Konzepte

Personzentrierte Systemtheorie

und ihre praktische Bedeutung im Coaching

Im Coaching kommt es vor, dass Klienten eine Veränderung anstreben, es ihnen jedoch schwerfällt, „bewährte“ Muster zu überwinden. Um hier anzusetzen, ist es wichtig, zu verstehen, wo diese Muster herrühren. Sie gehen auf das dynamische Zusammenwirken häufig unbewusst ablaufender Prozesse zurück – psychischer, interpersoneller, kultureller und körperlicher Prozesse. Die Personzentrierte Systemtheorie tritt an, dieser Komplexität konzeptionell gerecht zu werden.

15 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 1 | 2019 am 27.02.2019

Wenn Klient und Coach gemeinsam arbeiten, findet ein „engagierter Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen“ statt (v. Schlippe et al., 1998). Es werden Bilder von Vergangenem und Zukünftigem, von Wünschen und Zielen, von Belastungen und Konflikten, von Ressourcen und Lösungen und vielen anderen Aspekten des Lebens gezeichnet. Grundlegendes Ziel der Arbeit ist es ja, die Selbststeuerungsfähigkeit des Klienten trotz der wahrgenommenen Probleme und Kompetenzeinschränkungen (wieder) zu verbessern. Egal, was in der Realität auch immer vorliegen mag: Die Veränderungen müssen zunächst in den Prozessen des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Entscheidens im Hinblick auf weiteres Handeln erreicht werden.

Kein Wunder also, dass sehr viele Konzepte und Tools auf diese psychischen Prozesse fokussieren. Blättert man die Coaching-Magazin-Ausgaben der letzten Jahre durch, so findet man viele ausgezeichnete Beiträge dazu, wie für Veränderungen auf dieser Ebene anzusetzen ist. Sei es der Einsatz von Inneren Bildern und intuitivem Wissen (Matthias Blenke, 1/2010), die Förderung von Selbststeuerungs-Techniken (Mechtild Erpenbeck, 4/2017), die Veränderung des Bezugsrahmens durch Reframing und Metaphern (Ulrich Dehner, 2/2008), das narrative Arbeiten mit Geschichten und Metaphern (Michael Müller, 3/2014), der Einsatz von Kunst und ähnlichen kreativen Medien (Barbara Johnson & Hannes Jahn, 2/2014), die Arbeit mit dem „Inneren Team“ nach Schulz v. Thun (Werner Luksch, 4/2015) oder das „Tetralemma“ von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (Dorothe Fritzsche, 3/2012) – um einige exemplarische Beiträge zu nennen.

Bei genauerer Betrachtung dieser Ansätze wird allerdings deutlich, dass sie jeweils weit über den Fokus auf psychische Prozesse hinausreichen. Dies ist auch angemessen, denn der Klient ist ja in vielfältige weitere Prozesse in der Realität seines Lebens und Erlebens eingebunden. Die Interaktionsstrukturen am Arbeitsplatz und in der Familie, der Einfluss von Massenmedien, sozialen Netzwerken und kulturellen Normen, seine körperliche Befindlichkeit einschließlich der verkörperten Biographie: All dies wirkt sich hier und jetzt auf sein Fühlen und Denken, sein Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln aus. Auch wenn ihm vieles davon aktuell gar nicht bewusst ist.

Selbst wenn wir somit aus der Vielfalt dieser realen Prozesse nur eine einzelne Ebene künstlich und analytisch herausnehmen und nur das psychische Geschehen des Klienten betrachten, so ist dieses eben dennoch durch die Wirkungen aus körperlichen, interpersonellen und kulturellen Prozessen mit beeinflusst. 

Und diese Einflüsse auf das psychische Geschehen werden eben im „Inneren Team“ oder im „Tetralemma“ deutlich; sie beeinflussen die Prozesse bei künstlerischer, kreativer und narrativer Arbeit; sie zeigen sich in den Metaphern und inneren Bildern; und sie wirken sich auch auf die Möglichkeiten aus, auf Ressourcen der Selbststeuerung zurückzugreifen und diese anforderungsadäquat einsetzen zu können.

Diese wichtigen Einflüsse von meist nicht explizit bewussten Prozessen auf das „Hier und Jetzt“ des Erlebens des Klienten sind beim Coaching mit zu bedenken. Anleitungen dafür, psychodynamische Leitprozesse zur Veränderung mit zu berücksichtigen (Eidenschink, 2014) und die Beziehung zwischen Coach und Klient so zu gestalten, dass die impliziten Quellen des Erlebens dem Bewusstsein zugänglich werden (Kunze, 2016), belegen, dass diese Aspekte im Wissensfundus des Coachings durchaus vorhanden sind.

Personzentrierte Systemtheorie

Anliegen der Personzentrierten Systemtheorie (siehe dazu auch Kriz, 2017) ist es, dieser Vielfalt und Komplexität der sich gegenseitig beeinflussenden Prozesse konzeptionell gerecht zu werden. Es ist also durchaus wünschenswert, dass die Autoren der oben genannten Beiträge die Personzentrierte Systemtheorie als gut „anschlussfähig“ empfinden. Darüber hinaus geht es um Anregungen, die vielen fruchtbaren Perspektiven besser nutzen zu können, indem diese weniger nebeneinander, sondern stärker miteinander wirkend verstanden werden.

Wie der Name vermuten lässt, ist die Personzentrierte Systemtheorie im Laufe der letzten drei Jahrzehnte aus der Unzufriedenheit darüber entwickelt worden, dass sowohl die üblichen personzentrierten wie auch die systemischen Ansätze jeweils Wichtiges ausblenden: Der Personzentrierte Ansatz (z.B. Rogers, 1983) fokussiert hervorragend die Bedingungen einer konstruktiven Arbeitsbeziehung sowie die Relevanz von subjektiven Bedeutungen aus dem inneren Bezugsrahmen des Klienten. Er vernachlässigt aber die massiven Einflüsse aus weiteren interpersonellen Strukturen (Arbeitsplatz, Familie etc.) auf dieses Geschehen. Diese spielen in den systemischen Ansätzen zwar eine wichtige Rolle, doch berücksichtigen sie wiederum zu wenig, dass alle Interaktionsprozesse stets durch das „Nadelöhr“ persönlicher Sinndeutungen der Beteiligten gehen müssen. Bei beiden Ansätzen werden zudem die Einflüsse aus gesellschaftlich-kulturellen Prozessen einerseits und aus körperlichen Prozessen andererseits wenig thematisiert.

Die Personzentrierte Systemtheorie unterscheidet daher (zumindest) die folgenden vier Prozessebenen. Je nach Fragestellung können weitere Teilprozesse berücksichtigt werden. Aber ein Verzicht auf einzelne Analyseebenen würde in unzulässiger Weise Essentielles aus den menschlichen Lebens- und Erlebensprozessen ausblenden.

Psychische Prozesse

Dies ist die zentrale Ebene, auf der Sinn und Bedeutung von den beteiligten Menschen generiert wird. Durch Wahrnehmungen und Handlungen sind wir mit der Welt verbunden; durch Denk- und Fühlvorgänge bewerten wir selbst diese Prozesse und können uns dabei selbst beobachten. Durch vielfältige Rückkopplungen entstehen dabei dynamisch stabile Schemata.

Interpersonelle Prozesse

Begriffe wie „Interaktionsmuster“ oder „kommunikative Regeln“ verweisen darauf, dass die Bedeutungen von Äußerungen und deren Beitrag zum Miteinander in gemeinsamer Interaktion entstehen und verfestigt werden. Jeder glaubt um die Erwartungen der anderen zu wissen und lässt sich davon beeinflussen oder gar leiten. Es ist ein Geflecht von gegenseitigen Unterstellungen. Dieses erzeugt und stabilisiert „Realität“ sogar dann, wenn vieles daran nicht zutreffend ist. Da selten über diese stillschweigenden Annahmen geredet wird, sind die Chancen auf Korrektur eher gering. Die Coaching-Literatur ist voll von Beispielen, wie sich Menschen oft als Opfer von anderen oder der Umstände erleben, obwohl sie selbst (unbewusst) zur Aufrechterhaltung dieses Musters beitragen.

Diese beiden Prozessebenen konnten hier vergleichsweise kurz behandelt werden (wesentlich ausführlicher in Kriz, 2017), weil deren Berücksichtigung das „täglich Brot“ für jeden Coach ist. Weniger beachtet wird aber, dass diese beiden Ebenen in zwei weitere eingebettet sind:

Kulturelle Prozesse

Natürlich haben Menschen die Bedeutungen der Worte und Sätze, die inneren Bilder darüber „wie Zusammenleben funktioniert“, die Erwartungen an die Mitmenschen usw. zu einem sehr großen Teil nicht individuell erfunden. Unterschiedliche Herkunftsfamilien und Subkulturen vermitteln vielmehr unterschiedliche Bedeutungen. Auch aus Medien, Gesprächen mit Kollegen am Arbeitsplatz oder aus anderen außerfamiliären Quellen fließen Hinweise über die Bedeutung des Geschehens im „Hier und Jetzt“ mit ein. Vieles davon wirkt auch hier unbewusst.

Die ständig auf uns wirkenden Einflüsse von der kulturellen Ebene sind somit nicht ausschließlich auf interpersonelle Prozesse innerhalb anderer sozialer Prozesse – wie z.B. Strukturen in Organisation, Gruppe, Familie oder auch Massenmedien und Gesetzgebung – begrenzt. Tatsächlich wird die Art und Weise, wie wir unsere Mitmenschen, uns selbst und die Welt sehen, zentral durch die gesellschaftlich-kulturellen Aspekte geprägt: Will der Mensch sich in seinem Fühlen, Denken, Handeln selbst verstehen, so muss er die „Kulturwerkzeuge“ seiner sozialen Umwelt anwenden – insbesondere wenn es um seine innersten, ureigensten, „subjektiven“ Vorgänge (Affekte, Wahrnehmungen etc.) geht. Gemeint sind hier vor allem die Werkzeuge der Sprache. Dabei geht es allerdings keineswegs nur um Begriffe, denn mit „Sprache“ werden sozusagen automatisch auch narrative Strukturen, Deutungs- und Erklärungsprinzipien usw. vermittelt. Gerade diese bestimmen unsere Ansichten und Vorstellungen darüber, was wir als gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch und wichtig oder unwichtig ansehen. (Kriz, 2019)

Viele Wirkungen der kulturellen Prozesse sind dem Alltagsbewusstsein nicht präsent. So ist uns etwa die verdinglichende Wirkung unseres indoeuropäischen Sprachsystems meist nicht bewusst. Doch die „verkrusteten Strukturen“, mit denen aus systemischer Perspektive die festgefahrenen Beschreibungen von Klienten bezeichnet werden, obwohl es sich doch eigentlich um Prozesse handelt, werden durch diese Grammatik unterstützt. Der Kontrahent „ist“ dann böse, „hat“ eine „Krankheit“ oder kein „Mitgefühl“ und er bedeutet eine „Gefahr“ für das Team.

Körperliche Prozesse

Bereits Ciompi (1982) hat mit seiner „Affektlogik“ ausgeführt, dass in jedem Moment kognitiv-psychische und affektive Prozesse gleichzeitig in unserem Organismus ablaufen. Dabei bilden die affektiven die Rahmung für die kognitiven Prozesse. Neuere Konzepte belegen darüber hinaus die große Relevanz impliziten Wissens in unserem Organismus. Dieses stammt sowohl aus den frühen Erfahrungen wie auch aus evolutionären Präformierungen, deren erheblicher Beitrag auf die Prozesse menschlichen Erlebens lange unterschätzt wurde. Der Mensch ist aber keineswegs die „Tabula Rasa“ im Sinne eines Organismus, der für sämtliche Lernerfahrungen z.B. behavioraler Lerntheorien offen wäre. Vielmehr sucht das menschliche Neugeborene aufgrund evolutionärer Programme aktiv die soziale Welt nach Mustern für die Befriedigung grundlegender Entwicklungsbedürfnisse ab. Es geht um Bedürfnisse wie „Platz“, „Nahrung“, „Unterstützung“, „Schutz“, „Beziehung“, „Beachtung“, „Wertschätzung“ usw. Gerade in der frühkindlichen Entwicklung werden diese Grundmuster zwar erfahrungsspezifisch entfaltet, aber ihre Wirkung auf die Erlebensprozesse im „Hier und Jetzt“ ist ganz erheblich.

Systemisches Zusammenwirken der Prozesse

Das Zusammenwirken dieser vier (analytisch) unterschiedenen Prozessebenen in jedem Moment menschlichen Lebens sollte man sich nun nicht wie Teile eines Puzzles oder die Steine eines Mosaiks vorstellen, sondern in Form von „Bedeutungsfeldern“ (Kriz, 2017), die sich in dynamischer Weise überlagern. Kerne solcher Bedeutungsfelder sind „Sinnattraktoren“ – d.h., zeitlich stabile Interpretationsschemata, welche den weiteren Verstehensprozess beeinflussen. Dies soll kurz erläutert werden:

Systemtheoretisch lässt sich zeigen, dass rückgekoppelte Prozesse selbstorganisiert Muster bilden (statt von „Mustern“ spricht man auch von „Regeln“, „Ordnungen“, „Schemata“ – oder, systemtheoretisch, von „Attraktoren“). Dieses abstrakt formulierte Phänomen wird in der Praxis offensichtlich, wenn man mit zwei zerstrittenen Personen an ihrem Konflikt arbeitet und feststellt, wie wenig sie sich zuhören. Auf die Frage: „Haben Sie gehört, was X gerade gesagt hat?“ wird typischerweise geantwortet „äh – nein – nicht so genau. Aber so, wie X anfing, wusste ich schon, was er sagen würde.“ In den Interaktionen zweier Menschen, also auch der beiden Kontrahenten, bilden sich durch die ständigen Rückkopplungen typische Muster heraus. Diese Interaktionsmuster sind aber verbunden mit kognitiven Mustern, d.h., Mustern, wie „man“ den anderen interpretiert. Denn auch psychische Prozesse sind rückgekoppelt – nach „außen“ durch die Interaktion und nach „innen“ durch eine ständige Schleife zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis (wobei zusätzlich „verkörperte“ Schemata aus dem impliziten Gedächtnis diesen Prozess moderieren).

In diesem Gesamtgeschehen tragen die einzelnen Ebenen gegenseitig zur Stabilisierung aber auch zur Veränderung dessen bei, was „Problem“ genannt wird. Im Beispiel der Kontrahenten wäre es also wichtig, (1.) die Interaktionsregeln zu beeinflussen (gegenseitiges Zuhören, Benennen der eigenen Bedürfnisse, Klärung der Wahrnehmung und Unterstellungen – also das, was man glaubt, dass der andere erwartet etc.). Dazu muss aber (2.) auf der psychischen Ebene jeder einzelne Klient darin unterstützt werden, seine Wahrnehmungen, Erwartungen, Enttäuschungen etc. zu erhellen (Förderung von Achtsamkeit und von Selbstexploration des Erlebens), aber auch seine möglichen Ressourcen und Beiträge zur Veränderung auszuloten. Dies kann tunlichst (3.) auch die Förderung eines besseren Kontaktes zu den impliziten, „verkörperten“ Bedeutungseinflüssen mit einschließen (wann bin ich bedroht und schalte auf „primitivere“ Gehirnfunktionen zurück, welche unerfüllten Bedürfnisse und Bilder aus früherer Biografie drängen sich der Interpretation aktueller Situationen auf etc.). Letztlich lassen sich auch (4.) (sub-)kulturelle Deutungseinflüsse mit heranziehen. Man kann, etwa über ein Genogramm oder eine Aufstellung, Leit-Ideen (allzu oft: Leid-Ideen) ausfindig machen, die aus Familientraditionen oder Sub-Kulturen stammen. Denn diese treiben als Erklärungs- und Lebensprinzipien unhinterfragt und unbewusst ihr „Unwesen“ beim Denken, Fühlen, Entscheiden, Wahrnehmen und Handeln.

Die Personzentrierte Systemtheorie teilt dabei die Sicht der meisten Coaching-Konzepte, dass die „Probleme“ der Klienten mit überstabilen, zu wenig adaptiven, affektiven, kognitiven und interaktiven Verstehens- und Handlungsmustern zu tun haben (eben die „Sinnattraktoren“). Jeder Einzelne muss – wie jedes Paar, jede Familie, jedes Team, jede Organisation auch – erfolgreiche und bewährte Muster nach einiger Zeit neu an veränderte Umstände adaptieren. Sowohl an den Dreijährigen als auch an seine Eltern stellen sich mit Kindergarten, Schule, Pubertät, Berufsanfang, Auszug etc. zahlreiche Entwicklungsaufgaben, an die bisherige kognitive und interaktionelle Strukturen angepasst werden müssen. Auch Teams oder Organisationen und ihre Mitglieder werden nach der Gründungsphase von Zeit zu Zeit mit Entwicklungsaufgaben konfrontiert, weil Teamgrößen überschritten werden, Konkurrenten am Markt erscheinen, eine neue Technologie eingeführt wird usw.

Da Coaches in der Regel nur bei „Problemen“ gerufen werden, wird oft übersehen, dass solche sogenannten „Ordnungs-Ordnungs-Übergänge“ (Schiepek, 1999) im Alltag unzählige Male hinreichend gut klappen. „Probleme“ ergeben sich aber dort, wo an „guten, alten“ Lösungen festgehalten wird und diese dann nicht mehr zu den neuen Anforderungen passen. Wie oben in aller Kürze skizziert wurde, gibt es dafür aber gute Gründe, die in der Regel mit einer gegenseitigen Stabilisierung der vier Prozessebenen zu tun haben.

Es ist daher sehr sinnvoll, den jeweiligen Beitrag der Prozessebenen zu dieser Überstabilität explizit zu beachten und in die Coaching-Begleitung des Klienten zur Veränderung seiner Prozessmuster einzubeziehen. Da „Veränderung“ im Sinne eines Ordnungs-Ordnungs-Übergangs immer eine Phase der Instabilität mit einschließt – wo die alten Muster zwar teilweise überwunden, aber neue noch nicht zuverlässig etabliert sind (Kriz, 2017) – ist eine sichere Arbeitsbeziehung unerlässlich.

Komplementäre subjektive und objektive Perspektiven

Wesentlich für die Personzentrierte Systemtheorie ist auch die Betonung des Unterschiedes zwischen der „objektiven“ Perspektive auf ein Geschehen und der Perspektive der beteiligten Subjekte. Meistens nutzen wir die „objektive“ Sicht alltäglicher oder gar fachlicher Begrifflichkeiten (die bestenfalls eine „intersubjektive“ ist). Diese muss allerdings keineswegs mit der Perspektive der betroffenen Subjekte in ihrer Lebenswelt übereinstimmen (Kriz, 2017). Dies wird deutlich, wenn wir uns beispielsweise wundern, dass eine Person von „offenkundigen“ Ressourcen keinen Gebrauch macht. Jedoch können diese „Ressourcen“ für den Klienten eine ganz andere Bedeutung haben – und vielleicht als Bedrohung, Beschränkung, Bevormundung und dergleichen erlebt werden.

Wenn im Coaching beispielsweise von „System“ und „Umgebung“ gesprochen wird, müssen wir immer nach der Perspektive fragen: Ist die „Umgebung“ aus Sicht der Beobachter und des Coachs, oder ist die „Umgebung“ im Verständnis des Klienten gemeint? Beide sind komplementär zueinander, d.h., beide sind wichtig, aber keineswegs identisch – und sie sollten auch nicht miteinander vermengt werden. Diese Differenzierung wird allerdings dadurch erschwert, dass wir uns im Alltag allzu oft selbst aus einer „objektiven“ Außen-Perspektive beschreiben. Manchmal wundern wir uns, dass doch Entscheidungen, die wir „objektiv“ abgeklärt haben und wo eigentlich alles stimmt, sich dennoch als „nicht stimmig“ erweisen. Der Komplementarität subjektiver und objektiver Perspektiven widmen wir gleichwohl wenig Aufmerksamkeit.

So wird beim Coaching von Führungspersonen in Organisationen leicht nur die objektive Perspektive eingenommen, weil es in diesem Bereich viele gute „Landkarten“ dazu gibt, wie sich Organisationen entwickeln, welche Phasen zu beachten sind usw. Daher könnte ein Coach seine Aufmerksamkeit darauf richten, gemeinsam mit dem Klienten das zu beratende Unternehmen „als System“ mit seinen Interaktionsstrukturen und -ebenen, mit seinen Ressourcen und Defiziten etc. zu „erfassen“, um dann daraus Interventionsstrategien zu entwickeln.

Komplementär zu dieser Außen-Perspektive könnte man aber seinen Blick auch darauf richten, dass ja der Klient „ein Problem hat“. Und dass ggf. seine Beschreibung der Organisationsstrukturen und -prozesse, d.h., seine Sicht- und Verstehensweise, mit den Schwierigkeiten zu tun haben könnte. Man würde dann darauf schauen, ob und wo diese Beschreibungen die Sicht für weitere Interpretationen begrenzen und damit ggf. Ressourcen verstellen. Diese Perspektive richtet sich somit nicht auf die „Realität der Organisation“. Sondern es geht um die „Realität der Klienten“ und die Frage, wie deren Veränderung den Raum an möglichen Handlungsoptionen verändern und vergrößern könnte.

Trotz der notwendigen Kürze dieses Beitrags, sollte das Plädoyer der Personzentrierten Systemtheorie deutlich geworden sein, dass eine Berücksichtigung der vier Prozessebenen und der Komplementarität von subjektiven und objektiven Perspektiven für Coaching wesentlich ist.

Einen Beitrag, in dem der Autor das Thema ausführlicher behandelt, finden Sie in: Ryba, Alica & Roth, Gerhard (2019). Coaching und Beratung in der Praxis: Ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell. Stuttgart: Klett-Cotta.

Literatur

  • Ciompi, Luc (1982). Affektlogik. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Eidenschink, Klaus (2014). Fragen an Klaus Eidenschink. Coaching-Magazin, 3, S. 36.
  • Kriz, Jürgen (2019). Personzentrierte Systemtheorie im Coaching. In Alica Ryba & Gerhard Roth, Coaching und Beratung in der Praxis (S. 424–449), Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Kriz, Jürgen (2017). Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Kunze, Dorothea (2016). Personzentriertes Coaching. Coaching-Magazin, 1, S. 20–25.
    Rogers, Carl R. (1983). Therapeut und Klient. Frankfurt: Fischer.
  • Schiepek, Günter (1999). Die Grundlagen der Systemischen Therapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • v. Schlippe, Arist; Braun-Brönneke, Annette & Schröder, Karin (1998). Systemische Therapie als engagierter Austausch von Wirklichkeitsbeschreibungen. System Familie, 2, S. 70–79.

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