbeit erfolgt in mehreren Schritten.

Ziel und Auftragsklärung

Die ressourcenorientierte Genogrammarbeit wird in die Hauptphase eines klassischen Coaching-Prozesses integriert. Es sind zwei Sitzungen à 1,5 Stunden einzuplanen. Vor dem Einsatz der ressourcenorientierten Genogrammarbeit ist es die Aufgabe des Coachs, dem Klienten in einer oder mehreren vorausgehenden Sitzungen die Sinnhaftigkeit einer tiefer gehenden Reflexion bewusst zu machen.

Dies ist wichtig, um die Verbindung zwischen ungünstigem Verhalten und den zugrundeliegenden personellen Prägungen verstehbar zu machen.

Die Genogrammerstellung

Das Genogramm wird nach McGoldrick & Gerson (1990) erstellt. Es werden die entsprechenden Daten zu dem Familiensystem erfragt und dann auf dem Flipchart aufgemalt. Die Geburts- und gegebenenfalls die Sterbedaten sowie die Berufe werden eingetragen, außerdem die Regionen, aus denen die Familienstränge stammen. Personen, die länger unter einem Dach zusammenleben, sind mit einer dünnen Linie zu umkreisen. Sofern Nichtfamilienmitglieder ebenso zu dem jeweiligen Haushalt gehör(t)en, werden diese gleichfalls eingetragen.

Abfragen von Anekdoten, Zuschreibungen und Charakterisierungen

Zu den abgebildeten Personen werden Nachfragen gestellt, um Anekdoten, Zuschreibungen oder Charakterisierungen zu generieren. Diese werden stichwortartig am Flipchart neben der jeweiligen Person festgehalten. Um eine zu hohe Komplexität an Informationen zu vermeiden, wird es dem Klienten überlassen, zu wem ihm spontan Geschichten oder Aussagen einfallen.

Eintragen von Beziehungslinien

Der Klient wird aufgefordert, die Qualität der Beziehungen zwischen den Personen auf einer Skala von 1 (sehr gut) bis 10 (sehr schlecht) einzuschätzen. Die jeweiligen Personen werden mit Linien verbunden, die entsprechende Zahl eingezeichnet. Hier bietet es sich an, für „normale“ Beziehungen einen grünen Stift zu verwenden. Besonders konfliktreiche Beziehungen werden mit roter Zickzack-Linie verbunden.

Auch hier wird aus Gründen der Komplexitätsreduktion nur die Beziehungsqualität der für den Klienten als wichtig erinnerten Personen erfragt. Diese sind primär die Beziehungen zu Eltern und Großeltern sowie zwischen diesen. Weitere Personen, die als prägend erinnert werden, sind mit zu berücksichtigen.

Die Interpretation des Genogramms

Die Auswertung ist neben der anschließenden Ressourcenerarbeitung der Hauptteil der Arbeit. Es werden zwei Arten von Informationen aus dem Genogramm ausgewertet.

  • Auf der einen Seite sind die objektiven Daten zu interpretieren, also solche Daten, die „historisch beweisbar“ sind. Dazu gehören zum Beispiel Vertreibung von Familienmitgliedern im Krieg, der frühe Tod einzelner Personen, Krankheiten, Trennungen, Geschwisterkonstellationen und so weiter.
  • Auf der anderen Seite finden sich in den erhobenen Daten die subjektiven Daten, also die Charakterisierungen sowie die Einschätzung der Beziehungsqualitäten zwischen den Familienmitgliedern.

Die Interpretation erfolgt in Anlehnung an das Verfahren High Profiling® nach Hertkorn (2009). Es werden zu den objektiven und subjektiven Daten Hypothesen gebildet. Während die Hypothesenbildung im High Profiling®-Prozess durch ein Expertenteam erfolgt, wird bei der ressourcenorientierten Genogrammarbeit der Klient in die Hypothesenbildung mit einbezogen. Dies geschieht unter Einsatz von zirkulären Fragen in Anlehnung an Schlippe & Schweizer (2003).

Die Trennung von „objektiven“ und „subjektiven“ Daten ermöglicht eine differenziertere Reflexion. So werden bei der Reflexion der objektiven Daten generalisierbare Hypothesen gebildet: wie etwa dazu, wie sich die Vertreibung der Großelterngeneration auf ein Familiensystem auswirken könnte.

Bei der Analyse der subjektiven Daten werden die persönlichen Wertungen durch die Hypothesenbildung analysiert, zum Beispiel: „Mein Vater war eigentlich nie wirklich da, obwohl er jeden Abend auf dem Sofa lag“. Die Hypothesenbildung erfolgt stets im Hinblick auf das Coaching-Ziel: Wenn beispielsweise die Vorfahren aufgrund von Vertreibung eine große Angst vor existenzieller Not in das Familiensystem eingebracht haben, wie könnte sich dies auf die Berufswahl des Klienten auswirken?

Am Ende dieses Arbeitsschritts ist dem Klienten der Zusammenhang zwischen aktueller Problematik und dem Einfluss des Familiensystems auf das eigene Verhalten ins Bewusstsein gerückt. An dieser Stelle ist die erste Coaching-Sitzung zu Ende.

Die Ressourcenorientierung

Ist die klassische Genogrammarbeit abgeschlossen, werden in einer zweiten Coaching-Sitzung die Ressourcen des Familiensystems herausgearbeitet. Dazu wird das am Flipchart erstellte Genogramm mittig an eine Pinnwand geheftet.

Zu den nahestehenden Familienmitgliedern – es handelt sich hier meist um die Eltern und Großeltern – werden die persönlichen Stärken und Kernkompetenzen auf Moderationskarten geschrieben und in der Nähe der jeweiligen Systemmitglieder angepinnt.

Erfahrungsgemäß werden drei bis fünf Punkte benannt. Manchmal werden für eine Person auch zwei Karten benötigt. Es gilt das Prinzip, dass alle Menschen, auch solche Personen, die dem System oder den Klienten Schaden zugefügt haben, über persönliche Kompetenzen verfügen. Um das Genogramm entsteht ein Rahmen, gefüllt mit den Stärken des Systems. Diese Visualisierung der familiären Ressourcen berührt die Klienten erfahrungsgemäß sehr. Dies macht eine Neubewertung der „inneren Landkarte“ – weg von reinen Negativbewertungen hin zu einer positiven Selbstwahrnehmung – möglich. Diese positive Selbstwahrnehmung löst einen Motivationsschub zur Selbstentwicklung aus.

Beispiel: Beruflichen Veränderungswunsch umsetzen

Die Klientin verfügt über umfassende Kompetenzen und Erfahrungen als Assistentin der Geschäftsführung. Nach der Mutterschaft ist es ihr bis heute nicht gelungen, eine ihrem Profil entsprechend anspruchsvolle Stelle zu finden. In ihrer jetzigen Tätigkeit fühlt sie sich unterfordert, doch fehlt es letztlich an Selbstvertrauen, sich um eine bessere Position zu kümmern.

Klärung der Ausgangssituation und der Ziele

In der ersten Sitzung werden die Ziele herausgearbeitet:

  • Eine erfüllende Stelle finden.
  • Den neuen Job „genießen“.

Die Suche nach dem, was die Klientin von ihrem Ziel abhält, führt zu folgenden Fragestellungen:

  • Was hält mich vom Handeln ab?
  • Warum bin ich überzeugt, es nicht zu schaffen?
  • Welche Glaubenssätze und Grundüberzeugungen stehen dahinter?

Die Klientin vermutet bestimmte biografische Prägungen, die zur Entstehung ihrer ungünstigen Überzeugung geführt haben, und ist an der ressourcenorientierten Genogrammarbeit interessiert.

Die Genogrammerstellung

In Abbildung 1 ist das Genogramm dargestellt. Es werden schwierige familiäre Konstellationen (Alkoholmissbrauch, tabuisierte Vaterschaft) sichtbar. Es muss geklärt werden, ob diese Themen bereits in einem therapeutischen Setting aufgearbeitet wurden. Ist dies, wie im vorliegenden Fall, bereits geschehen, kann die Arbeit fortgesetzt werden. Andernfalls sollte unbedingt eine Therapie empfohlen werden.

Folgende hervorstechende „objektive“ Daten lassen sich erkennen:

  • Die Herkunftsfamilie des Ziehvaters ist aus den Ostgebieten im Zweiten Weltkrieg vertrieben worden.
  • Der Ziehvater und dessen Vater sind beide Alkoholiker.
  • Der leibliche Vater ist der Vorgesetzte des Ziehvaters.
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Abb. 1: Das Genogramm

In Abbildung 2 ist die Qualität der Beziehungen in Form von grünen und roten Linien eingetragen. Die Zahlen (zwischen eins und zehn) zwischen den grünen Linien beziffern die subjektiv empfundene Beziehungsqualität aus Sicht der Klientin. Konfliktreiche Beziehungen sind rot dargestellt und bestehen zwischen der Mutter und deren Schwiegereltern. In diesem Arbeitsschritt werden die zugrunde liegenden Anekdoten abgefragt:

  • „Mein [Zieh-]Vater war eigentlich nie da. Er lag immer nur betrunken auf dem Sofa. Ich habe daher gar keine Beziehung zu ihm und kann diese auch nicht einschätzen.“
  • „Meine [vermeintlichen] Großeltern [väterlicherseits] mochten meine Mutter nicht, wahrscheinlich, weil sie fremdging.“
  • „Erst vor wenigen Jahren, als mein biologischer Vater bereits tot und mein richtiger Vater dement war, habe ich erfahren, dass ich ein Kuckuckskind bin. Meine Mutter will jedoch nicht wirklich über das Thema sprechen.“
  • „Meinen leiblichen Vater habe ich nur selten gesehen, wenn ich mal bei meinem [Zieh-] Vater auf Arbeit war.“
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Abb. 2: Das Genogramm mit Beziehungslinien

Auswertung/Hypothesenbildung 

Gemeinsam mit der Klientin werden zu den objektiven und zu den subjektiven Daten Hypothesen gebildet. Diese werden gemeinschaftlich erarbeitet. Durch den Einsatz von zirkulären Fragen wird die Klientin in die Lage versetzt, selbst zu fühlen, welche prägenden Einflüsse durch diese Ereignisse entstanden sind. Dabei ist es hilfreich, sich in einem ersten Zwischenschritt auf die älteste im Genogramm abgebildete Generation zu konzentrieren.

Im vorliegenden Fall ergeben sich beispielsweise folgende Fragen:

  • Wie ergeht es einem Binnenschiffer, der sein Schiff und seine Heimat verliert?
  • Wie wirkt sich die Kompensation des Heimatverlustes durch Alkohol auf dessen Frau und Kind aus?
  • Was ist Co-Alkoholismus und welches sind die Folgen für die Familienmitglieder?
  • Wie sind die Systembedingungen für einzelne Mitglieder, Selbstbewusstsein zu entwickeln?
  • Welche Auswirkung hat das Tabu der Vaterschaft?

Am Ende dieser Sitzung sind der Klientin die Hintergründe ihrer Selbstzweifel bewusst. Der Ziehvater stand zur Identitätsbildung nicht zur Verfügung, das Tabu der Vaterschaft führte zu  dem Gefühl, „dass irgendetwas an mir nicht stimmt“. Die Klientin erkennt den Zusammenhang zwischen den beruflichen Selbstzweifeln und ihrer Biografie.

Die Ressourcenorientierung

In der Folgesitzung wird die Klientin dazu aufgefordert, zu den prägenden Familienmitgliedern die besonderen Stärken zu benennen. Diese werden, wie in Abbildung 3 sichtbar, auf Moderationskarten aufgeschrieben und neben dem Genogramm angepinnt. So werden dem Ziehvater – trotz aller Problematiken – Kompetenzen wie Ordnungssinn, Ehrgeiz, Selbstbildungskompetenz, die Fähigkeit, vielfältige Interessen zu verfolgen, sowie Disziplin und Loyalität zugeschrieben.

Die Klientin erkennt, dass sie von all den erarbeiteten Stärken gewisse Anteile in sich selbst vereint. Die Erkenntnis, dass gerade auch durch die negativ besetzten Personen bestimmte Stärken vermittelt wurden, wird durch die Klientin mit einem spürbaren Wohlgefühl aufgenommen.

Da die negativen Personen nicht mehr per se abgelehnt werden müssen, gelingt eine Versöhnung mit den schwierigen Anteilen der eigenen Geschichte. Die Klientin fühlt sich in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt und ist für weitere Schritte der Zielereichung offen. In einigen weiteren Sitzungen wird ein klassisches Bewerbungs-Coaching durchgeführt, in dem es um die Erstellung eines Kompetenzprofils, der Recherche nach passenden Stellen sowie um die Entwicklung und Umsetzung einer Bewerbungsstrategie geht.

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Abb. 3: Das Genogramm mit den ergänzten Ressourcen

Voraussetzungen/Kenntnisse

Für den Einsatz der ressourcenorientierten Genogrammarbeit bedarf es einer Ausbildung in der Genogrammarbeit und eines breiten Erfahrungsschatzes in systemischer Beratung.

Technische Hinweise

Für die Durchführung der ressourcenorientierten Genogrammarbeit sind zwei Sitzungen einzuplanen. Die Genogrammerstellung erfolgt in der ersten Sitzung, die Ressourcenerarbeitung in der zweiten. Das Genogramm wird auf einem Flipchart erstellt, die Ressourcenerarbeitung erfolgt auf einer Pinnwand unter Zuhilfenahme von Moderationskarten. Das Gesamtbild kann fotografiert und dem Klienten oder der Klientin zugesandt werden.

Literatur

Beispiele zur Genogrammerstellung gibt es im Internet, eine grundlegende Einführung zur Genogrammarbeit findet sich bei

  • McGoldrick & Gerson (1990). McGoldrick, M. & Gerson, R. (1990). Genogramme in der Familienberatung. Bern: Huber.
  • Hertkorn, M. (2009). Biografieanalytisches Coaching. Coaching-Magazin, 1/2009, 37-41.
  • Hildenbrand, B. (1999). Rekonstruktive Familienforschung. Wiesbaden: VS.
  • Hildenbrand, B. (2005). Einführung in die Genogrammarbeit. Heidelberg: Carl-Auer. 
  • Schlippe, A. von & Schweizer, J. (2003). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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