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Führung

Frauen und Führung

Wie klassische Bezugsrahmen weibliche Karrieren erschweren

Nach wie vor ist die geringe Zahl der Frauen in Führungspositionen, insbesondere in großen Unternehmen, eine Diskussion wert. Nicht selten werden dafür – nicht zu Unrecht – Umstände wie die Doppelbelastung durch Familie und Beruf oder die zu geringe zeitliche Flexibilität in diesen Positionen als Ursachen benannt. Doch wäre es zu kurz gegriffen, die Gründe für dieses Phänomen nur darin zu suchen. Es liegt auch an den Frauen selbst, an ihren eingeübten und ererbten Verhaltensweisen. Wie Coaching dies bewusst machen und verändern kann, das beschreibt der folgende Beitrag.

15 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2012 am 21.11.2012

Sozialisation prägt Führungsstil

Mittlerweile gibt es viele unterschiedliche Untersuchungen, die zum Thema „Frauen und Führung“ einen Aspekt in den Vordergrund stellen, der die Frauen selbst betrifft: ihre Sozialisation. So neigen Mädchen dazu, die Kommunikation primär für die Herstellung und Gestaltung von harmonischen Beziehungen zu nutzen, während die Jungen sie eher einsetzen, um Rangverhältnisse zu etablieren. Demnach pflegen Männer und Frauen später einen grundsätzlich unterschiedlichen Kommunikationsstil. Während Frauen befürchten, sich durch ein exponiertes Verhalten unbeliebt zu machen und ihre Selbstsicherheit eher herunterspielen, reduzieren Männer ihre Selbstzweifel. Frauen sind bei der Weitergabe von Feedbacks oder Anweisungen häufig vorsichtiger und wirken daher weniger autoritär als ihre männlichen Kollegen – was ihnen von jenen als Unsicherheit ausgelegt wird.

Auch meine eigene berufliche Erfahrung hat gezeigt, dass Frauen nicht selten einen Führungsstil bevorzugen, der mit den gängigen – von Männern geprägten – Unternehmenskulturen kollidiert. Deshalb ist es ein sinnvoller Ansatz im Coaching, vorhandene Differenzen aufzuzeigen, die Wahrnehmung für diese Unterschiede zu schulen und die führungsrelevanten Kompetenzen zu erweitern, um gewünschte Veränderungen herbeizuführen.

Im Folgenden werden zunächst die Methoden beschrieben, die im Karriere-Coaching mit Frauen eingesetzt werden können. Dann folgen zwei ausführliche Fallbeispiele.

Phase I: Wahrnehmung eigener Verhaltensmuster

Frauen fehlen häufig Vorbilder für ihre eigene Führungsrolle, insbesondere im Umgang mit Aggression, Konkurrenz und dem Stellen von Forderungen. Es geht im Coaching mit Frauen folglich nicht darum, vermeintliche Defizite zu bearbeiten, sondern um die Wahrnehmung eigener Muster und die Benennung von möglichen Veränderungen. Im Laufe der Zusammenarbeit hilft der Blick auf die vorhandenen Ressourcen, das Verständnis für die eigene biografische Logik und die Betrachtung konkreter Arbeitssituationen, um herauszufinden, welche Wahrnehmungs- und Lösungsmuster präferiert werden, warum das so ist, wie diese Muster auf andere wirken und welche Alternativen der jeweiligen Frau zusätzlich zum vorhandenen Verhaltensrepertoire zur Verfügung stehen.

Gerade die Beschreibung von kritischen Arbeitssituationen gibt Auskunft über die Art und Weise, wie Klientinnen sich selbst, ihre Kollegen und ihr Umfeld betrachten. Das Bewusstwerden dieser Positionen hilft, Teile des aktuellen Bezugsrahmens zu erfassen. Das (emotionale) Reflektieren – gemeint ist hier der schwerpunktmäßige Einsatz phänomenologischer Interventionen – darüber, welchen Zwecken der Bezugsrahmen dient (oder vielleicht in der Kindheit gedient hat), führt häufig auch zur Sicht auf seine Begrenzungen.

Der Coach darf den Bezugsrahmen nicht abwerten, denn für die Klientin stellt er eine stabile Basis ihres Verhaltens dar. Bevor an einer Erweiterung des Bezugsrahmens gearbeitet werden kann, „ist das, was ist“ in jedem Falle mit der angemessen Wertschätzung zu versehen.

Reflexion des Bezugsrahmens durch Positionierung

Für die Reflexion des eigenen Bezugsrahmens bietet sich die Positionierung als Übung an. Hierzu wird die Klientin aufgefordert, die drei Ich-Zustände der Transaktionsanalyse zu reflektieren. Aufgabe der Klientin ist es, beim Eltern-Ich übernommenen Werten nachzuspüren, beim Erwachsenen-Ich vorhandene Fähigkeiten zuerkennen und beim Kindheits-Ich die eigene Kreativität und den Spaß zu Wort kommen zu lassen.

Im Anschluss an diese Reflexion beschreibt die Klientin, wie sie in fünf und zehn Jahren über diese Positionen denken wird und wie Kollegen, wichtige Autoritätspersonen, ihr Vorstand oder ihre beste Freundin sich dazu äußern würden. Wenn die Klientin ihrerseits die vorhandenen Begrenzungen ihres Verhaltensmusters wahrnimmt, akzeptiert und wertschätzt, entsteht die positive Bereitschaft, an einem flexibleren, von Stress freieren Bezugsrahmen zu arbeiten.

Phase II des Coachings: Führungsrelevante Kompetenzen erweitern

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich nach der Wahrnehmung eigener Verhaltensmuster auf die Erweiterung der führungsrelevanten Kompetenzen zu konzentrieren.

Das Umdeuten von Fähigkeiten

Ziel ist es, ein Bewusstsein bei den Klientinnen zu erzeugen, dass Schwächen auch Stärken sein können, aber umgekehrt auch Stärken Schwächen. So ist etwa die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und aus ihnen zu lernen eine kaum zu überschätzende weibliche Fähigkeit. Sie führt zu effizienterem Verhalten, weil Rechtfertigungsrituale und ideologische Grundsatzdiskussionen ausbleiben. Gleichzeitig fördert sie das Etablieren einer Lernkultur, weil das Fehlermachen kein Tabu ist und folglich schwierige Entscheidungen nicht vermieden oder delegiert werden.

Auch die große Bedeutung der Beziehungsebene und der Wunsch nach kooperativen Verhaltensweisen – oft als Schwäche ausgelegt – unterstützt zahlreiche positive Aspekte einer Unternehmenskultur: gegenseitige Wertschätzung, Teamfähigkeit und den Verzicht auf patriarchalisches Führungsgehabe.

Frauen, die sich mit der Übernahme von Macht unwohl fühlen, haben es schwer: Sie signalisieren Führungsschwäche. Das Treffen von Entscheidungen, die klare Kommunikation und Durchsetzung dieser Entscheidungen sind ohne Macht nicht möglich. Eine Frau in einer Führungsposition, die „gemocht“ werden will und deshalb auf leisen Sohlen durch ihre Abteilung schleicht, hinterlässt ein Machtvakuum, das andere dazu einlädt, es zu füllen. Kommunikation ist einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren in Führungspositionen und (eigentlich) eine große weibliche Stärke. Die von Frauen im Unternehmensalltag teilweise verwendete, indirekte und beziehungsorientierte Ansprache ist in Führungspositionen allerdings fehl am Platz. Der effiziente Kommunikationsstil ist im Regelfall vielmehr knapp und präzise. Gute Kommunikation ist das, was beim Mitarbeiter ankommt. Wer nicht weiß, was wann von ihm erwartet wird, ist frustriert. Konjunktive, wie „könnten“ und „würden“ oder das beliebte „man müsste mal wieder“, sind keine direkten Aufforderungen zu Handlungen.

Frauen gelten als pflichtbewusst und scheuen Kritik. Das heißt leider auch häufig: Sie delegieren nicht. Im Zweifel erledigen sie Aufgaben, für die andere bezahlt werden. Zur Führung gehört die klare Delegation von Aufgaben ebenso wie der Ausdruck von Kritik. Wie beides in der Kommunikation klar, deutlich und zugleich wertschätzend getan werden kann, lässt sich üben.

Frauen verdrängen Dominanzwünsche und arbeiten gern im Team. Führungsanspruch muss allerdings signalisiert werden. Allein die gute Bewältigung bisheriger Aufgaben zeigt keinem Arbeitgeber, dass Ambitionen bestehen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Derartige Forderungen müssen deutlich artikuliert werden und die hierfür vorausgesetzte Kompetenz in der aktuellen Arbeitsweise schon erkennbar sein.

Weibliche Rollenmodelle „er-finden“

Fantasiereisen können Informationen über Persönlichkeitsfacetten der Klientinnen hervorbringen. Sie eignen sich gut zur spielerischen Auseinandersetzung mit Rollen. Mit Hilfe von Entspannungstechniken lädt der Coach zu einer Reise in eine Fantasiewelt ein, in der die Klientin die Rolle einer Heldin einnimmt. Der Anfang der Geschichte bis hin zu einer herausfordernden Situation wird vom Coach beschrieben und die Klientin „träumt“ die Geschichte weiter. Alternativ kann die Klientin auch um die Nennung ihrer wesentlichen Eigenschaften gebeten werden, um sich im Rahmen einer Fantasiereise dann mit den Umkehrungen dieser Charakterzüge auseinanderzusetzen.

Der Wert solcher Übungen liegt zum einen in der Qualität des Kontakts, der sich bei der „Berichterstattung“ der Fantasiereise ergibt. Charakterzüge oder Rollenbestandteile werden sichtbar, die die Klientin im Alltag nicht oder ungenügend integriert. Genauso kann es sein, dass sich unerwünschte Persönlichkeitsanteile zeigen, die bislang mit viel Energie versteckt wurden und jetzt einen Platz erhalten können.

Eine andere Variante ist das Charakterpuzzle. Dabei bittet der Coach die Klientin um eine Art Brainstorming zu den Eigenschaften, die sie erstens als Führungskraft ihres Erachtens unbedingt haben sollte und zweitens, die sie sich wünscht.

Die ausführliche Beschreibung von Eigenschaften, die Reflexion über deren Relevanz („Was wäre anders, wenn ich diese Eigenschaften hätte?“), deren Wirkung auf andere, die Überlegung, welche Auswirkungen das Fehlen oder gar die Umkehrung dieser Eigenschaften hätte, führen im Regelfall zu einer deutlich spürbaren Relativierung hinsichtlich deren Bedeutung. Diese Übung kann dazu führen, Fixierungen auf bestimmte Eigenschaften zu relativieren, eventuell aufzulösen und den Kopf für neue Gedanken freizumachen.

Ausprobieren neuer Verhaltensmuster

Nach meiner Erfahrung wirkt häufig schon die Bewusstheit, dass der eigene Bezugsrahmen begrenzt ist, verändernd. Manchmal besteht der Wunsch, kompetenter mit Aggressionen, Unsicherheiten oder Kritik umzugehen. Dabei besteht der anfänglich gehegte Wunsch, hierfür ein Patentrezept zu finden, in dieser Phase des Coachings häufig nicht mehr. Vielmehr wünschen sich Klientinnen herauszufinden, wie sie auf eigene Art mit entsprechenden Situationen so umgehen, dass sie die Führung nicht aus der Hand geben.

Beim Durchspielen konkreter Fälle ist die Reflexion hinsichtlich der möglichen Wirkungen auf Mitarbeiter oder Kollegen hilfreich. Als Coach kann ich die Klientin damit deutlich konfrontieren, um so auch Raum für das Üben von Varianten (im Ton, Auftreten, in der Formulierung etc.) zu ermöglichen. Hierzu sind alle Arten von Rollenspielen denkbar. Das schrittweise Übertragen veränderten Verhaltens in die unternehmerische Praxis kann dann gegebenenfalls Inhalt weiterer Coaching-Gespräche sein.

Fallbeispiel 1: Sichtbar werden

Die Ausgangssituation: Marianne Perst* ist Chefdesignerin eines internationalen Unternehmens für technische Gebrauchsgüter. Seit über zehn Jahren arbeitet sie im Unternehmen und hat Produktpalette und Erfolg deutlich geprägt. Sie hat aber in letzter Zeit häufiger die Sorge, dass ihr Einflussbereich reduziert wird. In Aufgabenbereiche, die ihr wichtig sind, drängen neue Kollegen.

Bisher hat sich Marianne Perst, die im Unternehmen fast ausschließlich mit Männern zusammenarbeitet, in ihrer Rolle als Frau sehr zurückgenommen. Sie kommuniziert sachlich, kann mit den Kollegen aber auch herzhaft lachen. In kritischen Situationen möchte sie durch ihre Kompetenz überzeugen, meldet sich aber selten deutlich zu Wort. Sie unterstellt häufig, dass ihr Chef schon weiß, wie sie über Dinge denkt – und dass er sie anspricht, wenn er ihre Stellungnahme braucht.

Erwartungen an das Coaching: Marianne Perst hat den Wunsch, von ihren Mitarbeitern und Kollegen, insbesondere aber von ihrem Chef, als Person stärker wahrgenommen und fachlich ernster genommen zu werden. Sie wünscht sich, dass sich im Umfeld, also bei den anderen, etwas ändert, doch im Gespräch wird ihr deutlich, dass sich zunächst bei ihr selbst etwas ändern muss. Gemeinsam erarbeiten wir die Zielsetzung, die die eigene Verantwortlichkeit für ihre Situation in den Vordergrund stellt: „Ich möchte mich im Unternehmen und gegenüber meinem Chef deutlicher und klarer mit meinem Engagement und meinen Ansichten zeigen.“

Das Coaching: Innerhalb der ersten Sitzungen konkretisieren wir die Themen, Arbeitssituationen und eigenen Verhaltensweisen, bei denen sich Marianne Perst eine Veränderung wünscht. Im zweiten Schritt wird in einer Ist-Analyse ihr Verhalten in kritischen und anderen Schlüsselsituationen festgestellt – einschließlich des Echos in ihrem Arbeitsumfeld. Danach wird gemeinsam ein neues, zielführendes Verhalten erarbeitet, das ihrem Charakter und Temperament entspricht. Ein biografischer Ausflug leistet dabei wertvolle Hilfe. Schließlich legt Marianne Perst drei Arbeitsfelder fest, in denen sie die gemeinsam erarbeiteten Vorgaben in der Praxis umsetzen und dadurch die gewünschten Veränderungen erreichen will.

Bei der Erarbeitung der zielführenden Maßnahmen zeigt sich, dass im Coaching mit Marianne Perst etwas möglich ist, wofür Klienten nicht immer offen sind: Ein biografischer Blick in die frühe Kindheit und ein psychologischer Blick auf einen der „Antreiber“, die in dieser frühen Phase entstehen und uns ein Leben lang beeinflussen, ist ihr Bestreben, es immer allen recht machen zu wollen. Marianne Perst sucht Anerkennung über ihre Leistung. Ihr Selbstwertgefühl ist davon abhängig. Gleichzeitig neigt sie dazu, Kollegen, die nicht die gewünschte Leistung erbringen, zu schützen, anstatt sie (wertschätzend) in die Pflicht zu nehmen. Anderen Kollegen überlässt sie großen Raum, weil sie sich selbst „nicht in den Vordergrund drängen“ will. Dadurch gerät sie häufig in die Rolle derjenigen, die in der zweiten Reihe steht.

Das Ergebnis: Nachdem Marianne Perst die Zusammenhänge erkannt hat, beginnt sie, die neu entwickelten Verhaltensweisen schrittweise einzuüben und schließlich in ihr Repertoire zu übernehmen. Sie arbeitet daran, ihre Erwartungen direkt und wertschätzend zu kommunizieren. Sie erhebt Anspruch auf Aufgaben und erweitert so ihren Handlungs- und Einflussbereich. Wann immer sie sich neuen Herausforderungen gegenüber unsicher fühlt, entwickeln wir gemeinsam ein entsprechendes Handlungsmuster und üben es ein. Sie nutzt das Coaching, um Veränderungen in ihrem Verhalten und Auftreten zu spiegeln, zu korrigieren und/oder zu verstärken. Auch auf Widerstände aus dem Mitarbeiter- und Kollegenkreis – die immer auftreten können, wenn eine Person sich verändert – bereitet sie sich vor. Bei unserem letzten Kontakt schilderte sie mir mit sichtlicher Zufriedenheit, sie sehe noch viele Herausforderungen auf sich zukommen, fühle sich aber ganz gut gewappnet. Sie hat sich in den ausgewählten Aufgabenbereichen gut positioniert und erhält deutlich positives Feedback von ihrem Chef und einigen Kollegen.

Fallbeispiel 2: Im Job keine Gefühle

Die Ausgangssituation: Heike Alvin* ist 29 Jahre alt, promovierte Geisteswissenschaftlerin und in einer Werbeagentur als Kundenberaterin tätig. Die Unternehmensleitung prüft, ob ihr die Betreuung eines wichtigen Kundenetats und eines entsprechend großen internen Projektteams anvertraut werden soll. Es bestehen allerdings Bedenken, da sie bei ihren Kollegen als „nervig“ und „kleinlich“ gilt. Daraufhin agiert sie so, wie viele Menschen in dieser Situation: Sie tut mehr von demselben, sie distanziert sich also von ihren Kollegen (um sich zu schützen) und arbeitet einfach noch härter. Die Atmosphäre im Kollegenkreis verbessert sich dadurch natürlich nicht.

Erwartungen an das Coaching: Heike Alvin wird ein Coaching angeboten und sie nimmt es an. Sie möchte Klarheit darüber bekommen, wie sie auf ihre Kollegen wirkt. Sie wünscht sich eine kollegiale Zusammenarbeit. Warum ihr das nicht gelingt, ist ihr ein Rätsel. Sie wirkt mir gegenüber sehr professionell, allerdings auch sehr reserviert und faktenorientiert. Als ich ihr meinen Eindruck schildere, ist ihre Antwort: „Gefühle gehören nicht in den Job!“.

Das Coaching: Heike Alvin hat ihren Coaching-Auftrag treffend formuliert. Sie hat erkannt, dass es darum geht, das eigene Verhalten zu überprüfen und zu verstehen, wie sie damit auf ihre Kollegen wirkt. Ihr wird bewusst, wie sehr das Verhalten der anderen (auch) eine Reaktion auf ihre Person und ihr Verhalten ist. Nach einer provozierenden Bemerkung meinerseits entdecken wir, dass sie empfindlich gegen Kritik ist. Sie reagiert darauf erneut mit einem sichtbaren Rückzug. Das Gegenteil von Distanz ist Nähe. Das Thema „Nähe“ löst sichtbare Reaktionen der Abwehr und Betroffenheit aus. Daraufhin schlage ich vor, dass sie in ihrer Zielformulierung auch dem Thema „Nähe“ einen Raum gibt. Sie formuliert das in etwa so: Ich möchte verstehen, warum „Nähe“ für mich ein bedrückendes Thema ist und ich möchte mir selbst und meinen Kollegen gegenüber Wertschätzung empfinden und ausdrücken. Auch in diesem Fall starten wir mit einem biografischen Ausflug.

Es wird deutlich, dass ihre Mutter mit den Gefühlen der Tochter schnell überfordert war, sodass Heike Alvin ihre Gefühle schon früh zurückhält. Gleichzeitig haben Verpflichtungen in der Familie einen hohen Stellenwert und Aussagen wie „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ prägen die Haltung der Familienmitglieder. Als nächsten Schritt versuchen wir herauszufinden, welche Gefühle für Heike Alvin spürbar und kommunizierbar sind und welche nicht. Dafür nutze ich die sogenannte Gefühlslandkarte. In eine selbst gemalte Landschaft, die sowohl aus leicht wie auch aus schwer einseh- und begehbaren Geländen besteht (Strand, Berge, Täler, Wälder) werden von mir vorgegebene Gefühle notiert. Die Zuordnung von etwa 30 Gefühlen in diese Landschaft vermittelt einen Eindruck davon, welche Gefühle Heike Alvin relativ einfach zeigen kann, welche Gefühle sie nur guten Bekannten und welche Gefühle sie kaum oder gar nicht zeigen kann. Die gemeinsame Auswertung macht Heike Alwin sehr nachdenklich. Es wird deutlich, dass eine Vielzahl von Gefühlen, die ihre eigene Befindlichkeit ausdrücken – und damit anderen Menschen Hinweise auf ihre Persönlichkeit und den Umgang mit ihr geben könnten – gar nicht gezeigt werden dürfen.

Im weiteren Verlauf des Coachings nähern wir uns den Ängsten, die mit dem Zeigen dieser Gefühle verbunden sind und erarbeiten gemeinsam Situationen, in denen Heike Alvin Schritt für Schritt mit den Gefühlen selbst besser in Kontakt kommt, um diese in einem weiteren Schritt in einem geschützten Rahmen, etwa bei guten Freunden, zu zeigen.

Das Ergebnis: Als wir unsere Zusammenarbeit fürs Erste beenden, wirkt Heike Alvin auf mich – und nach eigenen Aussagen auch auf ihre Familie und Freunde – lebendiger. Ihre Mimik und Gestik ist facettenreicher, was einen Aufschluss darüber gibt, dass sie sich leichter damit tut, Gefühle auch nach außen zu zeigen. In der Firma spürt sie eine kleine Verbesserung im Kontakt mit zwei Kollegen, ist aber zuversichtlich, dass dies erst der Anfang einer größeren Veränderung ist.

Fazit: Arbeit am Bezugsrahmen stärkt Führungsrolle

Die Arbeit am individuellen Bezugsrahmen in Verbindung mit dem Konzept der Transaktionsanalyse halte ich für einen geeigneten Ansatz, um (nicht nur) Frauen auf eine Führungsrolle vorzubereiten und in ihrer Führungsrolle zu stärken. Führungskräfte ohne Bewusstsein ihrer einschränkenden Muster werden die Herausforderungen einer Führungsrolle schwer erfüllen. Frauen, die sich mit dieser Thematik im Rahmen eines Coachings auseinandersetzen, äußern durchgängig, dass sie stressfreier und sicherer im Umgang mit den Herausforderungen ihrer Führungsrolle umgehen. Verknüpft wird diese Erfahrung mit der besseren Kenntnis über die natürlichen Ambivalenzen, die eine Führungsrolle generell und besonders für Frauen mit sich bringt.

*Namen geändert

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