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Portrait

Interview mit Oliver Müller

Coaching sollte sich deutlich professionalisieren!

Die Coaching-Branche müsse sich trotz positiver Anzeichen weiter professionalisieren, wenn sie – vom Gesetzgeber und von der Wirtschaft – ernst genommen werden will, fordert Coach und Coach-Ausbilder Oliver Müller. Eine der zentralen Herausforderungen sieht der Mitgründer des Deutschen Coaching Verbandes e.V. (DCV) in der Zersplitterung der deutschen Verbandslandschaft, denn zehn Stimmen sprechen nicht so klar wie eine, etwa in einem Dachverband gebündelte. Ein weiteres Problem: Semi-professionelle Strukturen machten professionellem Coaching zunehmend Marktanteile streitig.

19 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2016 am 07.09.2016

Ein Gespräch mit Dawid Barczynski

Wie sind Sie zum Coaching gekommen? 

Mir war lange Zeit nicht klar, was ich machen möchte. Gegen Ende meiner Schulzeit hat es sich darauf zugespitzt, dass es irgendwas mit Menschen zu tun haben sollte. Dem Abitur folgte dann mein Zivildienst in einem Altenheim. In diesem Rahmen erhielt ich einen hervorragenden Einführungslehrgang zu den Themen Kommunikation, Umgang mit Konflikten und der Arbeit mit Menschen. Ich fand es absolut faszinierend, sowohl von der methodischen Seite, der Psychologie als auch von der hier mitschwingenden Haltung. Ich war sicher, so etwas in der Art will ich auch machen! Aber ich hatte noch keine Idee, wie das praktisch umsetzbar ist.

Deshalb habe ich zunächst an der Universität in Bonn Politische Wissenschaft, Philosophie, Theologie und Germanistik studiert, durchaus im Sinne eines Studium generale. Nach zwei Semestern habe ich das aber abgebrochen, weil mich der fehlende Praxisbezug und die unklare berufliche Perspektive zu sehr störten.

Ich habe mich neu orientiert und bin auf die Sozialpädagogik an der Fachhochschule in Koblenz gestoßen – das hat mir sehr viel besser gefallen. Während dieses Studiums habe ich mich dann viel mit den Themen Beratung und Therapie beschäftigt, habe auch viele zusätzliche Veranstaltungen besucht, viel zum Thema gelesen.

Auch in der Sozialpädagogik sind die Berufswege eher mannigfaltig-unklar. 

Definitiv, nur war mir sehr früh klar, dass ich entsprechend meiner Schwerpunkte psychotherapeutisch in eigener Praxis arbeiten möchte. Jedoch habe ich gegen Ende meines Studiums, Mitte der 90er Jahre, mitbekommen, dass so ziemlich alle meine Kommilitonen eine ähnliche Zielsetzung hatten. Keine besonders gute Idee, etwas zu machen, was alle anderen auch machen! Zudem erschien just in dieser Zeit das Psychotherapeutengesetz: Psychotherapie war nur noch Diplompsychologen vorbehalten. Mein Weg war also verbaut.

Zufälligerweise hatte ich gute Bekanntschaften zu Betriebswirtschaftsstudenten, deren Themen ich nicht uninteressant fand, insbesondere wenn es um Mitarbeiterführung, Personalmanagement etc. ging. So rückte das Thema Berufswelt in meinen Fokus. Ich habe dann ein Praktikum in der betrieblichen Sozialarbeit bei einer Bundesbehörde gemacht. Das war äußerst spannend! Hier konnte ich das im Studium Erlernte auf Menschen in ihrem Berufsalltag übertragen und das war etwas ganz Neues. Denn im Studium ging es hauptsächlich um Menschen außerhalb der Arbeitswelt, z.B. psychisch kranke Menschen, die aus dem Arbeitsleben rausgefallen sind oder die von Vornherein gar nicht in einem normalen Arbeitsmarkt unterkommen können. Der Mensch in der Arbeit, das war kein Thema.

Wozu braucht auch ein gesunder Mensch mit einem Job Hilfe?

Eben, und so falsch ist diese damalige Denke nicht, schließlich definieren wir einen Coaching-Klienten nicht als Hilfsbedürftigen, sondern als jemanden, der auch alleine klarkommen würde. Das Thema hat mich jedenfalls nach dem Praktikum nicht mehr losgelassen. Irgendwann stieß ich in einer Zeitschrift auf das Thema Coaching und da wusste ich endlich, was ich machen will.

Kurz danach waren Sie schon Seminarleiter bei der Fortbildungsakademie der Wirtschaft in Köln. Wie kam es dazu?

Während ich noch meine Diplomarbeit schrieb habe ich aus dem Stehgreif und ohne Termin Bernhard Laukamp vom Trainertreffen Deutschland angerufen und um ein paar Tipps gebeten, wie ich als frisch gebackener Diplom-Sozialpädagoge in den Trainings- und Coaching-Markt reinkommen könnte. Er war ausgesprochen nett, hat etwa eine Stunde mit mir gesprochen und mir geraten, bei einem Träger, der für die Arbeitsverwaltung Umschulungen und Fortbildungen anbietet, unterzukommen. Kurzerhand habe ich mich bei der Fortbildungsakademie der Wirtschaft (FAW) beworben – und es war ein sehr guter, lehrreicher Einstieg.

Optimal für mich war, dass man mir schon nach kurzer Zeit quasi freie Hand gegeben hat, obwohl das erste Jahr offiziell ein Anerkennungsjahr als Sozialpädagoge war, also eher eine Art bezahltes Praktikum. In der neuen Eigenverantwortlichkeit habe ich schnell Fuß gefasst, was offenbar so gut ankam, dass man mich binnen kurzer Zeit zum Seminarleiter gemacht hat.

Im Grunde war die Zeit bei der FAW eine Art praktische Ausbildung?

Das genannte Anerkennungsjahr ist vielleicht eher eine Art Referendariat als ein Praktikum. Es geht darum, jene praktischen Dinge zu erlernen, die in der Hochschule nicht oder kaum vermittelt werden. Ich habe auch von Seiten der FAW die Möglichkeit gehabt, an Seminaren zu verschiedenen Themen teilzunehmen, was ich gerne tat.

Daneben habe ich zu der Zeit meine Ausbildung zum NLP-Practitioner angefangen. NLP war in den 90er Jahren ein Hype, es war die aktuelle Methode – und auch ich fand das damals sehr spannend. Man muss auch sagen, dass ich beim Meta-Forum eine sehr gute, schöne Ausbildung bekommen habe, die nicht in die technische, manipulative Richtung von NLP ging, wie man sie leider häufig auch findet. Dort wurde viel Wert auf ein humanistisches, systemisches Weltbild gelegt, auf ein freiheitliches Umgehen auf Augenhöhe mit dem Klienten, weshalb ich noch weitere NLP-Ausbildungen angeschlossen habe, von denen ich sehr profitieren konnte. Im Grunde prägen diese Ausbildungen bis heute meine Haltung im Coaching, obwohl ich mich mittlerweile vom NLP distanziert habe.

Wenn man nur die Haltung heranzieht, was bleibt dann vom NLP übrig? 

Es bleibt das vermittelte humanistische Gedankengut und das Systemdenken, befreit von allem, was man als kritisch betrachten sollte, oder der wissenschaftlich schlicht nicht haltbaren Teile. Mir ist bewusst, dass das Herauskristallisieren einer solchen Haltung von vielen Faktoren, z.B. Ausbildung und Ausbilder, abhängt und es eine sehr individuelle, sehr subjektive Angelegenheit ist. Wie gesagt, ich selbst verwende heute kaum noch NLP-Handwerkszeug, sondern orientiere mich an systemischen Ansätzen wie z.B. Aufstellungsarbeit, nutze aber auch Methoden und Tools, die z.B. einen neuronal-biologischen Hintergrund haben, wie EMDR.

Nach zwei Jahren bei der FAW sind Sie in die Selbstständigkeit gegangen. Warum?

Ich hatte die Selbstständigkeit schon früh im Auge. Allerdings bin ich, rückblickend betrachtet, ziemlich naiv auf den Markt gegangen, mit kaum Startkapital und einem sehr vagen Konzept. Aber das Glück war auf meiner Seite und alles lief relativ gut. Anfangs war ich ein klassischer Freelancer und habe hauptsächlich für Training-Institute oder -Agenturen auf Zuruf gearbeitet, dort verschiedene Seminare gehalten und Trainings durchgeführt. Diese Phase meiner Selbstständigkeit hatte aber den Vorteil, dass ich Vieles kennenlernen und z.B. an einigen großen Projekten in Konzernen mitarbeiten durfte.

Wie kam die Wende vom Training zum Coaching?

Zwar habe ich von Anfang an viele Weiterbildungen mit dem Schwerpunkt Coaching gemacht, nur kamen die ersten Aufträge schlicht aus einer anderen Richtung. Gegen Ende 2001 hatte ich die Freiheit, mich stärker um Coaching-Aufträge zu bemühen. ich habe dann den Coaching-Ausbildungsmarkt gescannt – das waren ca. zwanzig Anbieter –, um zu sehen, was angeboten wird. Mein Gedanke war, dass ich auch irgendwann eine Ausbildung anbieten könnte, schließlich hatte das sehr viel mit meiner ursprünglichen Idee zu tun, was ich machen wollte.

So habe ich mich lange Zeit damit beschäftigt, wie man die vielen Coaching-Ansätze und -Methoden am besten vermitteln könnte und was man aufnehmen sollte und was nicht. Nach zwei oder drei Jahren hatte ich dann tatsächlich ein Konzept für eine eigene Coaching-Ausbildung. Der nächste Schritt war dann die Gründung meines Coaching-Ausbildungsinstituts „change concepts“.

Ihre erste Ausbildung haben Sie dann 2005 angeboten …

… und die fand, wie es manchmal passiert, beim ersten Versuch dann noch nicht statt! Es gab nicht genügend Anmeldungen. Anfang 2006 kam die erste Gruppe zustande: sechs Menschen, die sich ein Jahr lang bei mir zum Coach ausbilden ließen. Das war eine ganz wunderbare Erfahrung, denn die Teilnehmer haben mich richtig bestärkt, meine Idee weiterzuverfolgen. Insofern bin ich dieser ersten Gruppe sehr dankbar und ich stehe mit einigen der Absolventen sogar heute noch in freund schaftlichem Kontakt. Das war damals schon eine extrem spannende und ereignisreiche Zeit für mich, denn im Grunde parallel zu change concepts haben wir, sprich Anja Mumm, Lutz Salamon und ich 2005 die Idee des Deutschen Coaching Verbands (DCV) verwirklicht.

Wie kamen Sie auf die Idee zur Verbandsgründung, schließlich gab es zu der Zeit bereits einige Verbände?

Stimmt, 2004/2005 gab es schon einige, u.a. entstand auch der DBVC zu jener Zeit. Das haben wir übrigens durchaus positiv zur Kenntnis genommen und ernsthaft über eine Mitgliedschaft nachgedacht. Wir teilten zwar den Qualitätsanspruch des DBVC uneingeschränkt, nur hatten wir – zumindest damals – den Eindruck, dass der DBVC eher auf Abschottung ausgerichtet ist. Dagegen wollten wir mehr Offenheit, Vielfalt und Pluralität. Mittlerweile sind die Unterschiede zwischen beiden Verbänden nicht mehr allzu groß, ganz im Gegenteil: Man ist sich heute in den wesentlichen Punkten sehr nahe und steht in regem Austausch.

Davon abgesehen hatten wir damals den Eindruck, dass manch ein Verband jeden aufnehmen würde, solange er den Beitrag regelmäßig zahlt – abseits jedweder Ansprüche an Qualität und Profession. Wir strebten aber von Beginn an einen professionellen Ansatz an, wollten Standards definieren und diese für die Branche entwickeln und letztlich das Niveau dieser Profession anheben. Rückblickend betrachtet hat es auch funktioniert, der DCV hat einiges bewegt und gehört mittlerweile zu den führenden Coaching-Verbänden.

Sie waren dann von Beginn an Mitglied im Vorstand?

Ich war stellvertretender Vorstandssprecher, Anja Mumm Vorstandssprecherin, Lutz Salamon Finanzvorstand. Diese Konstellation bestand über fünf Jahre und ich glaube, ich kann für uns drei sprechen und sagen, dass uns diese Arbeit sehr viel Spaß gemacht hat. Aber wir haben auch wahnsinnig viel gearbeitet und gelernt. Wir haben auch viel über Menschen gelernt, weil wir aufgrund des anfänglichen Personalmangels nicht nur Vorstandsfunktionen übernahmen, sondern parallel dazu die Zertifizierungskommission des Verbandes waren. So haben wir uns mit sehr vielen Coaches ausführlich auseinandergesetzt.

Als Teil der Zertifizierungskommission erlebt man sicherlich nicht nur Positives?

Nun, es gab viele Begegnungen mit faszinierenden, kompetenten Menschen, die, wenn sie einem ihre Mappe mit allen gesammelten Qualifikationen und Erfahrungen vorlegen, einem geradewegs Respekt abverlangen. Das ist die eine Seite. Die andere sieht so aus: Ein Bewerber, der Mitglied im Verband werden wollte, hat nur die Hälfte der von uns angefragten Unterlagen bezüglich Qualitäts- und Professionsnachweis eingereicht. Freundlich darauf angesprochen, reagierte er ziemlich patzig und meinte, wir sollten uns mal nicht so wichtig nehmen und das Ganze hier nicht so ernst nehmen, er würde schließlich Geld bezahlen. Meine Erfahrung ist, dass manche Menschen sich gerne mit Labeln, die Qualität oder Sicherheit vermitteln, schmücken wollen, aber nicht bereit oder gar fähig sind, die dahinterstehenden Anforderungen zu erfüllen.

Sind solche Erlebnisse ein Grund für die frühe Einführung einer Ethikrichtlinie beim DCV?

Die Ethikrichtlinie haben wir schon bei der Gründungsversammlung beschlossen, aber solche unschönen Erfahrungen haben uns immer wieder vor Augen geführt, wie wichtig das Thema ist. Dazu kommt, dass eine Lücke in so einem Regelwerk, das ja dazu dienen soll, das Zusammenleben zu erleichtern und Mindeststandards zu definieren, früher oder später von irgendjemandem gefunden und für seine Zwecke missbraucht wird. Das sind dann Anlässe zur Überarbeitung und Ergänzung, was meist eine Nachschärfung der Regeln bedeutet.

Die Ethikrichtlinie regelt auch, dass keine Verfahren genutzt werden sollen, die im Widerspruch zu gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen und Mitglieder keine Verbindungen zu Sekten haben dürfen.

Der Punkt zu Sekten ist schon immer ein großes Thema gewesen, wobei ich einräumen muss, dass ich in meiner ganzen Praxis keinen Fall von Sektenzugehörigkeit erlebt habe. Womöglich sind diese Fälle eher rar, zugleich könnten die betreffenden Personen durchaus die Energie aufbringen, um ihre Zugehörigkeit zu irgendwelchen dubiosen Organisationen zu vertuschen, und sich von keiner Richtlinie abschrecken lassen. Der Punkt bezüglich wissenschaftlich anerkannter Methoden war stets ein großes Diskussionsthema. Natürlich gibt es im Coaching, wie in vielen anderen Branchen auch, Anhänger sowie Gegner nicht eindeutig wissenschaftlich belegbarer Ansätze ...

… wie NLP.

Genau, zum NLP gibt es einfach zu wenig vernünftige Forschung. Während meiner eigenen kritischen Auseinandersetzung mit der Methode habe ich sehr intensiv recherchiert und tatsächlich nur wenige Studien gefunden, die eine Qualität haben, mit der man etwas anfangen kann. So sind einige Behauptungen des NLP vor diesem Hintergrund kritisch zu sehen. Aber natürlich gehören zum NLP auch Anwendungen, die auch in anderen Methoden bekannt sind und die zweifelsfrei auch eine Wirkung haben.

Auf der anderen Seiten gibt es aber auch Ansätze, denen jede Wissenschaftlichkeit abgeht. Z.B. erinnere ich mich an einen Fall, wo Leute ein „Channeln“ in irgendwelche ominösen Sphären als Coaching-Methode verkaufen wollten. Man muss aber auch beachten, dass uns die Forschung immer wieder belegt, dass es letztlich nicht auf die Methode, sondern auf die Beziehung im Prozess ankommt. Man könnte also vermutlich so ziemlich alles machen, solange man es unter den richtigen Vorzeichen macht, und es wird wahrscheinlich funktionieren. Trotzdem bin ich ein großer Freund davon, dem Klienten nichts vorzumachen und mit sauberem, nachvollziehbarem und belegbarem Handwerkszeug zu arbeiten. Bei ungesicherten Vorgehensweisen ist die Gefahr einfach zu groß, dass nicht Beabsichtigtes oder Gewünschtes passiert.

In Deutschland gibt es zehn reine Coaching-Verbände und elf Mischverbände, die auch Trainer aufnehmen. Wie sieht die Zukunft dieser großen Verbandslandschaft aus? 

Ich persönlich glaube, dass diese Vielzahl – nicht die Vielfalt des Coachings an sich – der Branche ernsthaft schadet! Wir müssen als Branche allmählich weg von dieser Zersplitterung in Kleinteile und mit einer Zunge sprechen, eine einheitliche Positionierung nach Außen vermitteln. So etwas gibt es im Ansatz beim Roundtable der Coachingverbände (RTC), in dem viele Verbände sitzen, auch der DCV, und miteinander sprechen. Jedem scheint also klar zu sein, dass wir die großen Themen nur gemeinsam lösen können, insbesondere jene in Bezug auf Standards und Coaching als Profession. Zwar haben die Verbände bisher viel über Qualität und Ethik diskutiert, aber nur wenig darüber, was eigentlich die Interessen von Coaches sind und wie man sie gegenüber anderen, insbesondere dem Gesetzgeber und der Wirtschaft als unserem Hauptkunden, vertreten kann.

Da sehe ich großen Handlungsbedarf, den die Verbände in ihrer derzeitigen Aufstellung nicht leisten können. Dies kann nur mittels eines Zusammenschlusses zumindest der großen Verbände unter einem Dachverband oder durch Fusio nen durchgeführt werden. Zehn Einzelstimmen, die nach- und durcheinander sprechen, sind nicht so laut und klar verständlich, wie eine gemeinsame Stimme.

Der RTC veröffentlichte 2015 ein Positionspapier, das einige Ihrer Punkte aufgreift, wenn auch nur allgemein.

Das stimmt und es ist definitiv ein Fortschritt. Nur geht mir das Papier an vielen Stellen nicht weit genug oder ist zu allgemein. Wenn ich z.B. lese, dass 150 Stunden Ausbildung gefordert werden, dann ist das wohl das, was in der Branche derzeit als Minimalanforderung möglich ist. Doch warum fordern wir nicht höhere Werte, wenn wir zugleich Coaching als Profession etablieren wollen und als solche auch ernstgenommen werden wollen? Blickt man auf etablierte Professionen wie Psychotherapeuten, Supervisoren oder gar Ärzte, dann kommt man mit 150 Ausbildungsstunden nicht sehr weit!

Man kann einwenden, dass so ein Prozess einfach Zeit braucht und die Verbandslandschaft noch recht jung ist.

Das stimmt zwar, nur sind etwas über zehn Jahre, die die Verbandslandschaft alt ist, in der heutigen Zeit, in der die Wirtschaft sehr flexibel und zeitnah reagiert, einfach sehr lange. Zudem hat man schon vor vielen Jahren von uns gefordert, wir mögen uns doch bitte mit klaren Kriterien positionieren. Die Folge ist, dass Coaches und Verbände in den letzten Jahren als Gesprächspartner für die Wirtschaft an Augenhöhe verlieren oder zumindest auf niedrigem Level stagnieren. Zeitgleich definiert die Wirtschaft zunehmend eigene Standards, was Coaching betrifft, kauft immer seltener externe Coaches ein und bildet stattdessen eigene Leute aus, die intern Coachings anbieten. Auf interne Strukturen haben die Verbände dann nur geringfügigen bis keinen Einfluss. Wir waren nicht schnell genug.

Wie steht es denn aktuell um Coaching als Profession?

Die Branche ist durchaus professioneller geworden, was man an mehreren Punkten erkennen kann. Einer ist auf den ersten Blick trivial: Die Coaching-Verbände haben deutlich mehr Mitglieder als vor fünf Jahren. Das bedeutet, dass diese Coaches zumindest ein Mindestmaß an Kompetenz und Professionalität vorweisen können.

Ein anderer Punkt ist, dass immer mehr Coaches Supervision nutzen oder sich stetig weiterbilden. Zugleich sehe ich aber die Tendenz, dass Coaching immer stärker in einem semi-professionellen Kontext betrieben wird. Sprich von Leuten, die eine kurze, rudimentäre Ausbildungen genossen haben und dann etwas machen wie gegenseitiges Coaching am Arbeitsplatz. Oder man denke an Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter coachen. Das muss man nicht negativ sehen, weil es durchaus seinen Platz und seine Berechtigung hat! Man muss sich nur bewusst sein, dass man so vielleicht schnelle Unterstützung in zwei oder drei Fragen geben, aber kein umfassendes Coaching durchführen kann.

Jedenfalls wächst dieses semi-professionelle Feld – was man schlicht an der hohen Zahl der Ausbildungsabsolventen ablesen kann, die keine Berufs-Coaches werden. Jedoch nimmt diese Entwicklung dem professionellen Coaching Marktanteile weg. Deshalb glaube ich, wird es klassisches professionelles Business-Coaching zwar weiterhin geben, aber nicht mehr in der heutigen Größenordnung und dann auch definitiv auf die höheren Führungsebenen oder besonders wichtige Mitarbeiter beschränkt.

Im Gegenzug öffnen sich neue Betätigungsmöglichkeiten im privaten Bereich. Denn die immer komplizierter und komplexer werdende Welt mit steigenden Anforderungen hat natürlich auch großen Einfluss auf den privaten Bereich. Menschen brauchen daher auch hier Unterstützung, um z.B. methodisch an ein Problem heranzugehen. Insofern wird eine einseitige Fokussierung auf Business-Coaching der Entwicklung des Marktes nicht mehr gerecht.

Coaching wird dann zu einer Art Lebensberatung?

Eher „Coaching zu privaten Themen“: Warum nicht den gleichen Ansatz eines Konflikt-Coachings, das ich am Arbeitsplatz nutze, auch beim Konflikt in der Familie oder in der Partnerschaft anwenden? Dazu kommen dann noch Themen wie Gesundheit, Work-Life-Balance, Stress, Burnout, die wir auch allesamt im Arbeitskontext verorten und die in der Regel nicht vom Privaten zu trennen sind. Auch im privaten Bereich geht es grundsätzlich um die eigenen Ressourcen, das Ausloten der eigenen Grenzen, Erkennen verborgener Wünsche bzw. Bedürfnisse.

Einige Methoden kommen aus der Familientherapie und Unternehmensstrukturen sind jenen innerhalb von Familien nicht unähnlich.

Menschen im Unternehmen sind ja keine anderen als die draußen, wir funktionieren immer nach denselben Gesetzmäßigkeiten. Insofern kann man das absolut übertragen. Und ja: Man bringt einige Methoden wieder zurück zum Ursprung, nur eben nicht mehr mit Fokus auf Krankheiten, sondern auf gesundes Gelingen. Schließlich stößt man in aller Regel im Laufe eines Business-Coachings unweigerlich auf private Themen, sei es die aktuelle private Situation des Klienten oder dessen Persönlichkeitsstrukturen.

Der letzte Punkt ist von zentraler Bedeutung, denn alle wiederkehrenden Probleme, alle Verhaltensmuster haben etwas mit Persönlichkeitsstrukturen zu tun. Und alle Persönlichkeitsstrukturen haben auch etwas mit unserer individuellen Prägung, unserer Geschichte und letztlich in vielen Fällen auch mit der Herkunftsfamilie und der Kindheit zu tun. Und schon sind wir mitten in der Familientherapie.

Orientieren Sie sich bereits in diese Richtung? Ihre zahlreichen Ausbildungen im Bereich Sport, Bewegung und Ernährung legen es nahe.

Diese Ausbildungen sind im Grunde ein biografisches Element. Vor ein paar Jahren bin ich durch Überlastung und zu viele gleichzeitig aufgemachte Baustellen einem Burnout nahe gekommen, dann kam noch eine ernsthafte Erkrankung hinzu. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich habe die Konsequenz gezogen, mein Leben umzustellen und deutlich mehr auf meine Gesundheit zu achten. Im späteren zweiten Schritt habe ich aufgrund des Erlebens dieser Situation beschlossen, das Thema Gesundheit, Gesunderhaltung, Stressabbau auch meinen Klienten verstärkt anzubieten. Seither ist es mir sehr wichtig, aus beruflichen wie privaten Gründen, mein Hintergrundwissen über Gesundheit stetig zu vertiefen.

Ich habe deshalb mit den Ausbildungen nicht aufgehört und setze jedes Jahr einen bestimmten Schwerpunkt: 2014 war es Entspannung, ich habe eine Menge zu Entspannungsmethoden, Achtsamkeit und Meditation gelernt sowie eine Trainer Lizenz für autogenes Training und progressive Muskelentspannung erworben. 2015 war es Ernährung, da habe ich u.a. eine Ausbildung zum Ernährungsberater gemacht. Dieses Jahr ist es Bewegung. Wenn man professionell Coaching zu den Themen Stress und Gesundheit anbieten will, ist man sehr gut beraten, da auch eine fundierte Fachkenntnis zu haben, denn man kann nicht alles psychologisch „lösen“.

Wie meinen Sie das?

Erst kürzlich habe ich zwei identische Fälle betreut, beide Personen übergewichtig, die zu mir mit dem Auftrag kamen: „Ich möchte mir angucken, was mein innerer Schweinehund da macht und warum der mich immer wieder dazu bringt, mehr zu essen, als ich sollte. Welche psychologischen Mechanismen verhindern, dass ich abnehme?“

Mein erster Ansatz lautete: „Können wir gerne machen, aber die erste Stunde schauen wir einfach mal darauf, wie Sie sich ernähren!“ Das Ergebnis war in beiden Fällen ganz klar so, dass die Ernährung – inklusive selbst zusammengestellter Diäten – derartig weit weg von dem war, was man empfehlen müsste, um Gewicht abbauen zu können, dass das eindeutig die Baustelle war und kein psychologisches „Problem“.

Ich glaube, als Coaches neigen wir manchmal dazu, obwohl wir die Ganzheitlichkeit durchaus im Blick haben, zu sehr allein auf die psychische Seite zu blicken, und das Körperliche, die Biologie, fällt runter. Das muss natürlich nicht jeder Coach leisten können, doch sollte er dann das im Hinterkopf haben und eventuell mit entsprechenden Fachleuten zusammenarbeiten.

Zumal Psyche und körperliche Gesundheit zusammenhängen.

Absolut! So ist heute die Idee der Psychosomatik, d.h., dass körperliche Krankheiten psychische Ursachen haben können, sehr populär – was auch unstrittig ist. Interessant ist hier aber die Forschung der letzten Jahre, die hervorgebracht hat, dass es möglicherweise noch sehr viel häufiger umgekehrt ist und psychische Belastungen und Erkrankungen z.B.durch Störungen in der Darmflora verursacht werden können. Wenn die Hardware gestört ist, kann auch die beste Software nicht laufen!

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